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Nationalstaatsbildung und Demokratisierung in Kroatien

©2001 Magisterarbeit 129 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Fragen der Nationalstaats-Bildung beherrschten am Ende der 80er und zu Beginn der 90er Jahre in Kroatien mehr das politische Geschehen als Fragen der Demokratisierung und des wirtschaftlichen Strukturwandels. Die Politik der kroatischen Staatsführung und ihre nationalen Ideologien, die Verwicklung in den Krieg mit Serbien und in Bosnien-Herzegowina trieben Kroatien ab Mitte der 90er Jahre verstärkt in die sowohl freiwillige als auch erzwungene Isolation. Haben sich diese Prioritäten nun verschoben und ist der kroatische Nationalstaat nun soweit gefestigt, dass mit dem Wechsel der Regierung Anfang 2000 eine Annäherung an westeuropäische Demokratiestandards und nach dem Ausscheiden aus der jugoslawischen Föderation eine verstärkte Integration in und Kooperation mit inter- und supranationalen Organisationen möglich ist?
Die vorliegende Arbeit möchte auf den historischen und theoretischen Spuren von Nation(alstaat)sbildung und Demokratisierung den doppelten bzw. dreifachen Systemwandel in Kroatien untersuchen und dabei eine Antwort auf Verlauf und Stand der angestrebten Demokratisierung des kroatischen Systems geben.

Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
EINLEITUNG5
TEIL 1: BEGRIFFLICHE GRUNDLAGEN UND THEORETISCHE KONZEPTE9
1.NATIONALSTAAT UND NATIONSVERSTÄNDNIS9
1.1Vormoderne Staatlichkeit10
1.2Nationalstaatstypen und Nationsverständnisse11
1.2.1Demokratisch-revolutionäre Umgestaltung von bereits bestehenden Staaten12
1.2.2Integrative Staatsbildung als nationaler Vereinigungsprozess von Teilstaaten13
1.2.3Sezessionistische Staatsbildung von Nationen in Osteuropa14
1.2.4Diskrepanzen bei Nationalstaatsbildungen auf dem Balkan16
1.2.5Exkurs: Selbstbestimmungsrecht und Minderheitenschutz19
1.3Staatsbildung, Nationenbildung und Demokratie21
1.3.1Hintergrundbedingungen für Staaten- und Nationenbildung aus modernisierungstheoretischer Sicht21
1.3.2Krisen und Nationalismen auf dem Weg zur Nationenbildung22
2.DEMOKRATISIERUNGSTHEORIEN UND TRANSITIONSPROZESSE27
2.1Modernisierungstheorien27
2.2Transnationale Theorien28
2.3Akteursorientierte Theorien29
2.4Interaktive Theorien30
2.5Der Transitionsprozess - Entwicklung und Formen31
2.5.1Liberalisierung, Demokratisierung und Konsolidierung31
2.5.2Transformation, Replacement und Transplacement32
2.6Ein „integratives“ Modell33
2.6.1Das „Dilemma der Gleichzeitigkeit“: Demokratisierung, Nationalstaatlichkeit und wirtschaftliche Transformation34
TEIL 2: […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 5089
Stegmann, Bernd: Nationalstaatsbildung und Demokratisierung in Kroatien / Bernd Stegmann -
Hamburg: Diplomica GmbH, 2002
Zugl.: München, Universität, Magister, 2001
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,,Der Niedergang des Nationalstaates wurde schon öfters vorhergesagt,
aber wie in der Vergangenheit, ist er auch heute nicht am Absterben. Allerdings
ist seine einst überwältigende und immer noch enorme Macht, wenn auch langsam
und ungleichmäßig im Rückzug begriffen. Es ist durchaus möglich, daß diese
Macht eines Tages soweit geschrumpft ist, daß die Grenzen souveräner Staaten
nicht mehr Bedeutung haben als die der amerikanischen Postleitzonen, und uns
die verheerenden Grenzkonflikte des 20. Jahrhunderts so fern und seltsam erschei-
nen werden wie die religiösen Streitigkeiten und Verfolgungen, die im mittelalterli-
chen Europa Kämpfe und Verfolgungen zur Folge hatten. Wenn dieser Tag
kommt, dann wird es keine nationale Frage mehr geben; niemand kämpft für die
Grenzen von Postleitzonen. Was jedoch die unglückseligen Gebiete betrifft, in de-
nen die nationale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer virulent und
vergiftend ist, so wird dieser verheißungsvolle Tag dort noch lange auf sich warten
lassen."
(Michael Mandelbaum)

3
N
ATIONALSTAATSBILDUNG UND
D
EMOKRATISIERUNG
IN
K
ROATIEN
I
NHALTSVERZEICHNIS
E
INLEITUNG
5
T
EIL
1: B
EGRIFFLICHE
G
RUNDLAGEN UND THEORETISCHE
K
ONZEPTE
9
1 N
ATIONALSTAAT UND
N
ATIONSVERSTÄNDNIS
9
1.1
Vormoderne Staatlichkeit
10
1.2
Nationalstaatstypen und Nationsverständnisse
11
1.2.1
Demokratisch-revolutionäre Umgestaltung von bereits bestehenden Staaten
12
1.2.2
Integrative Staatsbildung als nationaler Vereinigungsprozess von Teilstaaten
13
1.2.3
Sezessionistische Staatsbildung von Nationen in Osteuropa
14
1.2.4
Diskrepanzen bei Nationalstaatsbildungen auf dem Balkan
16
1.2.5
Exkurs: Selbstbestimmungsrecht und Minderheitenschutz
19
1.3
Staatsbildung, Nationenbildung und Demokratie
21
1.3.1
Hintergrundbedingungen für Staaten- und Nationenbildung aus modernisierungstheoretischer Sicht
21
1.3.2
Krisen und Nationalismen auf dem Weg zur Nationenbildung
22
2 D
EMOKRATISIERUNGSTHEORIEN UND
T
RANSITIONSPROZESSE
27
2.1
Modernisierungstheorien
27
2.2
Transnationale Theorien
28
2.3
Akteursorientierte Theorien
29
2.4
Interaktive Theorien
30
2.5
Der Transitionsprozess ­ Entwicklung und Formen
31
2.5.1
Liberalisierung, Demokratisierung und Konsolidierung
31
2.5.2
Transformation, Replacement und Transplacement
32
2.6
Ein ,,integratives" Modell
33
2.6.1
Das ,,Dilemma der Gleichzeitigkeit": Demokratisierung, Nationalstaatlichkeit und wirtschaftliche
Transformation
34
T
EIL
2: N
ATIONALSTAATSBILDUNG UND
D
EMOKRATISIERUNG IN
K
ROATIEN
38
1 K
URZE
G
ESCHICHTE DER KROATISCHEN
N
ATIONS
-
UND
S
TAATSBILDUNG
38
1.1
Vorgeschichte, historische Territorien und erste Anfänge eines ,,Ständenationalismus"
40
1.2
Die Entfaltung der kroatischen Nationalpolitik bis 1918
44
1.2.1
Illyrismus, Jugoslawismus, Nationalismus
44
1.2.2
Die Revolution 1848/49 und der Neoabsolutismus
46
1.2.3
Parteienbildung und nationale Programme
47
1.3
Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg ­ Scheitern des ersten Jugoslawischen Staates
50
1.3.1
Vorarbeit für einen neuen Staat im In- und Ausland
50
1.3.2
Vom ,,Staat der Slowenen, Kroaten und Serben" zum ,,Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen" ­
Föderalismus versus Zentralismus
51
1.3.3
Wirtschaftliche und soziale Krisenfaktoren
54
1.3.4
Parlamentarischer Pluralismus ohne Bekenntnis auf eine gemeinsame verfassungsmäßige Grundlage 55
1.3.5
Von der Königsdiktatur über die ,,Banschaft Kroatien" zum ,,Unabhängigen Staat Kroatien" ­ Zwischen
Verständigung und Extremismus
57

4
1.3.6
Ustasa-Bewegung und Besatzungsregime
59
1.3.7
Widerstand und die Gründung des Föderativen Jugoslawiens
60
1.4
Systemmerkmale und ­schwächen des Sozialistischen Bundesstaats Jugoslawien ­ Vom sozialistischen
Vorzeigemodell bis zu seinem Zerfall
62
1.4.1
Föderalismus, Blockfreiheit und Selbstverwaltungssozialismus
63
1.4.2
Wirtschaftliche Dauerkrise und nicht fruchtende Reformen
65
1.4.3
Föderative Entscheidungsunfähigkeit und Auflösung des Staates
66
2 D
IE
R
ENAISSANCE DER NATIONALEN
F
RAGE
68
2.1
Liberalisierung und Renaissance der nationalen Frage in der jugoslawischen Republik
68
2.2
Pluralistische Öffnung und polarisierende Gründungswahlen
71
2.3
Der Weg in Unabhängigkeit und Krieg
75
3 D
IE LANGE
Z
EIT DES
Ü
BERGANGS
79
3.1
Präsidialregime und Parteihegemonie: Kennzeichen des System Tuman 79
3.1.1
Die Politik des ,,drzavotvornost" 79
3.1.2
Tuman als ,,Vater der Nation"
81
3.1.3
Die HDZ als neue ,,Staatspartei"
82
3.1.4
Schwache und gespaltene Opposition
83
3.1.5
Zwischen Souveränität und Isolation ­ eine Skizze der Außenpolitik Tumans im Lichte seiner
,,Selbstbestimmungsideologie" 85
3.1.6
Wirtschaftliche und soziale Entwicklung
90
3.1.7
Die Krise des HDZ Regimes und die Wahlen 2000
91
3.2
Neuanfang in Zagreb
95
4 R
ÜCK
-
UND
A
USBLICK AUF DIE KROATISCHEN
S
YSTEMWANDEL
101
4.1
Rückblick auf die national-demokratische Revolution
101
4.2
Der dritte kroatische Frühling?
103
L
ITERATURVERZEICHNIS
107
A
BKÜRZUNGEN
112
A
NHANG
113
A 1
Die Republik Kroatien im Jahr 2001
113
A 2
Ausdehnung des Kroatischen Königreichs 909-1102
114
A 3
Kroatien im 18. Jahrhundert
115
A 4
Territorium Jugoslawiens von 1918
115
A 5
Skizze: Übersicht über analoge Integrationsphasen der kroatischen Nation
116
A 6
Die Einteilung Jugoslawiens in Banovine 1929 und die Bildung der Banovina Kroatien
117
A 7
Zahlen zu den Entwicklungsunterschieden in den Republiken des sozialistischen Jugoslawiens
118
A 8
Karten zu Kroatien zwischen 1989 und 1999
119
A 9
Wahlergebnisse von 1990 bis 2000
120
A 9a
Verteilung der Mandate im Sabor nach Koalitionen nach der Wahl 2000
121
A 9b
Ergebnisse der Parlamentswahlen 2000
121
A 10
Indikatoren zur Wirtschaftsentwicklung in Kroatien (1990-2000)
122
A 11
Indikatoren zur Wirtschaftsentwicklung nach dem Regierungswechsel 2000
122
A 12
Eckdaten der kroatischen Geschichte
123
L
EBENSLAUF
125
E
RKLÄRUNG
126
H
VALA LIJPA
!
126

