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"Schoepferische Zerstörung"

Gesellschaftliche Individualisierung und soziale Arbeit

©1998 Diplomarbeit 103 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Gang der Untersuchung:
Grundlage meiner Betrachtung ist der Prozeß der Individualisierung. Im Zentrum dieser Arbeit steht der Mensch - Mittelpunkt meiner angehenden beruflichen Arbeit. Da es nicht möglich ist, alle Facetten des Individualisierungsprozesses in einer Diplomarbeit auszuleuchten, spezifiziere ich mich auf die Grundlagen und Folgen, die sich mir am wichtigsten und weitreichendsten darstellen. In Kapitel 1.1 gebe ich einen ersten Überblick über Tendenzen einer individualisierten Gesellschaft. Außerdem grenze ich Individualisierung vom Modernisierungsprozeß anhand eines idealtypischen Dreiecksmodell, in Anlehnung an Talcott Parsons idealtypischen Vierecksmodell, ab. Dieser Schritt wird nötig, da ich nicht den ganzen Modernisierungsprozeß bearbeiten will, sondern mich auf Individualisierung beschränke. Ich stellte fest, daß die anderen beiden Dimensionen von Parsons Modell, Rationalisierung und Differenzierung, zugleich Grundlage vom Individualisierungsprozeß sind, die sich gegenseitig bedingen. Dementsprechend gehe ich auf diese beiden Dimensionen gesondert ein und forme daraus das idealtypische Dreiecksmodell mit den Dimensionen Rationalisierung, Differenzierung und Individualisierung, als Grundlage meiner Arbeit.
Der durch den Modernisierungsprozeß eingeleitete Umbruch der Werte ist die wichtigste Grundlage für den modernen Pluralismus, der seinerseits ein wichtiges Element moderner Individualisierung ist. Kapitel 1.2 beschäftigt sich mit der Pluralisierung der Werte, subjektiver und intersubjektiver Sinnkrise, intermediären Institutionen und der postmodernen Theorie. Daneben stelle ich noch die Wertesynthese von Helmut Klages, als positives Beispiel gelungener Wertintegration vor. Da der Pluralismus nicht nur Werte beeinflußt, die ihrerseits den Menschen maßgeblich prägen, sondern auch das Individuum selbst, war es für mich unmöglich, Pluralismus aus der Auswahl möglicher Individualisierungsthemen zu streichen.
Nachdem die wichtigsten Grundlagen bearbeitet sind, wende ich mich dem Menschen zu und betrachte in Kapitel 2 individuelle Folgen für individualisierte Bürger. Zuerst beschäftige ich mich mit der kontroversen Freiheit, die durch Individualisierung entstanden ist. Auf der einen Seite steht eine neue Unabhängigkeit durch Enttraditionalisierung, auf der anderen Seite eine neue Abhängigkeit von vielfältigen Organisationen. Danach betrachte ich die Diskussion um den Tod des Subjektes, die in letzter Zeit immer […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 5052
Weiß, Matthias: "Schoepferische Zerstörung": Gesellschaftliche Individualisierung und soziale
Arbeit / Matthias Weiß - Hamburg: Diplomica GmbH, 2002
Zugl.: Münster, Fachhochschule, Diplom, 1998
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Vorwort
Vorwort
`Befreiung ist die größte Freiheit', wird sich der Gefangene denken, der
soeben seine Haftstrafe verbüßt hat oder der Sklave, der nicht länger
Eigentum seines Sklavenhalters ist. Vielleicht wird sich das auch so
mancher Deutsche nach dem Mauerfall 1989 gedacht haben, nachdem er
zum ersten Mal die `harte' Mark in der Hand hielt und über die (dama-
lige) deutsch-deutsche Grenze ging.
Diese Diplomarbeit handelt im weitesten Sinne von Befreiung, Freiheit
und den Konsequenzen die der befreite Mensch zu tragen hat. Sie han-
delt über das positive Gefühl selbstbestimmt und autonom zu sein und
über die damit verbundene Verantwortung, die man nicht nur tragen
kann, sondern tragen muß. Sie versucht einige Gründe aufzuspüren, wa-
rum der (post)moderne freie Mensch der Gegenwart atomisiert, orientie-
rungslos, selbstbestimmt, akzeptiert, unabhängig oder auch abhängig
ist. Sie verweist auf die Chancen individueller Freiheit ebenso, wie auf
die Nachteile vom Zwang zur Freiheit.
Grundlage meiner Betrachtung ist der Prozeß der Individualisierung. Im
Zentrum dieser Arbeit steht der Mensch - Mittelpunkt meiner angehen-
den beruflichen Arbeit. Da es nicht möglich ist, alle Facetten des Indi-
vidualisierungsprozesses in einer Diplomarbeit auszuleuchten, spezifi-
ziere ich mich auf die Grundlagen und Folgen, die sich mir am wich-
tigsten und weitreichendsten darstellen. In Kapitel 1.1 gebe ich einen
ersten Überblick über Tendenzen einer individualisierten Gesellschaft.
Außerdem grenze ich Individualisierung vom Modernisierungsprozeß
anhand eines idealtypischen Dreiecksmodell, in Anlehnung an Talcott
Parsons idealtypischen Vierecksmodell, ab. Dieser Schritt wird nötig,
da ich nicht den ganzen Modernisierungsprozeß bearbeiten will, son-
dern mich auf Individualisierung beschränke. Ich stellte fest, daß die
anderen beiden Dimensionen von Parsons Modell, Rationalisierung und
Differenzierung, zugleich Grundlage vom Individualisierungsprozeß

