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'...aber wünschen kann ich mir ein Kind doch trotzdem' - Zu Sexualität und Elternschaft bei geistig behinderten Menschen

Mit einer Konzeptentwicklung für Unterstützungsmöglichkeiten im Wohnstättenbereich

©2001 Diplomarbeit 176 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Gang der Untersuchung:
Die Arbeit befasst sich zu Beginn mit grundlegenden Definitionsansätzen zu den Begriffen Sexualität und Behinderung, untersucht gesellschaftliche Fremdbestimmung der Sexualität von Menschen mit geistiger Behinderung und beschreibt rechtliche, gesellschaftliche und pädagogische Aspekte zu Kinderwunsch und Elternschaft. In einem Anhang wird ein rund 40-seitiges Grundlagenkonzept entworfen, durch das Wohnstätten, in denen Menschen mit geistiger Behinderung leben, die sich ein Kind wünschen bzw. bereits eines erwarten / bekommen, Informationen zur Rechtslage, Hinweise auf weiterführende Literatur Konzeptentwürfe anderer Einrichtungen usw. erhalten.

Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
Anstelle eines Vorworts2
1.Inhaltsangabe3
2.Einleitung7
2.1Persönliche Motivation7
2.2Zu dieser Arbeit9
3.Sexualität13
3.1Allgemeine Begriffsunsicherheit früher.13
3.2.und heute14
3.3Sexualität mit dem Aspekt „Behinderung“16
3.4Herkunft des Begriffs „Sexualität“16
3.5„Sexualität“ im Sprachschatz17
3.6Kulturelle Prägung des Begriffs18
3.7Geläufige Bedeutungszusammenhänge19
3.8Motivationsansätze21
3.9Das psychohydraulische Modell.21
3.10und die Kritik daran22
3.11Das „Zwei-Komponenten“-Modell22
3.12Vergleich mit menschlicher Sprache24
3.13Sinnaspekte der Sexualität26
3.14Sexualerziehung27
3.15Sexualerziehung heute29
3.16Sexualerziehung durch Vorbildfunktion31
3.17Kirche, Sexualität, Moral32
3.18Normenpluralität34
4.Geistige Behinderung35
4.1Auch hier: Begriffsunsicherheit35
4.2Historischer Hintergrund36
4.3Das NS-Euthanasieprogramm.37
4.4und Auswirkungen bis heute40
4.5Geistige Behinderung und Intelligenz42
4.6Unterschiedliche Häufigkeitsangaben43
4.7Ursachendefinition44
4.8Impairment, disability, handicap45
4.9Defizitorientierung47
4.10Paradigmenwechsel48
4.11Das „Normalisierungsprinzip“ als Beginn48
4.12Activities and participation51
4.13Entscheidung für den Begriff52
4.14Charakteränderungen neuer Begriffe53
4.15Ganzheitliches Menschenbild54
5.Sexualität und geistige Behinderung55
5.1UNO-Deklaration, Grundgesetz und Öffentlichkeit55
5.2Dramatisierung: Der Wüstling56
5.3Fehldeutung: Der Distanzlose57
5.4Verdrängung: Das unschuldige Kind58
5.5Altersgemäße körperliche Entwicklung60
5.6Verminderte sexuelle Aktivität?60
5.7Dreiteilung des Erwachsenwerdens63
5.8Ausbleiben der sozialen Reife64
5.9Sexualerziehung bei geistig behinderten Menschen66
5.10Notwendigkeit der Sexualerziehung […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsangabe

Anstelle eines Vorworts

1. Inhaltsangabe

2. Einleitung
2.1. Persönliche Motivation
2.2. Zu dieser Arbeit

3. Sexualität
3.1. Allgemeine Begriffsunsicherheit früher...
3.2. ...und heute
3.3. Sexualität mit dem Aspekt „Behinderung“
3.4. Herkunft des Begriffs „Sexualität“
3.5. „Sexualität“ im Sprachschatz
3.6. Kulturelle Prägung des Begriffs
3.7. Geläufige Bedeutungszusammenhänge
3.8. Motivationsansätze
3.9. Das psychohydraulische Modell...
3.10. ... und die Kritik daran
3.11. Das „Zwei-Komponenten“-Modell
3.12. Vergleich mit menschlicher Sprache
3.13. Sinnaspekte der Sexualität
3.14. Sexualerziehung
3.15. Sexualerziehung heute
3.16. Sexualerziehung durch Vorbildfunktion
3.17. Kirche, Sexualität, Moral
3.18. Normenpluralität