5
E
INLEITUNG
Von Prag bis Ulan Bator ereignete sich seit 1989 sowohl in der Breite als auch in der
Tiefe eine Revolution nicht erwarteten Ausmaßes. Es war gleichzeitig eine politische
Revolution, die voll institutionalisierte autoritäre Regime zerbrach, eine ökonomische
Revolution, die aus den Planwirtschafts- Marktwirtschaftssysteme entstehen ließ und
eine nationale Revolution, die neue Nationalstaaten hervorbrachte. Was sich im Westen
in separaten ­ wenn auch sich bedingenden - Revolutionen vom 18. bis zum frühen 20.
Jahrhundert abspielte, erreichte nahezu gleichzeitig neun Länder, aus denen sehr schnell
28 Staaten entstanden.
1
Es war also nicht nur eine neue "Welle"
2
der Demokratisierung, sondern auch eine
dritte Welle der Re-Nationalisierung und der Nationalstaatsbildung im 20. Jahrhundert.
Wie beim Zerfall des Habsburgischen und des Osmanischen Reiches 1919 und nach
1945 dem der französischen und britischen Kolonialreiche entstand im Gegensatz zu
den multinationalen Zusammenschlüssen der souveräne Nationalstaat.
Nachdem der Abgesang auf das nationale Zeitalter im Westen Europas bereits ange-
stimmt worden war ­ wo der Nationalstaat aufgrund zentrifugaler Kräfte seine Bedeu-
tung nach außen und innen zu verlieren oder sich zumindest ,,im Spagat zwischen Sup-
rastaatlichkeit und Subsidiarität"
3
zu befinden scheint, kehrte in Osteuropa und darüber
hinaus die Forderung nach nationalem Selbstbestimmungsrecht und Nationalstaat zu-
rück. Nationalstaatliche Souveränität ist nach wie vor das vorherrschende Ordnungs-
prinzip der internationalen Beziehungen.
Die Orientierung an nationalen Perspektiven Hand in Hand mit einer Demokratisie-
rung im Sinne einer Steigerung der Partizipationschancen der Bevölkerung an politi-
schen Entscheidungen ließ die alte Ordnung entlang nationaler und ethnischer Bruch-
stellen zerfallen. Die Demokratisierung, die sich in den zahlreichen liberal-
demokratischen Verfassungen der Jahre 1989 bis 1991 zeigt, ging mit einer Nationalisie-
rung der politischen Ordnung und einer neuen Ethnisierung der Nation einher. Auch
wenn man nicht von einer ,,Determinationsbeziehung" zwischen Nation und Demokra-
1
Vgl. Roeder, Philip G.: The Revolution of 1989: Postcommunism and the Social Sciences, in: Slavic
Review, 58. Jg. (1999), H. 4, S. 743; zum ,,Dilemma der Gleichzeitigkeit" vgl.: Offe, Claus: Der Tunnel
am Ende des Lichts. Erkundungen der Transformation im Neuen Osten, Frankfurt a. M. 1994, S. 57-
80
2
Vgl. Huntingon, Samuel: The third wave. Democratisation in the Late Twentieth Century, University
of Oklahoma, 1991
3
Vgl. Hasse, Rolf H. (Hrsg.): Nationalstaat im Spagat: Zwischen Suprastaatlichkeit und Subsidiarität.
Stuttgart 1997

6
tie reden kann, ist eine Verbindung zwischen der ,,Betonung des Nationalen" und der
Verstärkung demokratischer Selbstbestimmungsansprüche in der europäischen Ge-
schichte nicht neu. Der Zusammenbruch der Großreiche war oft von jeweiligen inneren
Demokratisierungsprozessen begleitet.
4
Eine bemerkenswerte Auffälligkeit im zeitglei-
chen Auftreten von Nationalisierung und Demokratisierung in Geschichte und Gegen-
wart rechtfertigt also eine thematische Verknüpfung.
In Jugoslawien war die Situation noch etwas komplizierter. Die ehemaligen jugosla-
wischen Republiken und damit auch Kroatien waren seit der jugoslawischen Bundesver-
fassung von 1974 als Nationalstaaten definiert
5
, verfügten aber nicht über die Souveräni-
tät, die herkömmlich die einen Staat konstituierenden Elemente von ,,Staatsvolk",
,,Staatsgebiet" und ,,Staatsgewalt" umfasst. Am 25. Juni 1991 werden die Unabhängig-
keit der Republik Kroatien und mit ihr die in der neuen Verfassung verankerten Prinzi-
pien des demokratischen Rechtsstaats proklamiert. Damit erfüllen sich für viele die seit
dem 19. Jahrhundert gehegten nationalen Ambitionen von Kroaten. Der im Hinblick
auf die Lösung der Nationalitätenfrage in multiethnischen und multinationalen Staaten
international als vorbildlich geltende jugoslawische Staat bricht daraufhin aufgrund sich
aufschaukelnder Nationalismen gewaltsam auseinander. Heute existieren auf dem Terri-
torium des ehemaligen Jugoslawien fünf Staaten, darunter zwei NATO-Protektorate.
Zwei Republiken Restjugoslawiens fordern mehr oder weniger laut die Unabhängigkeit.
Die aufgrund andauernder nationalitätenpolitischer Konflikte anhaltende Krise in Ma-
zedonien kann bis jetzt nur mit einem erneuten NATO-Mandat entschärft werden.
Die Politik der kroatischen Staatsführung und ihre nationalen Ideologien, die
Verwicklung in den Krieg mit Serbien und in Bosnien-Herzegowina trieben Kroatien ab
Mitte der 90er Jahre verstärkt in die sowohl freiwillige als auch erzwungene Isolation. Ist
der kroatische Nationalstaat nun soweit gefestigt, dass mit dem Wechsel der Regierung
Anfang 2000 eine Annäherung an westeuropäische Demokratiestandards und nach dem
Ausscheiden aus der jugoslawischen Föderation eine verstärkte Integration in und Ko-
operation mit inter- und supranationalen Organisationen möglich ist?
Fragen der Nationalstaats-Bildung beherrschten am Ende der 80er und zu Beginn
der 90er Jahre in Kroatien mehr das politische Geschehen als Fragen der Demokratisie-
4
Münkler, Herfried: Die Nation als Modell politischer Ordnung, in: Staatswissenschaften und Staats-
praxis, 59/1994, S. 367- 392, hier S. 367ff.
5
Vgl. die Art. 154, 170, 171, 245 und 246 der Verfassung der Sozialistischen Föderativen Republik
Jugoslawiens vom 21. 2. 1974; Marko, Joseph: Der Minderheitenschutz in den jugoslawischen Nach-
folgestaaten. Slowenien, Kroatien und Mazedonien sowie die Bundesrepublik Jugoslawien mit Serbien
und Montenegro, Bonn 1996, S. 15