Vorwort
sind, die sich gegenseitig bedingen. Dementsprechend gehe ich auf die-
se beiden Dimensionen gesondert ein und forme daraus das idealtypi-
sche Dreiecksmodell mit den Dimensionen Rationalisierung, Differen-
zierung und Individualisierung, als Grundlage meiner Arbeit.
Der durch den Modernisierungsprozeß eingeleitete Umbruch der Werte
ist die wichtigste Grundlage für den modernen Pluralismus, der seiner-
seits ein wichtiges Element moderner Individualisierung ist. Kapitel 1.2
beschäftigt sich mit der Pluralisierung der Werte, subjektiver und inter-
subjektiver Sinnkrise, intermediären Institutionen und der postmoder-
nen Theorie. Daneben stelle ich noch die Wertesynthese von Helmut
Klages, als positives Beispiel gelungener Wertintegration vor. Da der
Pluralismus nicht nur Werte beeinflußt, die ihrerseits den Menschen
maßgeblich prägen, sondern auch das Individuum selbst, war es für
mich unmöglich, Pluralismus aus der Auswahl möglicher Individualisie-
rungsthemen zu streichen.
Nachdem die wichtigsten Grundlagen bearbeitet sind, wende ich mich
dem Menschen zu und betrachte in Kapitel 2 individuelle Folgen für
individualisierte Bürger. Zuerst beschäftige ich mich mit der kontrover-
sen Freiheit, die durch Individualisierung entstanden ist. Auf der einen
Seite steht eine neue Unabhängigkeit durch Enttraditionalisierung, auf
der anderen Seite eine neue Abhängigkeit von vielfältigen Organisatio-
nen. Danach betrachte ich die Diskussion um den Tod des Subjektes,
die in letzter Zeit immer deutlicher zu hören ist. Wird das Individuum
durch Pluralität und Individualisierung in sich selbst brüchig oder bietet
sich gerade durch den zerbrochenen Persönlichkeitskern eine neue
Chance der Befreiung ? Ebenso verhält es sich mit der Diskussion um
die Atomisierung und Egozentrierung des Menschen. Die einen bekla-
gen den Verfall von Solidarität und traditionellen Beziehungsmustern,
die anderen sehen im Entstehen neuer Beziehungsformen eine Chance
für Befreiung und Autonomie. Zuletzt stelle ich noch die Bedingungen
für ein sinnvolles, produktives Leben vor, daß sich trotz (oder gerade
wegen) Individualisierung offenbart. Die oben angesprochenen Chancen

Vorwort
sind das eine, die notwendigen Ressourcen um sie zu nutzen, das ande-
re. Meine Betrachtung ist durchaus positiv gefärbt, wenngleich ich nicht
glaube, Gefahren nicht ernst genug zu diskutieren.
Schließlich wende ich mich in Kapitel 3 den neuen Anforderungen an
die Soziale Arbeit zu. Aufgrund der Aktualität dieser Diskussion kann
ich nur ein paar Optionen anbieten. Perspektiven einer neuen Kultur der
Sozialen Arbeit zeichnen sich ab, sind aber noch keineswegs gründlich
durchdacht oder konzeptionelle festgehalten. Ideen, Vorstellungen und
Tendenzen stehen im Raum und `warten darauf' diskutiert zu werden.
Einmal mehr ist Lehre und Praxis der Sozialen Arbeit nicht `up to date'
und hat einen Nachholbedarf sowohl in theoretischer, als auch konzep-
tioneller Hinsicht. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit und inszenierte
Solidarität sind die ersten Vorschläge auf die veränderte Lebenswirk-
lichkeit der Menschen.
Der Titel `Schöpferische Zerstörung' geht zurück auf Joseph A. Schum-
peter, der 1942 die kapitalistische Dynamik so bezeichnete (vgl. Chris-
tian Thies 1997, S.142). Ich fand ihn sehr passend, weil er die Ambiva-
lenz des Modernisierungsprozesses gut beschreibt. Auf der einen Seite
werden traditionelle Werte, Beziehungsmuster und Solidaritätsformen
zerstört, auf der anderen Seite Freiheit, Autonomie und neue Bezie-
hungsformen geschaffen. Individualisierung stellt sich demnach als
`schöpferische Zerstörung' dar, die gleichermaßen Gefahren, als auch
Chancen bietet - es gilt immer beide Seiten zu sehen.
Die gesamte Diplomarbeit beschränkt sich ausschließlich auf westliche,
kapitalistische Gesellschaften, wie z.B. Deutschland. Andere Gesell-
schaften sind nicht so sehr vom Modernisierungsprozeß betroffen und
können nicht in einem Zug mit den westlichen Industrienationen ge-
nannt werden. Für Äthiopien oder den Iran treffen die Ausführungen
dieser Arbeit mit Sicherheit nicht zu.