4. Geistige Behinderung
4.1. Auch hier: Begriffsunsicherheit
4.2. Historischer Hintergrund
4.3. Das NS-Euthanasieprogramm...
4.4. ... und Auswirkungen bis heute
4.5. Geistige Behinderung und Intelligenz
4.6. Unterschiedliche Häufigkeitsangaben
4.7. Ursachendefinition
4.8. Impairment, disability, handicap
4.9. Defizitorientierung
4.10. Paradigmenwechsel
4.11. Das „Normalisierungsprinzip“ als Beginn
4.12. Activities and participation
4.13. Entscheidung für den Begriff
4.14. Charakteränderungen neuer Begriffe
4.15. Ganzheitliches Menschenbild

5. Sexualität und geistige Behinderung
5.1. UNO-Deklaration, Grundgesetz und Öffentlichkeit
5.2. Dramatisierung: Der Wüstling
5.3. Fehldeutung: Der Distanzlose
5.4. Verdrängung: Das unschuldige Kind
5.5. Altersgemäße körperliche Entwicklung
5.6. Verminderte sexuelle Aktivität?
5.7. Dreiteilung des Erwachsenwerdens
5.8. Ausbleiben der sozialen Reife
5.9. Sexualerziehung bei geistig behinderten Menschen
5.10. Notwendigkeit der Sexualerziehung und deren Mangel
5.11. Keine besondere Sexualität

6. Sexualität, geistige Behinderung, Gesellschaft: Fremdbestimmung
6.1. Selbstbefriedigung
6.2. Homosexualität
6.3. Empfängnisverhütung
6.4. Sterilisation
6.5. Schwangerschaftsabbruch
6.6. Sexuelle Gewalt und Ausbeutung
6.7. Aids
6.8. Partnerschaft
6.9. Beschützte Ehe und Treuegelöbnis
6.10. Rechtliche Einschränkungen

7. Elternschaft
7.1. Kinderwunsch
7.2. Kinderwunsch in der Fachdiskussion
7.3. Rechtliche Aspekte zum Kinderwunsch
7.4. Das Argument der erblichen Belastung
7.5. Befähigung zur Elternschaft
7.6. Das Forschungsprojekt der Universität Bremen
7.7. Wohnformen
7.8. Ambulant Betreutes Wohnen
7.9. Mutter-und-Kind-Heime
7.10. Vergleich von Ambulant Betreuten Wohnformen und Heimen
7.11. Die Kinder
7.12. Trennung des Kindes von den Eltern
7.13. Bewährungsdruck

8. Eigene Recherche

9. Schlusswort

10. Anhang 1
10.1. Literatur
10.2. Vorliegende Konzepte
10.3. Abbildungsverzeichnis
10.4. Angeschriebene Einrichtungen in Bochum
10.5. Angeschriebene Einrichtungen im Kreis Recklinghausen
10.6. Weitere angeschriebene Einrichtungen im Bereich des LWL
10.7. Fachhochschulen und Universitäten
10.8. Weitere Adressen
10.9. Formbrief an Einrichtungen

11. Anhang 2
Entwurf für ein Grundlagenkonzept
1. Einleitung
2. Notwendigkeit der Begleitung
3. Theoretischer Hintergrund für mögliche Arbeitsmethoden
4. Gründe für Kinderwunsch und Schwangerschaft
5. Vorbereitung auf ein Kind
6. Elternschaft möglich
7. Rechtliche Ausgangssituation - Vor und während Schwangerschaft
7.1. Verhütungsmittel
7.2. Sterilisation
7.3. Abtreibung
7.4. Schwangerschaft und Schadensersatzanspruch
8. Rechtliche Ausgangssituation - Nach der Geburt
8.1. Schutz der Familie
8.2. Beistandschaft
8.3. Trennung
9. Finanzierung
10. Leistungen bei Schwangerschaft und Elternschaft
11. Wohnformen
11.1. Wohnstätte
11.2. Ambulant Betreutes Wohnen
11.3. Eltern-und-Kind-Heime
12. Mitarbeitende
13. Angebote und Aufgaben
13.1. ... in der Begleitung der Eltern:
13.2. ...in der Förderung des Kindes:
14. Mögliche Probleme
15. Beendigung des Hilfeangebots
16. Literatur
17. Adressen
17.1. Adressen von Beratungsstellen
17.2. Ambulante Hilfen, Familienunterstützende Dienste und
17.3. Mutter / Eltern-Kind-Einrichtungen
17.4. Wohlfahrtsverbände und Träger
17.5. Links
18. Förderliche und hemmende Faktoren des Zusammenlebens