7
rung. Zehn Jahre nach der Ausrufung der kroatischen Unabhängigkeit und fast zwei
Jahre nach dem ersten friedlichen Machtwechsel in Zagreb haben sich die Prioritäten
verschoben. Kroatien könnte durch seine geografische Lage und seine historische Zu-
gehörigkeit zu beiden Kulturräumen eine Brückenfunktion zwischen Ostmittel- und
Südosteuropa zukommen. Die vorliegende Arbeit möchte auf den historischen und
theoretischen Spuren von Nationalstaatsbildung und Demokratisierung den doppelten
bzw. dreifachen Systemwandel in Kroatien untersuchen und dabei eine Antwort auf
Verlauf und Stand der angestrebten Demokratisierung des Systems geben.
Ein einführender Teil soll Begriffe und Typologien im Umfeld von Nationalstaats-
bildung und Demokratisierung klären, die in der Arbeit verwendete Terminologie offen
legen und ein grobes Analyseraster für den Hauptteil bieten. Vorweg sei angemerkt, dass
die im Theorieteil immer wieder verwendeten Idealtypen als Endpunkte auf einem Ko-
ordinatensystem zu verstehen sind, die zur Einordnung und Verortung der spezifischen
Entwicklung vor allem in Kroatien helfen sollen. Die Untergliederung des Theorieteils
ergibt sich durch das zweigeteilte Thema. Der erste Abschnitt behandelt die Entstehung
und Entwicklung des Nationalstaats und seiner verschiedenen Formen und Nationsver-
ständnisse. Hier wird auch auf gängige Dilemmata der Nationalstaatsbildung auf dem
Balkan und historische Konsequenzen eingegangen. In einem zweiten Schritt sollen
darüber hinaus modernisierungstheoretische Hintergrundbedingungen und Entwick-
lungsstufen skizziert werden, die für die Herausbildung des Nationalstaats und des nati-
onalen Bewusstseins westeuropäischer Prägung wichtig waren. Sie zeigen noch einmal
die enge historische Verbindung zwischen Nationalstaatsbildung und Demokratisierung
und liefern gleichzeitig notwendige Beobachtungskriterien für die heutigen Prozesse in
Kroatien. Jeder Nations- und Staatsbildungsprozess ist von Krisen begleitet, die für
Modernisierungstheoretiker als notwendige Begleiterscheinung auf dem Weg zu moder-
nen Gesellschaftsstrukturen gelten. Zur Untersuchung dieses Prozesses werden im An-
schluss mögliche und oft notwendige Krisen der Nationenbildung dargelegt, da sie
Hinweise auf Desintegrations-, Nationalismus-, Konflikt- und Kriegsursachen geben
können.
Der zweite Theorieteil möchte verschiedene Demokratisierungstheorien vorstellen,
die sich im Anschluss an die unterschiedlichen Transitionsprozesse entwickelt haben.
Dabei wird deutlich, dass für die Staaten Südosteuropas und damit auch Kroatien ein
monokausaler Ansatz keine schlüssigen Antworten bieten kann. Deshalb wird versucht,
die Theorien um ein ,,integratives Modell" zu erweitern, um Konklusionen über den
kroatischen Demokratisierungsprozess möglich zu machen.

8
Zur Einordnung der oft weit in der Geschichte wurzelnden Spannungen in der Bun-
desrepublik Jugoslawien und der neuen nationalen Bewegung in Kroatien beginnt der
zweite Teil der Arbeit mit einer Darstellung der historischen Entwicklung bis zur Unab-
hängigkeit vor dem Hintergrund der ,,kroatischen Frage" und der unterschiedlichen
Strömungen der kroatischen Nationalbewegungen in den verschiedenen staatlichen Zu-
sammenschlüssen.
Anschließend soll dem Transitionsprozess zwischen Liberalisierung, Demokratisie-
rung und neuem Autoritarismus in der Republik Kroatien der 90er Jahre und am Beginn
des 21. Jahrhunderts so weit wie möglich nachgegangen werden. Am Ende soll ein vor-
sichtiger Ausblick auf eine mögliche Konsolidierung der Republik Kroatien geworfen
werden.
Sicherlich werden keine abgeschlossenen Antworten zu finden sein und viele Teilas-
pekte können im Rahmen dieser Arbeit nicht in der benötigten Tiefe betrachtet werden.
Dazu bedarf es weiterer Detailstudien ­ und eines größeren historischen Abstandes.
Und selbst der genügt ­ im Hinblick auf eine ,,Revolution eines nicht erwarteten Aus-
maßes" wie von 1989 ­ nicht immer, schon gar nicht, wenn es um mittel- und langfristi-
ge Prognosen geht.

9
T
EIL
1: B
EGRIFFLICHE
G
RUNDLAGEN UND THEORETISCHE
K
ONZEPTE
1 N
ATIONALSTAAT UND
N
ATIONSVERSTÄNDNIS
,,Was ist eine Nation? Alle darauf gegebenen Antworten verraten eine große subjektive Sicherheit
in der Wortdefinition, indem sie auf Ableitung von der lateinischen oder romanischen Grundform hin-
weisen, werden aber sehr schwach, und unzulänglich, sobald wir sie an die wirklichen in der Weltge-
schichte als geschlossene Nation auftretenden Menschenkomplexe anlegen."
6
Die Aussage des Geographs Kirchhoff vor fast 100 Jahren ist bis heute zutreffend. Eine
universal gültige und allgemein akzeptierte Definition von Nation ­ wie auch des Natio-
nalstaats - wird sich nicht finden und jede Nation sucht schließlich selbst die Kriterien,
mit deren Hilfe sie bestimmt werden will.
7
Nation ,,ist in erster Linie ein ideengeschicht-
lich-politischer Begriff und dementsprechend mehrdeutig"
8
, wenn er sich nicht sogar
gegen seine Entschlüsselung wehrt. Sie gilt als eine Entwicklungsstufe von Gesamtge-
sellschaften seit der Französischen Revolution. Fest steht, dass Nation und National-
staat junge Sozialformen sind, die sich im Laufe eines langen Vorbereitungsprozesses
vor allem in Westeuropa herausbildeten bzw. gebildet wurden und dann im Laufe des
19. Jahrhunderts als attraktive politische, gesellschaftliche und ökonomische Modelle
zur Umgestaltung der politisch-gesellschaftlichen Realität von den Führungsschichten
auf dem Balkan übernommen und in einem Auf- und Nachholprozess implementiert
wurden.
9
Allerdings zeigt sich, dass dieser Transformationsprozess in vielen Teilrepubliken der
ehemaligen Sowjetunion erst begonnen, und in Südosteuropa bis heute nicht abge-
schlossen ist.
6
Kirchhoff, Alfred: Was ist national?, Halle 1902, S. 1
7
Vgl. Sundhaussen 1994, S. 405
8
Brunner, Georg: Nationalitätenprobleme und Minderheitenkonflikte in Osteuropa, Gütersloh 1996, S.
17
9
Vgl. dazu Schulze, Hagen: Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, München 1994. (siehe
auch Kapitel 2.1)

10
1.1 Vormoderne
Staatlichkeit
Die Geschichte des Organisationsprinzips Staat, das heute die gesamte Erde prägt, ist
relativ jung. Mit dem Westfälischen Frieden durch die Anwendung des Territorialprin-
zips wurde die Unabhängigkeit, die Souveränität
10
von Staaten de facto anerkannt.
Selbstbestimmungsrecht und Nation im heutigen Sinn kannte der vormoderne Staat
kein Selbstbestimmungsrecht und keine Nation im heutigen Sinn. Zwar kam es schon
im Mittelalter und der frühen Neuzeit zu einer ,,Binnendifferenzierung universaler Ord-
nungen", zu einer Vorstellung einer Pluralität von Nationen geprägten Ordnung gegen-
über universaler oder zumindest supranationaler Ordnung
11
und wurde vor allem für
eine gebildete Minderheit in Frankreich und England, zum Teil auch in Deutschland zu
einem ,,Imperativ der Homogenität" durch eine Vereinheitlichung von Schrift, Sprache
und Verkehrsformen.
12
Die kirchlichen und dynastischen Bindungen in der Politik er-
wiesen sich jedoch den nationalen gegenüber noch im 18. Jahrhundert als die bei weitem
stärkeren. Erst im Zeitalter des entwickelten Kapitalismus kann man von der Konstitu-
ierung von ,,Völkern" zu ,,Nationen" sprechen und erst mit der Französischen Revolu-
tion und dem napoleonischen Imperialismus, oder als Reaktion gegen diesen, zeigen
sich die Nationen ,,in immer wachsendem Maße als die stärksten staatsbildenden Kräf-
te".
13
Auch die ethnische Zusammensetzung war kein konstitutives Element vormoderner
Staatsbildung. Umgangssprachen, die später im 19. und 20 Jahrhundert zum entschei-
denden Einteilungskriterium gebraucht werden sollten, waren ebenso wenig relevant, da
für das politische Geschäft lange Zeit das Lateinische oder andere linguae francae gespro-
chen wurden. Legitimiert wurde ein Staat durch dynastische Rechte oder Rechte des
Eroberers. Der doch verwendete Begriff ,,Nation" in Staatsbezeichnungen meinte ent-
weder Reichsbezeichnungen, eine vornationale Reichsidee oder spielte auf die Herkunft
der Dynastie und die von ihr zu irgendeinem Zeitpunkt erworbenen Titularrechte an.
10
Der bis ins 19. Jahrhundert geltende Souveränitätsgrundsatz, der den Staat als abgeschlossene Einheit
nach außen begreift, hat sich seit dem Ende des 1. Weltkriegs maßgeblich verändert. Durch die Ent-
wicklung des Völkerrechts nach 1945 wurde die klassische Souveränität der Staaten vielfältig beein-
trächtigt. Der moderne Souveränitätsbegriff spaltet sich in eine binnen- und eine außengeleitete Struktur
auf. So kann ein Staat zwar in personeller und territorialer Hinsicht selbstbestimmt handeln, ist in sei-
nem souveränen Verhalten nach außen aber den Prinzipien des Völkerrechts verpflichtet. Bei Zuwi-
derhandlung muss der souveräne Staat mit Sanktionen der Völkergemeinschaft rechnen. Vgl Singer,
Alex: Nationalstaat und Souveränität. Zum Wandel des europäischen Staatensystems, Europäische
Hochschulschriften, Reihe 31, Politikwissenschaften, Frankfurt 1993, 30f
11
Münkler 1997, S. 377ff
12
Weißmann, Karlheinz: Wiederkehr eines Totgesagten: Der Nationalstaat am Ende des 20. Jahrhun-
derts, Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 1993, B14, S. 3-10, hier S. 4
13
Heller, H.: Staatslehre. Leiden 1963, S. 162