Gliederung
1. Gesellschaft im Übergang
Oder : Grundzüge der Individualisierung
1.1 Individualisierung - Ein erster Überblick 11
1.1.1 Tendenzen einer individualisierten Gesellschaft
14
1.1.2 Idealtypisches Dreiecksmodell
17
1.1.2.1 Strukturelle Dimension - Differenzierung
19
1.1.2.2 Kulturelle Dimension - Rationalisierung
26
1.2 Die Werte verändern sich 33
1.2.1 Beispiele postindustrieller Wertkonstellationen
35
1.2.2 Wertesynthese als positives Beispiel gelungener Wertintegration
37
1.2.3 Individualisierung und Wertpluralismus
46
1.2.4 Pluralisierung der Werte - Moderner Pluralismus
48
1.2.4.1 Subjektive und intersubjektive Sinnkrise
49
1.2.4.2 Intermediäre Institutionen und quasi - autonome
Sinngemeinschaften
52
1.2.4.3 Pluralismus als Programm - Die Postmoderne
57
1.2.4.3.1 Ursprung und Inhalt der Postmoderne
58
1.2.4.3.2 Moderne und postmoderne Kritik
62

Gliederung
2. Der Mensch im Mittelpunkt
Oder : Individuelle Folgen für individualisierte Bürger
2.1 Kontroverse Freiheit 65
2.1.1 Die neuen Abhängigkeiten 67
2.1.2 Ästhetische Sinnkonstrukte von Bastlern und Konstrukteuren 69
2.2 Tod des Subjektes oder Auferstehung durch Selbstverlust ? 71
2.2.1 These vom Tod des Subjektes 72
2.2.2 Chancen einer kernlosen Identität 73
2.3 Atomisierung - Kleine, sich fremde Partikel 76
2.3.1 Entsolidarisierung und Ego-Gesellschaft
77
2.3.2 Neue soziale Beziehungen
79
2.4 Bedingungen für ein sinnvoller, produktives Leben 81
2.4.1 Materielle Ressourcen 81
2.4.2 Soziale Ressourcen 82
2.4.3 Psychische Ressourcen 83

Gliederung
3. Individualisierung und Soziale Arbeit
Oder : Perspektiven für (post)moderne Handlungskonzepte
3.1 Soziale Arbeit im Aufbruch 87
3.1.1 Antiindividualistischer Standpunkt eines führenden
Mitglieds der Evangelischen Kirche und Bestandsauf-
nahme sozialer Risiken der modernen Gesellschaft
88
3.1.2 Kritische Stimme zum antiindividualistischen Stand-
punkt, ebenfalls von einem Mitglied der Evangelischen
Kirche
93
3.2 Lebensweltorientierte Soziale Arbeit 95
3.2.1 Inszenierte Solidarität
96
3.2.2 Offene Fragen
98

Gesellschaft im Übergang. Oder : Grundzüge der Individualisierung
10
Gesellschaft im Übergang
Oder : Grundzüge der
Individualisierung

Gesellschaft im Übergang. Oder : Grundzüge der Individualisierung
11
1. Gesellschaft im Übergang
Oder : Grundzüge der Individualisierung
1.1 Individualisierung - Ein erster Überblick
Individualisierung ist keine neue Errungenschaft dieses Jahrhunderts.
Sie ist ein Teil des in der Renaissance entstehenden Modernisierungs-
prozesses, der im Spätmittelalter am Ende des 14. und Anfang des 15.
Jahrhunderts begann. War man bis zur Renaissance ,,...Individuum [...]
zuerst und vor allem als unablösbarer Teil einer Kollektivität, in die
man hineingeboren und in der man aufgewachsen und der man nicht auf
Grund einer persönlichen Wahl beigetreten war"
1
, wurde im Laufe des
Modernisierungsprozesses, persönliche Identität eine Frage der eigenen
Wahl.
Der Begriff Individualisierung meint das Abbröckeln von traditionellen
und das Entstehen von neuen Beziehungen ebenso, wie einen Gewinn an
persönlicher Freiheit und einem Verlust an Orientierungsmöglichkeiten.
Er offenbart Potentiale ebenso wie Gefahren und führt zu einer neuen
Gesellschaftsform, zu neuen Sozialstrukturen und zu neuen Definitionen
des Identitätsbegriffes.
Die individuelle Freisetzung wurde seit je her kontrovers diskutiert. Wo
die einen (Christopher Lasch, Richard Sennett, Erich Fromm u.a.m.)
Individualisierung pessimistisch betrachteten, stellten die anderen (Carl
R. Rogers, Abraham Maslow, Ronald Inglehart u.a.m.) die befreienden
Aspekte in den Vordergrund.
1
Hans van der Loo / Willem van Reijen 1997, S.182