2. Einleitung

2.1. Persönliche Motivation

Bis zum April des vergangenen Jahres arbeitete ich im Kreis Recklinghausen in einer Lebenshilfe-Wohnstätte für 18 Menschen mit geistiger Behinderung. Schon seit etwa 1997 plante der dortige Ortsverband der Lebenshilfe in Zusammenarbeit mit einer katholischen Kirchengemeinde den Bau bzw. die Anmietung von Sozialwohnungen, die als Außenwohngruppen von zwei höchstens je sechsköpfigen Gruppen geistig behinderter Erwachsener bezogen werden sollten.

Zu einer dieser Gruppen zählte auch ein Paar, Nicole und Jochen[1], das miteinander verlobt war und in der Wohnstätte bereits seit längerem gemeinsam in einem Appartement im Dachgeschoss wohnte. Eine feste Bezugsperson aus unserem Team betreute das Paar intensiv und bereitete es auf den absehbaren Auszug und den Schritt zum „normalen Leben“ vor; hauswirtschaftliche Fertigkeiten und der überlegte Umgang mit Geld wurden ebenso intensiv eingeübt wie das Nutzen von öffentlichen Verkehrsmitteln oder das Konfliktlösen in Dreier- und Zweiergesprächen.

Die Schwangerschaft einer Bekannten Nicoles und schließlich die Geburt des Kindes ließen in dem Paar Gedanken und Wünsche entstehen, die weder die Eltern noch wir im Team wahrnahmen, bis sie schließlich deutlich formuliert an die Bezugsperson der beiden herangetragen wurden: sie wünschten sich ein eigenes Kind.

Gleich in der nächsten Teamsitzung brach eine ungeahnte Unruhe aus: Wie werden die Eltern reagieren? Gehört eine Schwangerschaftsvermeidung zur Aufsichtspflicht? Welche rechtlichen Konsequenzen drohen der Einrichtung, wenn Nicole „heimlich“ die Pille absetzt – oder gar schon abgesetzt hat? Welche Betreuungs- und Finanzierungsprobleme könnte es geben? Sind beide charakterlich überhaupt in der Lage, ein Kind großzuziehen? Oder sehen sie in einem Kind gewissermaßen nur ein Statussymbol, ein Zeichen von Normalität, um damit andere Paare im Haus auszustechen? Würden sie bereits nach kurzer Zeit das Kind als unerträgliche Belastung empfinden und vernachlässigen? Wer kümmerte sich um das Kind, wenn es erst die Behinderungen seiner Eltern wahrnähme[2] ? Und könnten beide auch ein jugendliches Kind erziehen?

Abgesehen davon, dass der spürbare Grundtenor auch in den folgenden Teamsitzungen deutlich ein ablehnender war und man schon aus diesen aufkommenden Fragen heraushörte, dass sich niemand Gedanken zu machen schien, was für ein Kind spräche, war ich etwas irritiert, wie sogar die Bezugsperson und die Hausleitung von diesem Verlangen nach einem Kind überrascht wurden. Wie sehr zudem die Diskussion unterschwellig von unseren eigenen Wertmaßstäben und einem alten, gewohnten Erzieher-Klienten-Machtgefälle mit den Bewohnern als „Pflegebefohlenen“ geprägt war, wurde mir erst viel später bewusst[3].

Dieser intime und persönliche, hoffnungsvolle und sehr menschliche Kinderwunsch eines Paares, das nach Erikson mit Anfang 30 also in der altersentsprechenden Phase der „Generativität“ stand, ein Wunsch, der bei „normalen Menschen“ ohne Behinderung eigentlich immer ein Grund zu ungetrübter Freude ist, sprengte sowohl den Erfahrungsrahmen wie auch alle Erwartungen einer Gruppe von professionellen Behindertenpädagogen und machte offenbar, dass selbst bei uns (ich nehme mich da nicht aus) das hehre Erziehungsideal vom „Normalmachen unserer Behinderten“ bei weitem nicht alle Lebensbereiche so abdeckte, wie wir es uns selbst anscheinend eingeredet hatten.