11
Vor allem die vormodernen Staaten im Balkan vom Osmanischen Reich über das By-
zantinische Reich zum kurzlebigen serbischen Reich im 13. Jahrhundert waren multi-
ethnische Staaten. Sie hatten mit einem Nationalstaat sowenig zu tun wie das ,,Heilige
Römische Reich deutscher Nation" mit einem deutschen Nationalstaat, und deren Ein-
wohner bildeten keine Nation oder Staatsbürger im heutigen Sinn.
14
1.2 Nationalstaatstypen und Nationsverständnisse
Mit der französischen Revolution beginnend etablierte sich in Westeuropa der National-
staat, verdrängte die bisher existierenden Staatsformen und löste sie ab oder formte sie
nach seinem Prinzip um. Seither ist dieses Prinzip der Nationalstaatsbildung ein wir-
kungsvolles politisches Postulat, das als Rechtfertigung für die Gründung neuer Staaten
diente und dient. Nationalstaat, Nationalitätsprinzip, Selbstbestimmungsrecht der Völ-
ker wurden für das Europa zwischen 1848 und 1920 zu normgebenden Begriffen.
Trotz einer Annäherung des politischen Stils, der politischen Ideologie und der poli-
tischen Tendenzen unter Staaten verschiedenen Alters und verschiedener Grundformen
in West- und Osteuropa, erhielten sich bzw. entwickelten sich Besonderheiten der poli-
tischen Lebensformen, so dass man nicht von einem einheitlichen nationalstaatlichen
Typus sprechen kann.
In der historisch-genetischen ,,Typologie"
15
von Erscheinungsformen des National-
staats in West-, Mittel- und Osteuropa werden idealtypisch drei Typen von National-
staatsbildungen unterschieden. Die demokratisch-revolutionäre Umgestaltung von be-
reits bestehenden Staaten, vorwiegend in Westeuropa, sodann eine integrative
Staatsbildung als nationaler Vereinigungsprozess von Teilstaaten, vorwiegend in Mittel-
europa und schließlich die sezessionistische Staatsbildung von Nationen, die sich aus
dem Rahmen von Vielvölkerstaaten herauslösen, vorwiegend in Osteuropa. Für den
südosteuropäischen Raum kam es nach Sundhausen
16
dabei aufgrund der historischen
und demographischen Bedingtheiten zu einer besonders verhängnisvollen Mischung der
Formen.
Diese Typen der Nationalstaatsbildungen verweisen nicht nur auf eine besondere
zeitliche Phase, sondern weisen auch ein spezifisches Nationsverständnis und auf bestimm-
14
Sundhaussen 1997, S. 77
15
Schieder, Theodor: Typologie und Erscheinungsformen des Nationalstaates in Europa, in: Winkler, H.
A. (Hrsg.): Nationalismus. Königstein/Ts 1978. S. 119-137
16
Siehe 1.2.4

12
ten entwicklungsspezifischen Grundbedingungen und Problemstellungen basierende Nationalis-
men auf, und führen so zu ganz verschiedenen Ausbildungen von Nationalstaaten.
Komplementär zu den erstgenannten ,,Typen" von Nationalstaatsbildungen lassen
sich zwei idealtypische Varianten eines Nationsverständnisses konstatieren. Trotz unter-
schiedlicher Bezeichnungen in der wissenschaftlichen Literatur
17
handelt es sich bei der
Gegenüberstellung von einem ,,politischen" und ,,kulturellen", ,,subjektiven" und ,,ob-
jektiven", einem ,,staatlichen/etatistischen" und ,,ethnischen" Nationsverständnis um
zwei grundlegend unterschiedliche Wege zur Definition und Abgrenzung von Nation.
18
Besonders im Hinblick auf die Konzeption des Nationalstaats auf dem Balkan bietet
sich die Unterscheidung von ,,subjektiv" versus ,,objektiv" an.
1.2.1 Demokratisch-revolutionäre
Umgestaltung von bereits bestehenden
Staaten
Der erste Typ der modernen Nationalstaatsbildung entwickelt sich durch innerstaatliche
Revolution und einem subjektiven Bekenntnis zu bestimmten politischen Werten vor-
nehmlich in Frankreich und England. Nation wird als Willensgemeinschaft und Staats-
bürgerschaft verstanden. Da der Staat als Instrument und ,,Sozialisationsagentur" der
Nation, die auf dem ,,plebiscite de tous les jours"
19
und damit auf demokratischer
Grundlage beruht, voraus geht, ist es ein ,,`state-into-nation`-Prozess".
20
,,Das subjektive Bekenntnis zu dem auf diese Weise neugeschaffenen Staat bleibt das einzige
Merkmal einer politischen Nationalität, nicht etwa Sprache, Volksgeist oder Nationalcha-
rakter. (...) Nation ist also Staatsbürgerschaft, nicht in erster Linie Sprach- oder Kulturge-
meinschaft, wenn beides auch zusammenfallen kann und in der Regel auch zusammenfällt.
Während in den Staaten des ancièn régime neben der Loyalität zur Dynastie nur ein patri-
archalisches, an das Land gebundenes Vaterlandgefühl entstehen konnte, wird jetzt Vater-
land, ,patrie`, der Wirkungsbereich der Nationen, die sich in den großen Revolutionen im
Gegensatz zu der bisherigen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung bildet.
21
Bei diesem ,,politisch-subjektiven" oder ,,etatistischen" Nationalstaatsverständnis ist
die Gemeinsamkeit von Wertvorstellungen, Institutionen und politischen Überzeugun-
gen oder das Bekenntnis zu einem gemeinsamen Staat konstitutiv für die Nation. Da
dieser Typus des Nationalstaats auf dem Prinzip der Volkssouveränität aufbaut, ist er
17
Vgl. Kohn, H.: Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur Französischen Revolu-
tion, Frankfurt, 1962; Schnappner, D.: La Nation, les Droit de la Nationalité e l'Europe, in Revue Eu-
ropéenne des Migrations Internationale 1989, S. 21-31
18
Heckmann, Friedrich: Ethnische Minderheiten, Volk und Nation Soziologie inter-ethnischer Bezie-
hungen, Stuttgart 1992
19
Im deutschen: ,,ein Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt". Renan, Ernest: Was ist eine Nation? Und
andere Politische Schriften, Bozen 1995, S. 57
20
Sundhaussen 1997, S. 80

13
zugleich nationalrevolutionär wie nationaldemokratisch. Hier geht die demokratische
Revolution der nationalen voraus oder mit ihr einher. Das ,,subjektive" Nationsver-
ständnis der ,,Staatsnation" basiert auf einem zentralistischen Staatsverständnis. Freiheit
wird dabei vornehmlich als innere Freiheit und Selbstbestimmung der Nation verstan-
den, die staatskonservierend den Staat von innen revolutionär umwandelt.
1.2.2 Integrative Staatsbildung als nationaler Vereinigungsprozess von
Teilstaaten
Der zweite Typ der Nationalstaatsbildung beschreibt einen nationalrevolutionären Akt,
bei der die Nationen vorstaatlich schon vorhanden galten und nur ,,wiedererweckt"
werden mussten. So kommt es bei den nationalen Einheitsbewegungen wie in Deutsch-
land und Italien zum ,,`nation-into-state`-Prozess".
,,Bei ihnen erscheint die Nation als eine vor dem Staat gegebene, entweder historisch oder
kulturell oder als sozialer Verband begründete Größe. Im deutschen Teil Mitteleuropas, wo
es mit dem Niedergang des alten Reiches keine übergreifende Staatlichkeit mit einem Unter-
tanenverband gab, wie er etwa in Frankreich existierte, ist seit Johann Gottfried Herder, seit
der deutschen idealistischen Philosophie und der deutschen Romantik die zunächst ganz un-
politisch gemeinte Idee der Völker als Sprach- und Kulturgemeinschaften entwickelt worden,
die vor dem Staat existierten und vor ihm in der Werteordnung rangierten."
22
In einer Verquickung von Herders Lehre vom ,,Volk" und vom ,,organischen" Staat
und Hegels Einfluss auf die Vorstellung von der Eigenständigkeit des Staates als
Rechtspersönlichkeit über dem Individuum wird in der politischen Romantik ,,Volk"
erstmals als ethnische Gruppe verstanden. Als Merkmale von Ethnizität gelten ,,objekti-
ve" Kriterien wie der Glaube an eine gemeinsame Herkunft, Gemeinsamkeit von Kultur
und Geschichte, Sprache und Elemente eines Identitäts- und Zusammengehörigkeits-
bewusstseins.
23
Ethnisches ist Ausdruck des Humanen, Humanität aber scheint nur auf
in und durch die Nationalität, die sich frei bestimmt. Nation und Ethnie fallen zusam-
men. Durch dieses Denken kam es zu einer ethnischen ,,Einfärbung" des eigentlich
politisch-staatsrechtlichen Begriffs ,,Staatsangehörigkeit" in Richtung ,,Volkszugehörig-
keit".
24
Damit erwuchs zugleich die Forderung nach der Vereinigung sprachlich und
kulturell homogener Völker, der ,,Kulturnation", die in verschiedenen Staaten leben, im
föderalistisch organisierten Nationalstaat.
21
Schieder 1978, S. 122
22
Schieder 1978, S. 122
23
Vgl. Heckmann 1992, 47f
24
Sundhaussen 1997, S. 19