Gesellschaft im Übergang. Oder : Grundzüge der Individualisierung
12
Emile Durkheim verwies im besonderen auf die Gefahren der Arbeits-
teilung und den damit aufbrechenden traditionellen Strukturen. Gleich-
zeitig nannte Durkheim aber auch Chancen dieser entstehenden Enttra-
ditionalisierung und die damit verbundene Freiheit des Individuums.
Max Weber hingegen betrachtete die Freisetzung des Einzelnen von
einer anderen Seite. Mit seiner Modernitätstheorie erkannte er vor allem
das Phänomen der Rationalisierung. Einerseits handelt es sich, so We-
ber, ,,...um die zunehmende kognitive Beherrschung der Wirklichkeit
anhand immer präziserer Theorien, die Entzauberung der Welt, [...] an-
dererseits auch um eine praktische Beherrschung der Wirklichkeit durch
eine immer bessere Abstimmung der Mittel und Zwecke"
2
. So fürchtet
Weber, anders als Durkheim, daß das Individuum in den ,,Kerkern der
Rationalität"
3
zum Gefangenen wird (vgl. Hans van der Loo / Willem
van Reijen 1997).
War der Gegenstand der Diskussion auch derselbe, betrachteten die ver-
schiedenen Denker ihn jedoch aus unterschiedlichen Perspektiven. Aber
in einem waren sie sich einig : Modernisierung wurde als überall glei-
cher, unliniearer und unumkehrbarer Prozeß gesehen.
Besonders Ulrich Beck und Hans van der Loo / Willem van Reijen be-
tonen den paradoxen Charakter von Individualisierung. Ihnen geht es
nicht darum, das `freie' Individuum dem `eingeschränkten' gegenüber
zu stellen. ,,Individualisierung ist ein Zwang, ein paradoxer Zwang al-
lerdings, zur Herstellung, Selbstgestaltung, Selbstinszenierung nicht nur
der eigenen Biographie, sondern auch ihrer Einbindungen und Netzwer-
ke, und dies im Wechsel der Präferenzen und Lebensphasen und unter
dauernder Abstimmung mit anderen und den Vorgaben von Arbeits-
markt, Bildungssystem, Wohlfahrtsstaat etc."
4
.
2
ebd., S.17
3
ebd., S.17
4
Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.) 1994, S.14

Gesellschaft im Übergang. Oder : Grundzüge der Individualisierung
13
Individualisierung darf allerdings nicht als ein Prozeß betrachtet wer-
den, der alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen betrifft. Zwischen
Großstädten, wie München, Hamburg oder Berlin und Kleinstädten, wie
Coesfeld, Dülmen oder Holtwick, sowie zwischen ländlichen und städti-
schen Regionen finden sich deutliche Unterschiede in Bezug auf Le-
bensstil und Familienform. Sind ländliche Regionen noch eher traditio-
nell beeinflußt, konnte sich der moderne Lebensstil in städtische Regio-
nen eher durchsetzen. Es gibt also nicht `die' individualisierte Gesell-
schaft, ,,...so ist je nach Gruppe, Milieu, Region zu prüfen, wie weit
Individualisierungsprozesse - offen oder versteckt - jeweils ausgeprägt
und fortgeschritten sind"
5
(vgl. Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim
(Hrsg.) 1994).
5
ebd., S.16

Gesellschaft im Übergang. Oder : Grundzüge der Individualisierung
14
1.1.1 Tendenzen einer individualisierten Gesellschaft
Der (post-)moderne Mensch lebt nicht mehr in festen, sicheren oder be-
deutungshomogenen Gesellschaftsbezügen. Ambivalente Wertkonstella-
tionen, moderner Pluralismus und Orientierungslosigkeit sind charakte-
ristisch für die heutige Lebenswirklichkeit. Wenngleich es auch nicht
`die' individualisierte Gesellschaft zu geben scheint, wird dieser Teil
des Modernisierungsprozesses immer mehr zu einer Realität im Leben
der Menschen und verdeutlicht, wie sehr der Einzelne auf dem Weg in
eine andere, neue Wirklichkeit ist. Die Geschichte kann nicht mehr um-
geschrieben werden und trotz vielfältiger Problemlagen und Ungerech-
tigkeiten gilt es, die sich entwickelnden Chancen wahrzunehmen.
Dezember 1997, Weihnachten steht vor der Tür. Wieder einmal erliegen
die Menschen dem Konsumrausch. Der materielle Wohlstand wird bis
zu seinen Grenzen strapaziert, man muß ja zeigen was man hat und wer
man ist. Doch es gibt auch andere Stimmen, die schon seit einigen Jah-
ren die Oberfläche durchbrechen. Aus Protest gegen die Ressourcenver-
schwendung rief eine Gruppe kanadischer Werbekritiker zu einem in-
ternationalen ,,...Buy Nothing Day (24-Stunden-Pause vom Konsum-
rausch) auf. Holländer, Schweden, Australier und Neuseeländer feierten
den Einkaufsboykott"
6
, der schon 1996 von Aktivisten aus Großbritan-
nien als ,,No Shop Day"
7
gefordert wurde (vgl. Der Spiegel, Heft Nr.48
/ 24.11.1997).
Der Jubel um den Wohlstand, der mit der industriellen Revolution Ein-
zug hielt, findet hier Kritiker mit einem anderen Naturbewußtsein und
anderen gesellschaftlichen Moralvorstellungen. Das Nebeneinander ver-
schiedener, sich widersprechender Werte tritt hier zutage und ist Zei-
6
Der Spiegel, Heft Nr.48 vom 24.11.1997, S.137