Wir hatten bis dahin wohl auch keine Überlegungen in der Richtung für notwendig gehalten, dass „unsere“ geistig behinderten Erwachsenen je so normal leben wollen könnten, dass sie auch das Gründen einer eigenen Familie anstreben würden. Sie sind erwachsen, na gut, und können sich auch verloben, und auch geistig behinderte Ehepaare soll es ja geben – aber alles jenseits dieses Horizonts war gedankliche terra incognita.

Hilflosigkeit machte sich breit. Niemand kannte geistig behinderte Eltern oder hatte auch nur konkret von welchen gehört. Niemand wusste spontan von Einrichtungen, die uns hätten beraten können. Etwas ruhmlos zogen wir uns dadurch aus der Affäre, dass wir uns auf unsere rechtlichen Einschränkungen beriefen und die Entscheidung an die Eltern (als die gesetzlichen Betreuer) delegierten, ohne zuvor klar Stellung zu beziehen und unterstützend zu wirken.

Allerdings hatte diese Frage mein Interesse gewonnen: Warum wurde eine Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung so leidenschaftlich diskutiert und was genau sprach – gesellschaftlich und im Einzelfall – dafür oder dagegen? Das Normalisierungsprinzip? Der Wille, durch eine solche Elternschaft die Gesellschaft zu mehr Toleranz zu erziehen? Oder auf der anderen Seite eine unmögliche Finanzierbarkeit des besonderen pädagogischen Hilfebedarfs? Ethische Fragen? Vielleicht schlicht ein unreflektiertes „Was nie war, das darf nicht sein“ mit tiefsitzender Angst vor Vererbung kranker Gene? Und warum hatte niemand einen solchen „Notfall“ vorhergesehen und sich professionell und frühzeitig um Kontakte bemüht?

2.2. Zu dieser Arbeit

Neben der theoretischen Vorarbeit soll das Thema dieser Arbeit nun sein, die durch eine Umfrage gesammelten Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten für Eltern mit geistiger Behinderung zu einer Grundlage für ein umfangreiches Hilfekonzept zusammenzustellen, um darauf aufbauend zukünftig bei Pädagogen in Wohnstätten ähnliche kopflose Reaktionen wie in unserem damaligen Team vermeiden zu helfen. Nicht zuletzt durch die Untersuchung von Pixa-Kettner über die Lebensbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung und ihren Kindern[4] wird deutlich, dass die Diskussion über eine Möglichkeit oder Unmöglichkeit solcher Elternschaften bereits von den tatsächlichen Entwicklungen eingeholt und die Zahl dieser Elternschaften so groß ist, „dass die Frage... nicht länger auf der Ebene engagierter Einzelfallhilfe zu lösen ist.“[5]

Um dieses Konzept praktikabel und überschaubar zu halten und innerhalb des Zeitrahmens realisieren zu können, wollte ich mich ursprünglich exemplarisch auf die Unterstützungsmöglichkeiten der Stadt Bochum und des Kreises Recklinghausen beschränken. Es stellte sich aber durch das „Feed back“ auf meine Anfragen und durch mehrere Gespräche mit Beratungsstellen schnell heraus, dass es in dieser engen Begrenzung keine speziellen Einrichtungen gibt, die sich ausschließlich mit den besonderen Problemen beschäftigen, die sich durch eine Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung ergeben. So habe ich über Stadt und Kreis hinaus im Zuständigkeitsbereich des überörtlichen Sozialhilfeträgers, also des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL), auch alle Wohnstätten mit mehr als 100 Plätzen angeschrieben, um damit eine möglichst große Personengruppe anzusprechen[6] und eventuell von deren Einsichten und Kontakten zu erfahren, und mir auch Konzeptionen von Mutter-Kind-Einrichtungen und Familienunterstützenden Diensten in anderen Bundesländern schicken lassen. Weiteres in Kapitel 8.

Der Kommunalverband LWL mit Sitz in Münster setzt sich aus 18 Kreisen und neun kreisfreien Städten zusammen und nimmt schwerpunktmäßig Aufgaben in den Bereichen Soziales, Gesundheit, Jugend, Straße und Kultur wahr, die aus finanziellen Gründen oder wegen ihrer Besonderheit nicht von jeder Stadt oder jedem Kreis erfüllt werden. Neben dem LWL gibt es in Nordrhein-Westfalen den Landschaftsverband Rheinland (LVR) mit Sitz in Köln, der im Rheinland die gleichen Aufgaben wahrnimmt wie der LWL in Westfalen[7].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Übersichtskarte LWL; Quelle: www.muenster.de/lwl/, Stand: 10. April 2001