14
1.2.3 Sezessionistische Staatsbildung von Nationen in Osteuropa
Waren in Westeuropa bestimmte Großstaatsbildungen durch nationale Revolutionen
national bestimmt, war Osteuropa das Gebiet großer kontinentaler Imperiums- und
Reichsbildungen, die sich durch ethnische Vielfalt und die Lebendigkeit interethnischer
Beziehungen auszeichneten. Diese ,,Völkermischung der östlichen Bereiche" entstand
sowohl durch einen nicht abreißenden Strom von Kolonisten als auch durch eine exten-
sive Staatspraxis der Großreiche. Dadurch kam es entweder zu einer politischen Über-
schichtung der autochthonen Bevölkerung durch einen fremden Herrschaftsapparat wie
im Falle des osmanischen Reiches oder zu einem eher föderativen Verband von Län-
dern wie im Russischen Zarenreich oder in der Habsburger Monarchie, die aber auch
nicht ohne herrschaftlich-imperiale Elemente auskamen und im Laufe des 19. Jahrhun-
derts immer stärkere Tendenzen zur staatlichen Zentralisierung und Assimilierung aus-
prägten. Dies rief dann trotz unterschiedlicher Vorbedingungen eine nationale Gegen-
bewegungen zum Ausbruch aus den ,,Völkerkerkern" der nichtstaatstsführenden Völker
hervor und prägte ihren - wenn auch immer noch erheblich verschiedenen ­ sezessio-
nistischen Charakter.
25
,,Das politische Bewußtsein dieser Bewegungen und der sie tragenden Völker wird nicht im
und am Staat entwickelt, sondern durch die Gegnerschaft gegen den bestehenden Staat ge-
prägt. Der bestehende Staat ist das Fremde, das Trennende, die Gewalt, die der Entfaltung
der eigenen nationalen Persönlichkeit entgegensteht, die eigenen nationalen Traditionen, die in
vielen Fällen vor die großen Reichsbildungen zurückreichen, zerstört."
26
Alle modernen Nationalbewegungen, deren politisches Bewusstsein und die daraus re-
sultierenden Nationalstaaten ­ von Serbien, Griechenland über Bulgarien, Rumänien,
der Tschechoslowakei und auch Kroatien ­ auf dem Gebiet der großen dynastischen
Reiche, des österreichischen, russischen, des osmanischen Reiches bilden sich entgegen
der westlichen Vorläufer durch Gegnerschaft am und Abtrennung vom Staat. Die äuße-
re Freiheit geht vor und sollte erst dann eine innere Freiheit sowie demokratische Ent-
scheidungsmöglichkeit eröffnen. Zur staatlichen Konstituierung war es allerdings noch
ein weiter Weg. Was die großen europäischen Völker lange besaßen, musste von den
,,kleinen Völkern" oder auch ,,non-dominant ethnic groups", also nicht herrschende
ethnische Gruppen, die keine soziale Vormachtstellung hatten bzw. Träger von Natio-
25
Vgl. Schieder, Theodor: Das Problem des Nationalismus in Osteuropa, in: ders.: Nationalismus und
Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, Göttingen 1991, S. 347-60,
hier, S. 350
26
Schieder 1978, S. 123

15
nalstaaten waren, bzw. ihren Eliten erst noch geschaffen werden.
27
Die Trägerschichten
bedienten sich dabei dem romantischen Verständnis der Nation als organisches Wesen,
das nach langem Schlaf ,,wiedererweckt" werden müsste.
,,So kreist das sogenannte ,,Erwachen der Völker",. das sich hier abspielt ­ bei den Serben
und Griechen zuerst bis zu den Letten und Litauern ­ um die Fixierung einer Schriftspra-
che, um die Erweckung eines nationalen Erinnerungsbildes, um die Überwindung des Bru-
ches der nationalen Überlieferung"
28
Zur Begründung eines ,,kulturellen" Nationalbewusstseins kommt den Geschichts-
schreibern durch den Rückgriff auf eine legendäre Vergangenheit, das Schaffen einer
nationalen Mythologie und die Beweisführung der nationalen Autochthonie eine große
Rolle zu. Die so entstehende historische Fiktion soll ,,durch die erinnernde Vergegen-
wärtigung einstiger nationaler Größe dem Selbstbewußtsein der kleinen Völker aufhel-
fen und gleichzeitig die für den täglichen Emanzipationskampf brauchbaren histori-
schen Argumente liefern."
29
Das 3-Phasen-Modell der Nationalbewegungen
Geschichtsdeutung und gesellschaftliche Institutionen gehören für die ,,kleinen Völker"
vor einer staatlichen Herrschaft zu Agenturen der Nationenbildung. Der sozial-historisch
orientierte Nationalismus-Forscher Hroch teilt die nationalen Bewegungen der kleinen
Völker in drei aufeinanderfolgende Phasen ein. In der ersten Phase erforscht eine kleine
Gruppe Intellektueller die sprachlich-kulturellen Elemente; in einer zweiten Etappe be-
müht sich eine schon größere, organisatorisch verfestigte Gruppierung von ,,Patrioten"
um die politische Gestaltung der Nation und in der dritten ergreift das Nationalbewusst-
sein die Massen.
30
Die schließlich ,,erwachten" Nationalitäten bleiben nicht bei der Forderung nach ei-
ner Nationalkultur stehen, sondern verlangen früher oder später den Nationalstaat. Be-
27
Lemberg, Hans: Der Weg zur Entstehung der Nationalstaaten in Ostmitteleuropa, in: Brunner, Georg
(Hrsg.): Osteuropa zwischen Nationalstaat und Integration, Osteuropaforschung Bd. 33, Berlin 1995.,
S. 45-70, hier S. 55
28
Schieder 1991, S. 350
29
Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1988, S.
160
30
Lemberg 1995, S. 56, in Bezug auf: Hroch, Miroslav: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei
den kleinen Völkern, Prag 1968, 24ff
Günter Schödl äußert in seiner Studie über die Kroatische Nationalitätspolitik kritisch, dass sich das
Gewicht exogener Faktoren ökonomischer oder institutioneller Art mit dem eigentlich nützlichen
Modell nicht überzeugend beschreiben lassen, betrachtet es aber als wichtig für den Vergleich, die Ty-
penbildung und die Periodisierung. Schödl, Günter: Kroatische Nationalpolitik und ,Jugoslawenstvo`.
Studien zu nationaler Integration und regionaler Politik in Kroatien-Dalmatien am Beginn des 20.
Jahrhunderts, München 1990 (Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ.,Habil.-Schr., 1983), S. 330

16
sonders deutlich zeigt sich der Konstruktionscharakter der Nationalstaats-Bildung und
die Problematik der ,,nationalen Wiedergeburt" darin, dass es sich oft nicht um ein
,,Wieder-Erstehen" einer vorher voll existierenden Nation handelte. Eher war es eine
Neu-Entstehung im Laufe der nationalen Bewegung, die die Nation auf der Basis von
unpolitischen Elementen wie etwa einer eigenen Sprache zu einem politischen Faktor
ersten Ranges erhob.
31
1.2.4 Diskrepanzen bei Nationalstaatsbildungen auf dem Balkan
Die besondere Problematik, den originär westeuropäischen Nationalstaatsgedanken auf
das Osteuropa der multinationalen Großreiche zu übertragen, ohne den existierenden
Staat zu zerbrechen, ist bei der ,,Nationalstaatstypologie" bereits erwähnt worden. Dazu
fehlten sowohl der Rahmen für eine nachholende Entwicklung, noch waren die histori-
schen Ausgangsbedingungen für die Übertragung des originären Modells günstig. Dabei
kam es bei der Nationalstaatsbildung auf dem Balkan zu zwei folgenschweren Diskre-
panzen
32
, die bis heute die Anwendung des Nationalstaatsprinzips so schwierig machen
und zum Teil fraglich erscheinen lassen. Es ist zwar nicht klar, ob sich für den originä-
ren kroatischen Nationenbildungsprozess
33
, vor allem im Hinblick auf das Staatsver-
ständnis, jene Diskrepanzen deckungsgleich auf das heutige Kroatien übertragen lassen.
Angesichts der geschichtlichen Zugehörigkeit der ,,kroatischen Länder" zu unterschied-
lichen Herrschaftsgebieten lag damals eine föderalistische Staatsbildung näher. Hinsicht-
lich des serbischen unitaristischen Staatsverständnisses, dessen Dominanz im ersten
jugoslawischen Staat und seiner nicht unwichtigen Bedeutung im sozialistischen, ,,zent-
ralistisch-föderativen" Jugoslawien und angesichts der Gründung des ,,neuen" Kroatien,
das sich auch durch starke zentralisierende Tendenzen auszeichnet, ist die Darstellung
jedoch lohnenswert.
Zwischen objektivem Nations- und zentralistischem Staatsverständnis
Die erste Diskrepanz ist die verhängnisvolle Verquickung des zentralistischen Staatsver-
ständnisses des westeuropäischen Modells mit dem objektiven Nationsverständnis des
mitteleuropäischen Modells. Anders als im ,,französischen" Modell konnte weder die
griechische noch die serbische nationale Bewegung auf einen seit langem konsolidierten
31
Lemberg 1995, S. 56
32
Die im folgenden erläuterten ,,Diskrepanzen" beziehen sich hauptsächlich auf Sundhaussen 1994, S.
77-90.
33
Siehe vor allem Teil 2, 1.2