Gesellschaft im Übergang. Oder : Grundzüge der Individualisierung
15
chen postindustrieller Lebenseinstellungen. Wo es dem einen um mate-
riellen Wohlstand geht, betrachtet der andere den Preis für dieses Wohl-
ergehen.
Die freien Menschen der westlichen Welt flüchten sich immer wieder in
ein (Urlaubs-)Leben ohne Verantwortung, so als könnten sie ein so in-
dividualisiertes Dasein nicht länger ertragen. Dies wird am Beispiel
Goa sehr deutlich.
Goa, ehemalige portugiesische Kolonie in Indien, war einst Sammel-
platz von Hippies, die dort ihre Lebensphilosophie verwirklichen woll-
ten. Sie versuchten aus dem System auszubrechen, suchten ein unbe-
stimmtes Anderssein. Doch den späteren `Hippies', Massentouristen aus
aller Welt ,,...ging es nur noch darum, nackt und langhaarig zu sein, frei
und high"
8
(vgl. Der Spiegel, Heft Nr.2 / 5.1.1998).
Die Bemühungen um eine echte Sinnerfahrung und Sinnsuche ging auf
Kosten des Hedonismus der jüngsten Vergangenheit völlig verloren.
Wichtig war nur noch das oberflächliche Gefühl, der zweckrationalen
Realität (s.Kap.1.1.2.2) entronnen zu sein und dabei doch wieder in die
abgesicherte Realität westlicher Heimat zurückkehren zu können. Ange-
fangen mit der Hippie-Generation entstand ein sozioethnologisches No-
vum : ,,Zum erstenmal in der Geschichte sollte ein Drittweltland vom
Massentourismus überrollt werden"
9
.
Als Gipfel der Arroganz scheint die Ausbeutung eines Drittweltlandes
durch reiche Billigtouristen aus den westlichen Industrienationen.
Dennoch zeigt sich auch hier, neben der moralischen Fragwürdigkeit,
daß die Zufriedenheit in den Erstweltländern nicht so weit gediegen ist,
wie der materielle Wohlstand vermuten läßt. Die moderne Gesellschaft
7
ebd., S.137
8
Der Spiegel, Heft Nr.2 vom 5.1.1998, S.85
9
ebd., S.85

Gesellschaft im Übergang. Oder : Grundzüge der Individualisierung
16
scheint an einer Art Lebensverdruß erkrankt zu sein. Eine Zivilisations-
krankheit ?
Das Autonomie und Freiheit gewinnende Individuum scheint sich seiner
Existenz nicht mehr sicher zu sein. Die Frage nach der zunehmenden
Gewalt bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen spitzt sich zu. Die
extremer werdenden Freizeitgestaltungen (Bungee-Springen, Free-
Climbing oder Wildwasser-Rafting) entwickeln sich zur Wohlstands-
droge der zivilisierten Welt (vgl. Der Spiegel 1998, Heft Nr. 27,
29.6.98). Diese ,,...verspricht den Ausbruch aus der Alltagsroutine eines
zwischen einem halben Dutzend Versicherungspolicen und dem Berufs-
einerlei vorgeplanten Lebens"
10
. Die geringere Bedeutung des Einzel-
nen, im Hinblick auf die entstehenden anonymen Organisationen, seine
Suche nach Sinn, spiegelt den Erfahrungsverlust seiner Existenz in ei-
ner immer unwirklicheren Realität (vgl. Paul Virilio 1997)
Alles scheint zu zerbrechen, sich aufzulösen oder seinen Sinnbezug zu
verlieren. Aber nur dort, wo bestehende Systeme und Lebensweisen ihre
Bedeutung verlieren, gibt es eine Möglichkeit neue
Wirklichkeitsrealitäten zu schaffen und kreativ mit zu gestalten. Die
Erosion der Werte, die Unzufriedenheit der Menschen in der westlichen
Zivilisation und besonders die Pluralisierung der Gesellschaft,
offenbaren Potentiale gesellschaftlichen Wandels, die nicht übersehen
werden sollten, ,,...zumal unser Sinnerleben und unsere
Handlungsorientierungen grundlegend von Werten abhängen und der
Wandel dieser zentralen Lebensvorstellungen neben großen Gefahren
auch bedeutende Chancen eröffnet."
11
. Vielleicht liegt gerade hier die
Chance des Individuums und der Gesellschaft sich neu zu definieren,
sich neu auszuprobieren und zu erforschen.
10
Der Spiegel, Heft Nr.27 vom 29.6.1998, S.91