Zum Kreis Recklinghausen gehören zehn Städte (Castrop-Rauxel, Datteln, Dorsten, Gladbeck, Haltern, Herten, Marl, Oer-Erkenschwick, Recklinghausen und Waltrop), er bildet mit 660.000 Einwohnern den bevölkerungsreichsten Kreis der Bundesrepublik. Nach Angaben der Kreisverwaltung[8] gibt es im Kreisgebiet zur Zeit neben sechs Frühförderstellen, neun Werkstätten und anderen Einrichtungen der Behindertenhilfe auch 24 Wohnstätten und zahlreiche Außenwohngruppen. In Bochum leben knapp 400.000 Menschen, die Stadt verfügt ebenfalls über ein breites Angebot an Einrichtungen der Behindertenhilfe, unter anderem über drei Werkstätten und 16 Wohnstätten mit Außenwohngruppen in verschiedener Trägerschaft.

Das Konzept im Anhang dieser Arbeit soll mit kurzen Zusammenfassungen über die aktuelle Rechtslage zum Thema informieren und neben Hinweisen zu grundlegender sexualpädagogischer und weiterführender Literatur vor allem Kontaktadressen von Einrichtungen und Links zu Ansprechpartnern enthalten, die mit der Thematik vertraut sind oder in irgendeiner Weise mit ihr zu tun haben.

Einen großen Raum nimmt die theoretische Vorarbeit in Anspruch, in der unter anderem in der aktuellen Literatur gängige Definitionsansätze zu „Sexualität“, „Behinderung“ und „Sexualität bei Menschen mit geistiger Behinderung“ beschrieben werden. Das Verständnis dieser Begriffe ist auffallend uneinheitlich, weswegen mir das Schaffen einer nachvollziehbaren Grundlage sehr wichtig erscheint. Gerade für den Begriff der „Sexualität“ existieren verschiedene Theorieansätze, die es zu berücksichtigen gilt, denn „je nach sexualtheoretischem Blickwinkel wird auch die Sexualität behinderter Menschen anders eingeschätzt“[9], was natürlich auch Auswirkung auf die Beurteilung einer Elternschaft dieser Personengruppe hat. Ich habe mich hierbei auf mehrere Ansätze konzentriert, die vor allem im pädagogischen Bereich diskutiert werden.

Als überaus interessant, spannend, neu und überraschend informativ gestaltete sich für mich die Arbeit mit dem Internet; im Anhang findet sich dementsprechend eine Liste mit verschiedenen Links, auf die ich während des Erstellens dieser Arbeit gestoßen bin. Empfehlenswert ist vor allem die „BehindertenIntegration-Dokumentation“ („ bidok “) des Instituts für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck (http://bidok.uibk.ac.at/), deren „Hauptaufgabe... die Aufarbeitung fachspezifischer Artikel im Bereich integrativer Pädagogik in einer Internet-Volltextbibliothek [ist]. Die virtuelle Bibliothek ist insofern einzigartig in ihrem Fachbereich, da bidok vollständige Texte (und nicht nur Titel oder Teilauszüge) im Internet zur Verfügung stellt. Das Angebot reicht über eine klassische Datenbank hinaus, indem netzwerkartige Verweisstrukturen, Empfehlungen sowie kritische Kommentare einen wichtigen, inhaltlichen Bestandteil der Dokumentations-Arbeit darstellen.“[10]

Die CD-Rom- und Diskettenausführung dieser Arbeit ist ein „aktives Dokument“, das heißt, dass zum Beispiel eine Zeile im Inhaltsverzeichnis angeklickt werden kann und der Cursor direkt zu dem gewünschten Kapitel springt, wodurch sich umständliches Scrollen erübrigt. Die Hyperlinks (an der blauen Schrift zu erkennen) sind alle aktivierbar und ermöglichen weiterführende Lektüre im Internet.

Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass ich, allein um den Lesefluss zu vereinfachen, in dieser Arbeit auf Schreibweisen wie „Erzieherinnen und Erzieher“ oder „PädagogInnen“ weitestgehend verzichtet und nach Möglichkeit auf geschlechtsneutrale Ausdrücke zurückgegriffen habe. Dass, wie Andrea Friske beispielsweise meint, Literatur „fast ausschließlich durch eine männerorientierte Sprache geprägt“ ist, kann und will ich an dieser Stelle nicht bestreiten, trotzdem ist die Schreibweise in dieser Arbeit mit keiner weiteren inhaltlichen Aussage verknüpft.[11]

Der Kinderwunsch des oben beschriebenen Paares verschwand natürlich nicht plötzlich aus der Welt. Nachdem Jochens Mutter davon erfuhr, trieb sie ihm übers Wochenende in einem Mutter-Sohn-Gespräch diese „Flausen!“ (Zitat der Mutter) recht schnell aus, zudem leistete ihr die Bezugsperson in der Wohnstätte Schützenhilfe, indem sie Jochen die finanziellen Belastungen aufzeigte (Geldmangel war für Jochen schon häufiger ein verständliches Argument).