17
Staat als Sozialisationsagentur der Nationsbildung zurückgreifen. Zur ,,Wiedererwe-
ckung" der Nationen und als überzeugende Legitimation gegenüber dem bestehenden
osmanischen Staat bot sich folglich das objektive Nationsverständnis und das ,,nation-
into-state"-Modell (nach italienischem und deutschem Vorbild) an. Denn wo die Pro-
zesse der Staats- und Nationenbildung sich überschneiden, muss die Nation zuerst auf
,,symbolisch-expressiver Ebene" entworfen worden sein. Nur wo die Nation zuvor i-
deell entworfen wurde, kann sie später zu einem Faktor politischer Ordnung werden.
34
Um die ,,antizipierten Nationen" ­ denn sie wurden erst mit der Gründung des je-
weiligen Staates geschaffen ­ möglichst schnell umzusetzen, ,,um im Streit über das ter-
ritoriale Erbe des ,kranken Mannes am Bosporus` einsetzbar zu sein", war ein zentralis-
tisches Staatsverständnis zur erfolgreichen Massenmobilisierung mit der notwendigen
Ausschaltung regionaler Besonderheiten sehr viel effektiver als ein föderalistischer Bun-
desstaat. Ein Verschmelzung zu einer nationalen Interessengemeinschaft war aber auf-
grund fehlender organisch gewachsener Vermittlungsinstanzen nicht gegeben. So war
weder das französische ,,state-into-nation-Modell" noch das deutsche ,,nation-into-
state-Modell" auf den Balkan konfliktfrei übertragbar, weil es nur dort zu langfristig
stabilen Nationalstaaten führen konnte, wo objektive Nation mit dem Territorium des
Staates und mit den Staatsbürgern übereinstimmte. Und das war und ist für den Balkan
in großen Teilen nicht der Fall, da sich die Siedlungsgrenzen bis in die jüngste Vergan-
genheit immer wieder verschoben haben. Die Region zeichnet sich durch ethnische
Vielfalt und Gemengelage auf kleinstem Raum aus, und eine Übereinstimmung moder-
ner Wohngebiete mit den historischen Siedlungsräumen ist aufgrund der Migrationen
kaum mehr gegeben.
Die in der Folge des 1. Weltkriegs zum Teil neu geschaffenen, zum Teil um wesens-
fremde Territorien erweiterte ,,Vielvölker-Konglomerate" ­ darunter vor allem auch das
,,Königreich der Slowenen, Kroaten und Serben" ­ begannen sich nur ihrem Anspruch
nach als einheitliche Nationalstaaten zu organisieren, obwohl die ethnische Gemengela-
ge dazu die schlechtesten Vorraussetzungen bot.
35
Auch die nach dem 2. Weltkrieg versuchte Verschmelzung diktatorischer Gängelung
und Eingehen auf die kulturellen Autonomiewünsche der einzelnen Republiken in ei-
nem neuen Jugoslawien ­ das aus zwei Alphabeten, drei Sprachen, vier Religionen und
34
Münkler 1997, S. 373
35
Ferdowsi, Mir. A.: Sicherheit und Frieden jenseits der Bipolarität. Entwicklungstendenzen - Probleme
­ Perspektiven, in: Opitz, Peter: Weltprobleme. Globale Herausforderungen an der Schwelle zum 21.
Jahrhundert, München 1995, S. 159-183, hier S. 176

18
fünf Nationalitäten bestand, die in sechs Republiken lebten, von sieben Nationen um-
geben waren und mit acht nationalen Minderheiten zurecht kommen mussten ­ war
nach Sundhaussen zum Scheitern verurteilt, sobald die zentrale Staatsgewalt erodierte.
Zwischen ethnischer Vielfalt und ethnonationalem Gestaltungsprinzip
Durch die Nationenbildung mit der Berufung auf Abstammungs- bzw. Blutsgemein-
schaften und der Durchsetzung des Nationalstaatsprinzips bzw. dem Recht auf nationa-
le Selbstbestimmung in einem Raum hoher ethnischer Vielfalt kam es ­ wieder nach
Sundhaussen ­ einerseits zu einem Prozess der Abgrenzung, andererseits zu einer ,,un-
heiligen und widersprüchlichen Allianz" zwischen ,,historischen Rechten" und des mo-
dernen Selbstbestimmungsrechts. Ein wechselseitiger Zusammenhang von Ethnogenese
und Ethnocid war die Folge.
Der Diskrepanz der ethnischen Vielfalt konnte mit einer nationalstaatlichen Ideolo-
gie nur entweder mit der ,,Anpassung" der Staatsgrenzen an die Siedlungsverhältnisse
oder der Siedlungsstruktur an die Staatsgrenzen begegnet werden. Die Folgen auf dem
Balkan waren bis heute Staatszerfall, zwangsweise ,,Homogenisierung" und in einer Konse-
quenz die Herausbildung des Minderheitenschutzes.
Die ethnische Anpassung von Staatsgrenzen ist für den staatlichen Zerfall des Habs-
burger und des Osmanischen Reiches genauso verantwortlich wie für die staatliche
Fragmentierung des Vielvölkerstaats Jugoslawien, des Zweivölkerstaats Zypern oder des
neuen Vielvölkerstaates Bosnien-Herzegowina. Die Anpassung der ethnischen Sied-
lungsstruktur an die Staatsgrenzen bedeutete Zwangsassimilierung, Bevölkerungstausch
und Vertreibung bis zum Ethnocid. Und dazu gehören Serbisierungs-, Kroatisierungs-,
Bulgarisierungs-, Rumänisierung-, Gräzisierungs- und Albanisierungsbestrebungen mit
den dadurch verursachten Flüchtlingsströmen und andere Mittel der ,,ethnischen Flur-
bereinigung".
Eine Auswertung der demographischen Daten des amerikanischen Historikers Jack-
son
36
ergibt für den Zeitraum von 1912 bis 1970 eine ,,Veränderungsbilanz ethnischer
Minderheiten" von 7,4 Millionen für die vier Länder Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien
und Griechenland. Wenn man zeitweilige Minderheiten ­ wie z.B. Serben und Muslime
im kroatischen Ustasa-Staat ­ hinzurechnet, kommt man für die gleiche Zeitspanne auf
12-14 Millionen Menschen, was das erhebliche Ausmaß der ,,Flurbereinigung" in der
36
Jackson, Marvin, Changes in Ethnic Populations of Southeastern Europe, Holocaust, Migration and
Assimilation, in: Schönfeld, Roland (Hrsg.), Nationalitätenprobleme in Südosteuropa, München 1987,
S. 73ff

19
dünn besiedelten Region wiederspiegelt. Von den vier großen ,,Homogenisierungswel-
len"
37
ist die vorerst letzte, die Mitte der 80er Jahre in Bulgarien begann, noch im Gange.
1.2.5 Exkurs: Selbstbestimmungsrecht und Minderheitenschutz
Mit der Verschmelzung der Idee nationaler Selbstbestimmung und dem Gedanken der
Identität von staatlicher und ethnischer Zugehörigkeit entwickelte sich im Zuge des
Zusammenbrechens der drei multinationalen Reiche nach dem 1. Weltkrieg und der
Versailler Friedensordnung in völkerrechtlicher Hinsicht das sogenannte ,,Selbstbe-
stimmungsrecht der Völker". Durch die Proklamation des amerikanischen Präsidenten
Woodrow Wilson wurde es ,,zu einem Hauptprinzip der territorialen und staatlichen
Neuordnung Europas".
38
Ob es jedoch in der Theorie konsistent war, ist fraglich.
39
In
der Praxis war es auf jeden Fall auch nach dem zweiten Weltkrieg nicht anwendbar.
Trotz einiger Erfolge in den 20er Jahren mit der Gründung des Völkerbunds ist der
Minderheitenschutz schließlich vollkommen gescheitert. Mit der Gründung der Verein-
ten Nationen 1945 wich er zugunsten einer Erweiterung der allgemeinen
Menschenrechte und individueller Grundfreiheiten. Aufgrund des immer wieder
umstrittenen Minderheitenbegriffs kam es selten zu einem verbindlichen Schutz. Trotz
der Verankerung von Minderheitenrechten in zahlreichen internationalen und
regionalen völkerrechtlichen Bestimmungen und außerrechtlichen ,,Absichtserklärungen
guten Willens"
40
, obliegt es ,,den einzelnen Staaten, Sorge für ihre Minderheiten, die in
der Regel ihre Staatsbürger sind, zu tragen". Hinzu kommt, dass auch dort der
37
Die erste begann nach den jeweiligen Staatsgründungen und wiederholte sich nach der jeweiligen
Erweiterung im Laufe des 19. Jahrhunderts und betraf vor allem Türken und Muslime nicht-türkischer
Herkunft, aber auch Konnationale der Balkanvölker außerhalb der jeweiligen Nationalstaaten. Mit den
Balkankriegen 1912/13 setzte die zweite Welle ein und dauerte bis in die Mitte der 20er Jahre. Dabei
kommt es zu den ersten zwischenstaatlichen Abkommen des ,,Bevölkerungsaustausches" zur ,,Entmi-
schung" der Bevölkerungen. Zwar international sanktioniert, wurden auf diese Weise aber nachträg-
lich Flüchtlingsströme und Vertreibungen anerkannt. Herausragendes Beispiel ist der griechisch-
türkische Vertrag von 1923. Die dritte große ,,Homogenisierung", die ,,Purifizierungswelle" umfasst
die Zeit des 2. Weltkriegs bis zum Ende der 40er Jahre. Darunter fallen die nationalsozialistischen
Umsiedlungsaktionen und die ,,ethnischen Säuberungen" im ,,Unabhängigen Staat Kroatien", die Ver-
folgung und Vernichtung von Juden und die anschließende Vertreibung der in Südosteuropa beheima-
teten Deutschen. Die vierte und bisher letzte große Welle beginnt Mitte der 80er Jahre in Bulgarien
und dauert bis jetzt im ehemaligen Jugoslawien an. (Vgl. auch: Sundhaussen 1994, S. 86ff)
38
Heckmann 1992, S. 60f
39
Colak, Ferdo: Die Selbstbestimmung der Völker zwischen Recht und Machtpolitik. Kroatien und
Bosnien-Herzegowina, Zagreb 1996, S.24
40
Zu nennen sind hier hauptsächlich die internationalen Bestimmungen: Charta der Vereinten Nationen,
das Internationale Abkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (IÜBFR) 1965 sowie der
Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) und der von der UNO beschlossene Inter-
nationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 und die außerrechtlichen Absichts-
erklärungen der KSZE. aus: Eicher, Joachim: Konfliktlösungsstrategien in multiethnischen Staaten:
Das Beispiel Kroatien. (Schriftenreihe Wirtschaft und Gesellschaft in Südosteuropa. Band 14), München 1998,
S. 22ff