Gesellschaft im Übergang. Oder : Grundzüge der Individualisierung
17
Trotz der zumeist einhelligen Meinung über die Ursachen und Realitä-
ten, gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher und teilweise kontroverser
Diskussionen über die damit einhergehenden Auswirkungen gesell-
schaftlicher Individualisierung. Bevorzugt in den Sozialwissenschaften
wird das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft immer wie-
der zu erklären und zu bewerten versucht. Die Menschen sind im Auf-
bruch; die Frage ist nur : Wohin ?
1.1.2 Idealtypisches Dreiecksmodell
In Anlehnung an das von Talcott Parsons (1902-1979) entwickelte ide-
altypische Modell zur Beschreibung der Modernisierung (vgl. Hans van
der Loo / Willem van Reijen 1997, S.30-36) verweist folgendes konzep-
tionelles Schema auf die wichtigsten Grundstrukturen der Individuali-
sierung.
Parsons betrachtet in seinem Modell den Prozeß der Modernisierung aus
vier verschiedene Perspektiven : Der strukturelle Ebene (Differenzie-
rung), der kulturelle Ebene (Rationalisierung), der personelle Ebene
(Individualisierung) und der biologische Ebene (Domestizierung). Indi-
vidualisierung wird hier als ein wichtiger Bestandteil des Modernisie-
rungsprozesses deutlich. Wenngleich alle vier Dimensionen den Men-
schen beeinflussen, können doch Differenzierung und Rationalisierung
als Wurzeln der Individualisierung betrachtet werden. Domestizierung
erscheint in diesem Kontext nicht als Bedingung für Individualisierung,
sondern wirkt im übergreifenden Prozeß der Modernisierung auf das
Individuum ein. Besonders hinsichtlich der Differenzierungs- und Rati-
11
Karl-Heinz Hillmann 1989, Vorwort

Gesellschaft im Übergang. Oder : Grundzüge der Individualisierung
18
onalisierungsprozesse ist Domestizierung zu betonen und wirkt so mit-
telbar auf den Individualisierungsprozeß ein.
Ausdrücklich sei hier betont, daß Domestizierung im folgenden Dreiecksmodell
fehlt, weil es nur eine indirekte, auf den Individualisierungsprozeß einwirkende
Grundbedingung von Modernisierung ist.
Das Dreiecksmodell fokusiert die unmittelbaren, sozialwissenschaftlich
besonders relevanten Ebenen der Kultur, Struktur und Person. Schon
van der Loo/van Reijen betonen, daß ,,...Individualisierung sich nicht
losgelöst von den Dimensionen der Differenzierung und Rationalisie-
rung"
12
verstehen läßt.
Im folgenden werden Differenzierung und Rationalisierung erläutert,
die als Wurzel, aber auch als ein, sich noch immer gegenseitig beein-
flussender, Prozeß im Zusammenhang mit Individualisierung zu sehen
sind.
Individualisierung (Person)
Mensch
Differenzierung Rationalisierung
(Struktur) (Kultur)

Gesellschaft im Übergang. Oder : Grundzüge der Individualisierung
19
1.1.2.1 Strukturelle Dimension - Differenzierung
Der Prozeß der Individualisierung läßt sich nur hinreichend verstehen,
wenn der, durch Modernisierung ausgelöste, Prozeß der Differenzierung
näher betrachtet wird. ,,Differenzierung bezieht sich auf die Spaltung
eines ursprünglich Ganzen in Teile mit eigenem Charakter und eigener
Zusammensetzung"
13
.
Parsons `Theorie des Subsysteme' definiert eine Gesellschaft als ein
zusammenhängendes Ganzes, das sich in verschiedene Subsysteme un-
tergliedert (vgl. Walter Kerber (Hrsg.) 1986). Neben dem ökonomi-
schen, findet man ein gesellschaftliches, politisches, als auch kulturel-
les Subsystem, welche die verschiedenen Ebenen der Gesellschaft klar
strukturieren. Hier werden für alle Gesellschaftsmitglieder Normen,
Regeln, Werte, Bedeutungen, Rollenerwartungen etc. definiert. Den
Subsystemen übergeordnet steht eine, nach Emile Durkheim, notwendi-
ge ,,...überindividuelle Macht, die Grenzen aufrichtet..."
14
. In traditio-
nellen Gesellschaften übernahmen Institutionen, wie Kirche, Familie
oder Staat, diese Aufgabe. In modernen Gesellschaften wurden diese
Institutionen immer mehr `entmachtet' und der Mensch rückte in den
Mittelpunkt des Interesses. Wertwandel (Kap.1.2), Pluralismus
(Kap.1.2.4), Säkularisierung (Kap.1.1.2.2) und Enttraditionalisierung,
die als Auslöser dieser Entwicklung gelten, prägten die moderne Gesell-
schaft.
Aus soziologischer Sicht ist Differenzierung vor allem als eine Teilung
der Gesellschaft zu verstehen, die in verschiedene peer groups (Bezugs-
gruppen) zerfällt. In Abgrenzung zu Parsons und Durkheim verfügen
diese Bezugsgruppen aber nicht mehr über eine überindividuelle, insti-
tutionelle Macht, sondern jede peer group kreiert eigene Werte, Nor-
12
Hans van der Loo / Willem van Reijen 1997, S.186
13
ebd., S.33
14
ebd., S.98

Gesellschaft im Übergang. Oder : Grundzüge der Individualisierung
20
men, Rollenerwartungen etc. und wird damit zur Primärgruppe für den
Menschen. Peer groups können die Familie, die Clique, der Sportverein
oder auch andere Gruppen sein, die den Menschen wichtige Lebensori-
entierungen, Lebenssinn oder auch Selbstbestätigung und Selbstbewußt-
sein vermitteln. Sie dienen insbesondere zur ,,...Stabilisierung des indi-
viduellen Verhaltens..."
15
und zur Aufrechterhaltung persönlichen Sinn-
reservoirs (vgl. Hans van der Loo / Willem van Reijen 1997).
Durch die Zersplitterung der Gesellschaft in peer groups und den damit
verbundenen Verlust einheitlicher, schichtspezifischer Lebenskonzepte
haben sich besonders die Beziehungsformen zwischen den Menschen
verändert. Zum einen hat sich das System sozialer Netzwerke immer
mehr ausgeweitet, ,,unsere sozialen Beziehungen haben, mit anderen
Worten, einen Prozeß der Maßstabsvergrößerung durchlaufen"
16
. In
vormodernen Gesellschaften reichte das traditionelle Beziehungsnetz
kaum über das eigene kleine Dorf oder den eigenen Hof hinaus. Ver-
wandte, Nachbarn und Freunde lebten normalerweise in einem engen
geographischen Raum beieinander. Die Tatsache, daß das Prinzip der
gemeinsamen familiären Arbeitsgemeinschaft normale Lebensordnung
war, bestätigt diese Vermutung. In modernen Gesellschaften hegen wir
Kontakte, mit Hilfe der Technik (Automobil, Eisenbahn etc.), zu weit
entfernt lebenden Menschen. Ebenso hat das Auftreten übergeordneter
Organisationen zur Folge, daß wir wesentlich distanzierter mit Men-
schen interagieren. Wir haben das geschützte, emotionale Umfeld teil-
weise verlassen und treten in einen oberflächlichen sozialen Kontakt
z.B. mit Beamten oder Computern.
Zum anderen sind die sozialen Netzwerke immer komplexer geworden.
Bedingt durch den Differenzierungsprozeß treten wir mit immer mehr
Menschen in den verschiedensten Gemeinschaften in Kontakt. ,,Heutzu-
15
ebd., S.101
16
ebd., S.90

Gesellschaft im Übergang. Oder : Grundzüge der Individualisierung
21
tage hat man es mit einer viel größeren Zahl von Mitmenschen in sehr
verschiedenen Situationen zu tun"
17
.
Als drittes Merkmal ist das moderne soziale Netzwerk einer größeren,
sich verändernden Dynamik unterstellt. Sobald sich das Lebenssystem
ändert (z.B. durch Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall etc.) ,,...wachsen,
schrumpfen oder verändern sich [soziale Netzwerke] inhaltlich"
18
.
Der Prozeß der Differenzierung ist also von einer höheren Spezialisie-
rung gekennzeichnet, wobei die unterschiedlichen Gruppierungen mit-
einander verbundenen Aktivitäten nachgehen.
Dementsprechend werden die Menschen immer abhängiger voneinander.
Das Brot, daß in traditionellen Gesellschaften noch selbst gebacken
wurde, wird heute beim Bäcker oder im Supermarkt gekauft. Ebenso
verhält es sich mit allen Gebrauchs- und Luxusgütern der westlichen
Welt. Jeder einzelne ist nur noch ein Rad in der großen Produktionsma-
schinerie, ,,...deren Einzelteile auf diese oder jene Weise miteinander
verbunden sind"
19
. Hier stellt sich die Frage, was die Gesellschaft noch
zusammenhält, welche Art von Solidarität in modernen Gesellschaften
nötig ist, um die Gesellschaft als solche noch zu legitimieren.
Emile Durkheim unterschied traditionelle von modernen Gesellschaften
durch die Art der dort vorherrschenden Solidaritätsform. Traditionelle
Gesellschaften sind gekennzeichnet durch eine geringe Arbeitsteilung
und eine relativ einfache Sozialstruktur. Das Leben gestalten sich nach
traditionellen Mustern, nach festen gesellschaftlichen Regeln und Nor-
men und läßt keinen großen Spielraum bei der Bestimmung sozialer Be-
ziehungen. Durkheim charakterisierte sie als automatisch oder mecha-
nisch und leitete daher seine These der ,,...mechanischen Solidarität..."
20
ab. Moderne Gesellschaften hingegen zeichnen sich durch eine
17
ebd., S.90
18
ebd., S.91
19
ebd., S.92
20
ebd., S.94