20
Staatsbürger sind, zu tragen". Hinzu kommt, dass auch dort der Minderheitenschutz
und die Minderheitensituation durch die Minderheitenpolitik oft auseinander klaffen.
41
Beim Selbstbestimmungsrecht wird zwischen einem inneren und einem äußeren un-
terschieden. Das innere Selbstbestimmungsrecht ist ,,das Recht eines Volkes, das in ei-
nem von einem anderen Volk beherrschten Staat lebt, an der Regierung in irgend einer
Form beteiligt zu werden oder Selbstverwaltungsrechte zu bekommen"
42
. Das äußere
Selbstbestimmungsrecht, durch das auch Kroatien letztendlich seine Unabhängigkeit
und Abspaltung von Jugoslawien erreichte, betrifft die Sezession und ist in den völker-
rechtlichen Bestimmungen
43
nur vage bestimmt. Es ist durch zwei Prinzipienkonflikte
gekennzeichnet, der territorialen Integrität bestehender Staaten einerseits und dem
Selbstbestimmungsrecht der Völker andererseits. Diese nicht immer kompatiblen
Grundsätze sind maßgeblich verantwortlich für die Konflikte, die nach dem Ende des
Ost-West-Konflikts in multinationalen und multiethnischen Staaten ausgebrochen sind.
In den drei großen Wellen von Staatsgründungen im 20. Jahrhundert gab es jeweils
eine unterschiedliche Anwendung in Bezug auf die Veränderung von Grenzen.
44
Hatte
nach dem 1. Weltkrieg das Nationalitätsprinzip Vorrang, überwog bei den postkolonia-
len Staatengründungen das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen. Dieses Prinzip ist
in der postkommunistischen Ära von Staatengründungen einer dritten Formel der An-
erkennung von Souveränität und der Definition von Grenzen gewichen. Der Versuch
eines Kompromisses zwischen nationaler Selbstbestimmung und der Unverletzlichkeit
bestehender Grenzen, nämlich die Souveränität auf die ,,nächstniedrigere politische
Einheit der zusammengebrochenen multinationalen Staaten Jugoslawien und Sowjet-
union"
45
zu übertragen, führte Mandelbaums Ansicht nach allerdings wegen der ethni-
schen Inkonsistenz der Republikgrenzen zu mangelhaften Ergebnissen mit neuen Min-
derheiten, die vorher Mehrheiten waren und umgekehrt.
46
41
Ebd., S. 9 und S. 45
42
Ebd., S. 33
43
Vgl. die Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker vom 14. Dezember
1960, IPBR und die Schlußakte von Helsinki vom 1. August 1975, ebd. 34f
44
Vgl. Mandelbaum, Michael: Die Zukunft des Nationalismus, in: Europäische Rundschau, 28. Jg.
(2000), S. 27-39
45
Ebd., S. 33
46
Ebd., S. 33. Das bedeutete z.B. einmal für die russischsprechenden Gemeinden in der Ukraine und
Kasachstan, nicht zu einem postsowjetischen Russland zu gehören, für Bosnien hieß es, ein souverä-
ner Staat innerhalb der jugoslawischen Grenzen sein zu müssen, auch wenn die Mehrheit der Men-
schen strikt dagegen war, für das Kosovo schließlich wurde trotz der Mehrheit der Bewohner keine
Souveränität zuerkannt.

21
1.3 Staatsbildung, Nationenbildung und Demokratie
Durch die oben erwähnten sehr unterschiedlichen Staats- und Nationsverständnisse
wird erneut deutlich, dass weder Staaten noch Nationen natürliche Entitäten darstellen,
sondern vielmehr willentliche und ,,erfundene" Konstruktionen, begrenzt und souverän
vorgestellte, ,,imaginierte Gemeinschaften" sind.
47
1.3.1 Hintergrundbedingungen für Staaten- und Nationenbildung aus
modernisierungstheoretischer Sicht
Trotzdem oder gerade deswegen können Nationen ­ wie auch Staaten - nicht beliebig
konstruiert werden und ein Scheitern bzw. ein nur unvollkommener Nationalstaat ist
möglich bzw. die logische Folge, wenn bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllt sind.
Bei der ,,Herstellung" einer Nation spielen sich über Jahrhunderte und Jahrzehnte hin-
weg erstreckende Prozesse eine wichtige Rolle.
Auch wenn diese sich zum Teil in unterschiedlicher Reihenfolge herausbildeten, gel-
ten jenseits einer bloß ideell-(ideologisch)-sprachlichen Ebene der Nationsbildung fun-
damentale modernisierungstheoretische Hintergrundbedingungen des modernen Natio-
nalstaats und seines konstruktiven ,,originären Entwicklungsnationalismus"
nordwesteuropäischer Prägung, die auch heute noch maßgeblich zur vergleichsweise
großen Stabilität des staatlichen wie des demokratischen Systems der westeuropäischen
Staaten gegenüber ihren östlichen ,,Nachfolgern" beitragen. Sie lassen sich stichwortar-
tig wie folgt zusammen fassen:
· Herausbildung von Territorialstaatlichkeit,
· die Kontrolle eines staatlichen Gewaltmonopols,
· territorialweite Verkehrswirtschaft mit marktwirtschaftlicher Produktionsweise,
· die Homogenisierung wesentlicher Lebensbereiche im Verkehrs-, Rechts- und
Bildungswesen und eine damit einhergehende Hochsprache,
· der Umbau traditionaler Gesellschaften in der Folge der sozialen Mobilisie-
rung,
· eine breitenwirksame Politisierung, die zu einer wenn auch mit Rückschlägen
verbundenen sukzessiven Demokratisierung führt,
47
Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Erfindung eines folgenreichen Konzepts, Frank-
furt 1993, S. 15ff

22
· schließlich Sozialstaatlichkeit angesichts der auf Ungleichheit aufbauenden Ö-
konomie als Voraussetzung für die Herausbildung eines Wohlfahrtsstaats und
· die Herausbildung einer neuen nationalen Identität, die sich als ,,Spät- und
Kunstprodukt" bei einer erfolgreichen Nationalstaatsbildung ergibt.
Der in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht als ,,früh, langsam und integrativ" gekenn-
zeichnete originäre Nationalstaatbildungsprozess führte durch das Zusammenspiel von
Rechts-, Wirtschafts- und Kulturraum zu einer starken Kohärenz und Homogenität
48
und konnte sich zu einem großen Teil von unten nach oben entwickeln, was das Ent-
stehen liberal-demokratischer Elemente möglich machte.
Kommt es nicht zu einer territorialstaatlichen Konsolidierung, einer leistungsfähigen
Volkswirtschaft und einer weitgehenden Homogenisierung der Lebensbereiche, nicht
zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit, der Ausweitung demokratischer Partizipation und
einer nationalen Identitätsbildung, kommt es dennoch zu einer sozialen Mobilisierung
der Bevölkerung. In einem Gebiet, in dem sich die Konfrontationen entlang volksgrup-
penmäßiger, kultureller, religiöser oder sprachlicher Linien abspielen, kommt es unwei-
gerlich zu ethnonationalistischen Konflikten. Es kommt zu einem Aufschauklungspro-
zess, da Ethnizität Gegenethnizität provoziert.
49
1.3.2 Krisen und Nationalismen auf dem Weg zur Nationenbildung
Hat sich der Ost-West-Konflikt mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Re-
gime in Europa aufgelöst, sind eine Reihe neuer Konflikte entstanden, die zum Teil tief
in der Geschichte wurzeln und sehr eng mit einer nicht vollendeten Nationen- und Na-
tionalstaatsbildung und einem ,,Fehlschlag der Bemühungen um eine nachholende Ent-
wicklung" zusammenhängen.
50
Bei nachholenden Nationalstaatsbildungen setzten viele
Eliten auf einen allzu etatistischen Staatsbegriff und erklären die staatlichen Institutio-
nen zum wichtigsten Träger ihrer Strategie. Sie versuchen mittels staatlicher Entwick-
lungsprogramme eine nationale Assimilation von oben nach unten durchzusetzen, die
auch aufgrund historischer Entwicklungen oft zum Scheitern verurteilt sind. So konnte
es in Südosteuropa durch die Manipulation durch die Eliten, die Verunsicherung an der
48
Senghaas, Dieter: Vom Nutzen und Elend des Nationalismus im Leben von Völkern, in: Aus Politik
und Zeitgeschichte, Jg. 1992, H. B 31/32, S. 24f bezugnehmend v.a. auf Deutsch, Karl W.: Nationa-
lism and Social Communication, Cambridge 1953
49
Ebd., S. 30
50
Ebd., S. 30. Aufgrund dieser Überzeugung spricht Sundhaussen von Entwicklungsnationalismus und
unterscheidet zwischen einem ,,originären", ,,sekundären" und einem ,,tertiären" für seine heutigen
Erscheinungen. S. 26ff