Gesellschaft im Übergang. Oder : Grundzüge der Individualisierung
22
,,...organische Solidarität..."
21
aus (vgl. Hans van der Loo / Willem van
Reijen 1997). Durkheim verglich diese Gesellschaftsform mit einem
biologischen Organismus, in dem alle Teile zusammenarbeiten und je-
der seinen festen Platz hat. Gegenüber traditionellen Gesellschaften
werden die Menschen der modernen Gesellschaft ,,...von immer mehr
Menschen immer weniger abhängig"
22
. Die andere Seite der Medaille ist
die größer werdende Autonomie des Einzelnen und die gewonnene per-
sönliche Freiheit.
Die traditionellen Sozialformen, wie Klasse, Schicht, Beruf, Familie
und Ehe, werden im Prozeß der Individualisierung aufgebrochen. Seit
der industriellen Revolution und der damit aufgekommenen Industriege-
sellschaft hat sich die Lage der Arbeiterschaft beträchtlich verbessert
,,...(materieller Wohlstand, Eröffnung von Bildungschancen, gewerk-
schaftliche und politische Organisierung und damit erkämpfte Rechte
und soziale Sicherungen)..."
23
. Die Folge ist eine Angleichung an das
Bürgertum und ein damit verbundenes Verblassen ständischer Innen-
wirklichkeit sozialer Klassen (vgl. Ulrich Beck 1986). Arbeiterklasse
und Bürgertum treffen sich auf dem Gebiet des Arbeitsmarktes und
kämpfen mit den gleichen Problemen : Arbeitslosigkeit, Dequalifizie-
rung etc. Es werden also grundlegende Merkmale der Klassengesell-
schaft generalisiert und schichtübergreifend problematisiert. Damit hebt
sich eine echte Klassengesellschaft auf, ,,...womit Grundlage und Be-
zugspunkte für den unendlichen Austausch der Argumente entfallen, ob
das Proletariat `verbürgerlicht' oder Angestellte `proletarisiert' wer-
den"
24
. Bleibt allerdings die Frage, ob das der Anfang einer neuen Klas-
21
ebd., S.96
22
ebd., S.97
23
Ulrich Beck 1986, S.53
24
ebd., S.53

Gesellschaft im Übergang. Oder : Grundzüge der Individualisierung
23
senbildung ist, die sich in Arm und Reich, oder Arbeitnehmer und Ar-
beitsloser äußert.
Seit den späten sechziger, beginnenden siebziger Jahren, ist der `Krieg
um die Familie' entbrannt. ,,Manche Wissenschaftler sehen massive
Umbrüche, vielleicht sogar das Ende der traditionellen Familie; andere
wenden sich gegen das, was sie das dauernde Krisengerede nennen und
behaupten : die Familie lebt, die Zukunft gehört der Familie; die dritten
bewegen sich irgendwo dazwischen, sprechen vorzugsweise von Plura-
lisierungstendenzen"
25
.
Diese Diskussion wurde durch das Aufbrechen traditioneller Strukturen
der Familien in der industriellen Gesellschaft möglich. Bei vorindus-
triellen Familien herrschte das Prinzip der Arbeits- und Wirtschaftsge-
meinschaft. Im Vordergrund stand die gegenseitige Abhängigkeit bei
gemeinsamer Güterproduktion. Jedes Familienmitglied hatte einen fes-
ten Aufgabenbereich, die eng aufeinander bezogen waren. Es ging um
den Erhalt des gemeinsamen Hofes oder Handwerkbetriebes. Der durch
die Industrialisierung errungene materielle Wohlstand eröffnete den
Weg für die Entwicklung von der `Notgemeinschaft' zur `Wahlgemein-
schaft'. Dort wo die materielle Sicherheit prinzipiell gegeben war, rück-
ten andere Kriterien in den Vordergrund. Die traditionsverhaftete Wirt-
schaftsgemeinschaft wurde von der Liebesbeziehung weitgehend ver-
drängt. Gefühle und Emotionen bestimmten nun die Partnerwahl (vgl.
Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.) 1994).
Dieser Entwicklung entsprechend wurde der Einzelne mehr ins Zentrum
gerückt. Der aufkommende Sozialstaat sicherte das Individuum auf ei-
ner weiteren Ebene ab. Altersrente, diverse Versicherungen, Sozialhilfe,
Wohngeld etc. eröffneten die Möglichkeit, sich von der Familie zu lö-
sen und in `Eigenregie' sein Leben zu bestimmen. ,,Die einzelnen Fami-
25
Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.) 1994, S.115

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1998
ISBN (eBook)
9783832450526
ISBN (Paperback)
9783838650524
DOI
10.3239/9783832450526
Dateigröße
682 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Fachhochschule Münster – Sozialwesen
Erscheinungsdatum
2002 (Februar)
Note
1,0
Schlagworte
individualisierung werte soziologie pluralität postmoderne
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Titel: "Schoepferische Zerstörung"
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