23
Basis und die sozialpsychologische Funktion des Nationalismus zu einer ,,`Renaissance`
des Ethnonationalismus" kommen.
51
Eine vergleichende Betrachtung der Konfliktanlässe in postkolonialen wie in post-
kommunistischen Staaten, die sich besonders deutlich in der Sowjetunion und in Jugos-
lawien zeigen, da sie dort zur Auflösung bisher autoritär zusammengehaltener Staatsge-
bilde führten, legt die Vermutung nahe, dass nach der Staatsbildung die Herausbildung
einer ,,nationalen" Identität und die Konsolidierung von ,,Nationalstaatlichkeit" von
einer ,,`Krisenpentarchie` begleitet werden, deren Elemente in verschiedener Sequenz
und unterschiedlichem Gewicht und Intensität auftreten und die unterschiedlichsten
Typen von Kriegen verursachen" können.
52
Penetrationskrisen
Penetrationskrisen ergeben sich als Reaktion auf den Auf- und Ausbau einer leistungs-
fähigen Volkswirtschaft zur Einflussnahme der Regierung in allen Regionen des Landes.
So wichtig diese Maßnahmen für die erhöhten Anforderungen des Nationalstaats im
Hinblick auf die politische und wirtschaftliche Entwicklung sind, weil eine mobilere,
sich industrialisierende Gesellschaft stärker auf administrative und kulturell einheitliche
Durchdringung angewiesen ist, kommt es doch aus zwei Gründen zu Schwierigkeiten.
Einmal durch die Tatsache, dass sich einzelne Regionen nach historischen Wurzeln,
kulturell-religiöser Tradition und ökonomischer Struktur stark unterscheiden. Zweitens
kommt es in kulturell heterogenen Staaten von Seiten der herrschenden Eliten oft zu
einer erzwungenen Assimilierung linguistischer oder religiöser Minderheiten durch ge-
zielte staatliche Maßnahmen bis hin zu ,,ethnischen Säuberungen". Eine solche Politik
führt unweigerlich zum Widerstand der betroffenen Volksgruppen und kann verschie-
dene Formen von ethnonationalistischen Konflikten annehmen wie ,,Besitzstandswah-
rung" durch ökonomisch bessergestellte Volksgruppen (die Katalanen, Slowenen oder
Kroaten), ,,Überfremdungsabwehr" (der baltischen Nationen) oder Assimilationsabwehr
(der Albaner im Kosovo oder der Kurden in der Türkei) von Minderheiten gegen die
Fremdbestimmung durch eine andere Gruppe.
53
51
Vgl. Sundhaussen 1994, S. 415ff
52
Ferdowsi, Mir A. 1995, für die gesamte ,,Krisenpentarchie", hier S. 171; vgl. auch Rokkan, S. Die
vergleichende Analyse der Staaten- und Nationenbildung: Modelle und Methoden, in: Theorien des
sozialen Wandels, Zapf, Wolfgang, (Hrsg.) 4. Auflage, Königstein/Ts. 1979, S.233ff; Eine empirische
Untersuchung zur Wechselwirkung von Krieg und Staatsbildung: Jaggers, Keith: War and the three fa-
ces of power. War Making and State Making in Europe and the Americas, in: Comparative Political
Studies, Vol. 25 No. 1, April 1992, S. 26-62
53
Senghaas, Dieter: Friedensprojekt Europa. Frankfurt 1992 (Sonderausgabe 1996), S. 117f

24
Partizipationskrisen
Partizipationskrisen entstehen im Zuge einer Reformierung und Restrukturierung durch
den notwendigen Versuch der Eingliederung immer größerer Bevölkerungsgruppen in
den politischen Prozess, was unausweichlich zu neuen Interessensgruppen mit neuen
Forderungen führt und einen grundlegenden Wandel existierender politischer und öko-
nomischer Strukturen verlangt. Dem stellen sich oft zwei Faktoren entgegen. Einerseits
die vorhandene Monopolisierung politischer und wirtschaftlicher Macht bei der ,,ge-
wendeten" alten Elite, die pluralistische und partizipatorische Strukturen abzuwehren
suchen, was im Ringen um politische Macht eher zu Machkämpfen als zur Konsensbil-
dung und nicht selten zu einem autoritären oder diktatorischen Führungsstil führt.
Machtkonzentration, Zentralisierung und ein starker Staat begünstigt durch ein präsi-
dentielles Regierungssystem gehören auch zu einem allgemeinen Kennzeichen der süd-
osteuropäischen postkommunistischen Gesellschaften.
54
Andererseits ist in den meisten
postkommunistischen wie postkolonialen Staaten aufgrund fehlender oder kurzer de-
mokratischer Tradition bis zur Erlangung ihrer Unabhängigkeit wenig Erfahrung mit
demokratischen und ordnungspolitischen Grundprozessen vorhanden und eine Zivilge-
sellschaft kaum ausgebildet.
55
Gleichzeitig birgt die psychologische Situation vieler Staaten im Zusammenhang mit
wirtschaftlicher Transformation und einer oft rasanten ökonomischen Modernisierung
mit neuen Ungleichheiten die Gefahr, dass aus einer tatsächlichen oder eingebildeten
Zurücksetzung demokratischer Errungenschaften autoritäre Antworten entstehen. Zu-
flucht in ,,bonapartistische" Lösungen und eine Rückkehr zu einer nationalstaatlichen
Machtpolitik sind nicht auszuschließen.
56
Identitätskrisen
Identitätskrisen entstehen, wenn sich kein gemeinsames Identitätsgefühl für eine Nation
herausbildet, bzw. wenn die persönliche Identität einzelner Individuen nicht zu einem
54
Vgl. Bianchini, Stefano: The idea of state in post-communist balkan countries; in: Bianchini, Stefano;
Schöpflin, George: State Building in the Balkans. Dilemmas on the eve of the 21
st
Century, Europe
and the Balkans International Network, Vol. 8, Ravenna 1998, S. 53-80
55
Kroatien konnte bis 1990 nur auf eine 11-jährige ­ zudem ambivalente ­ demokratische Erfahrung
von 1918 bis 1927 zurückblicken. Ferdowsi, Mir. A.: ,,Nationenwerdung" als weltzivilisatorischer Pro-
zeß ­ durch Krieg?, in: Vogt, Wolfgang R. (Hrsg.): Frieden als Zivilisierungsprojekt ­ Neue Heraus-
forderungen an die Friedens- und Konfliktforschung: 25 Jahre AFK, Baden-Baden 1995, S. 169-178,
hier S. 172
56
Mayer, Tilmann: Die nationalstaatliche Herausforderung in Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschich-
te, Bd. 14, 1993, S. 15

25
Teil auf der Identifikation mit dem nationalen Territorium beruhen.
57
Abhilfe schaffte
bzw. schafft oft nur ein ,,temporär nachholender Nationalismus". ,,Denn die Entwick-
lung eines nationalen Gemeinschaftsgefühls bzw. eines Gefühls gemeinsamer Identität
legt nicht nur und in erster Linie die ,Entkolonisierung` der Vergangenheit nahe, son-
dern auch die Konstruktion nationaler Identität durch Wiederherstellung ,kollektiver
Identität auf der Basis einer Kombination von primordialen (historischen, territorialen,
sprachlichen, ethnischen) Faktoren bzw. Symbolen und politischen Grenzen`".
58
Um
Referenzpunkte für die eigene Existenz zu finden, müssen Staaten über das mehr oder
minder zufällig und willkürlich begrenzte Territorium hinausgehen. Kann man sich
nicht auf eine Zeit der Unabhängigkeit in unmittelbarer Vergangenheit berufen, kommt
es zur ,,nationalen Wiedergeburt" im Rückgriff auf die Geschichte. Vor allem dort, wo
der Zusammenbruch totalitärer Systeme und Ideologien individuelle und kollektive E-
xistenzkrisen materieller wie geistiger Art hinterlassen hat, hilft ein Mythos der Nation
zu neuer Identität, der seitens der Politik als Element ,,autonomer nationaler Emanzipa-
tion" benutzt oder als ,,ein manipulativ verfügbares Herrschaftsinstrument" missbraucht
werden kann. Oft übertreibt der ,,Kult der Ethnizität" mit der Folge einer ethnozentri-
schen Ab- und Ausgrenzung mit chauvinistischen und fundamentalistischen Strömun-
gen, die von der inneren Selbstfindung zur Aggression nach außen bzw. gegen als Min-
derheit definierte Gruppen umschlägt. Für von Entmündigung betroffene Menschen,
Gruppen, Völker gilt dieser Prozess allerdings als schwer umgänglich, da erst eine gefes-
tigte Identität vor neuer Abhängigkeit zu bewahren scheint.
59
Distributionskrisen
Distributionskrisen sind Begleiterscheinungen und resultieren vor allem durch die öko-
nomische Umwandlungen begleitenden steigenden Erwartungen und Forderungen nach
Sicherheit, Gerechtigkeit und Daseinsvorsorge, die aufgrund ökonomischer Krisen und
begrenzter wirtschaftlicher Ressourcen nur für die wenigsten erfüllt werden können.
57
Rokkan 1978, S. 234
58
Eisenstadt, Shmuel: Die Konstruktion nationaler Identitäten in vergleichender Perspektive, in: Gies-
sen, Bernhard (Hrsg.) Nationale und kulturelle Identität, 1991. zitiert nach: Ferdowsi, Mir A.: Sicher-
heit und Frieden jenseits der Bipolarität, 1995, S. 172f
59
Ferdowsi 1991, S. 173. Vgl zur Identitätskrise und der Entstehung von ethnischen Nationalismen im
postkommunistischen Osteuropa auch: Krizan, Mojmir: Postkommunistische Wiedergeburt ethni-
scher Nationalismen und der Dritte Balkan-Krieg; in: Osteurpa, 45. Jahrgang (1995), S. 201-217, vor
allem S. 201-203

26
Legitimationskrisen
Legitimationskrisen können sich aus zwei verschiedenen Gründe ergeben. Entweder
durch Konflikte zwischen neuen und alten Machteliten nach dem Wandel der bisherigen
Machtbasis oder durch den Autoritätsverlust staatlicher Institutionen, wenn sich die
Nationen-Bildung nicht in territorialstaatlicher Konsolidierung, dem Aufbau einer leis-
tungsfähigen Volkswirtschaft, dem Aufbau und der Sicherung von Rechtsstaatlichkeit
und einer Ausweitung demokratischer Partizipation niederschlägt.
60
60
Ebd., S. 173f

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2001
ISBN (eBook)
9783832450892
Dateigröße
1.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München – Geschichts- und Kunstwissenschaften, Geschwister-Scholl-Institut für politische Wissenschaften
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Note
1,15
Schlagworte
transformation südosteuropa
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Titel: Nationalstaatsbildung und Demokratisierung in Kroatien
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