Wie der gerichtliche Betreuer Nicoles reagierte, ist mir nicht genau bekannt, allerdings schien Nicole sich uns gegenüber nach einem Gespräch mit ihm nicht mehr zu diesem Thema äußern zu wollen.

Der Kinderwunsch war nicht nur aufgeschoben. Als sich einige Zeit später bei Nicole eine Unverträglichkeit der Pille manifestierte, wurde bei Jochen durch ein Spermiogramm dessen Infertilität festgestellt. Wie beide diese Diagnose aufnahmen, kann ich nicht sagen.

Der Umzug in die Außenwohngruppen wird wahrscheinlich erst im Frühjahr 2001 stattfinden.

Inzwischen arbeite ich im selben Ort in einer anderen Wohnstätte der Lebenshilfe, aber dass dort die intimen Hoffnungen keine anderen sind, zeigt schon das Foto zum Kapitelbeginn.

Das Zitat im Titel „„...aber wünschen kann ich mir ein Kind doch trotzdem“ stammt aus einem Interview mit einer 26jährigen, geistig leicht behinderten Frau, die mit zwölf Jahren auf Veranlassung ihrer Mutter sterilisiert wurde[12].

3. Sexualität

Wie bereits unter Punkt 2.2. erwähnt, möchte ich im Vorfeld, beginnend mit dem Begriff der Sexualität, aktuelle Definitionsansätze anführen, um eine nachvollziehbare Diskussionsgrundlage zu schaffen.

3.1. Allgemeine Begriffsunsicherheit früher...

Der Ausdruck „Sexualität“ wird heute tagtäglich und mit größter Selbstverständlichkeit verwendet. Mit Sexualität wird geworben und verkauft, keine Jugendzeitschrift[13] und kaum eine Illustrierte kommt noch ohne „Sextipps“ oder „Ratgeberseiten zu Sexual- und Beziehungsproblemen“ aus, eine bundesweite Big-Brother- und Girls-Camp-Fan-Gemeinde mutmaßt, was da wohl passiert, wenn wer mit wem unter einer Decke liegt, und der häufigste Begriff bei Suchmaschinen-Anfragen im Internet ist natürlich – wer hätte nun anderes erwartet – „Sex“[14] – Sex in allen Medien und wohin man auch nur schaut.

Allerdings – Einigkeit darüber, was genau dieser Begriff bedeutet, welche Bereiche menschlichen Lebens er abdeckt und welche nicht, scheint kaum zu bestehen, weder in Alltag noch in Wissenschaft: „Das Reflexionsniveau des Alltagswissens entspricht etwa dem der Bauernregeln über das Wetter. Man sieht eine Naturgewalt am Werk, der gedanklich nicht beizukommen ist.“[15]

Unscharfen Interpretationen öffnet eine solche Uneinigkeit Tür und Tor, der genaue Inhalt bleibt dadurch weitgehend unklar und mehrdeutig. Selbst Freud, zweifelsohne Wegbereiter in der wissenschaftlichen Ausein-andersetzung mit dieser Thematik, mochte sich nicht recht festlegen: „Im Ernst, es ist nicht so leicht anzugeben, was den Inhalt des Begriffs `sexuell` ausmacht.“[16] „Seit Freud den Begriff der Sexualität auf alle Bereiche triebhafter Zielsuche, ja auf die Objektbesetzung und die Kontaktsuche überhaupt ausgedehnt hat, seither ist es notwendig, sich vor der Diskussion des Problems darauf zu einigen, was man darunter versteht.“[17]

Nach Kluge war diese Begriffsunsicherheit sogar in sexualwissenschaftlichen Disziplinen (wie zum Beispiel Sexualbiologie, -medizin, -pädagogik, -psychologie, -soziologie) „noch Mitte der 70er Jahre“ zu finden; es hätte zwar kaum eine Veröffentlichung in diesen Bereichen gegeben, in denen der Begriff nicht gebraucht wurde, doch suchte man vergeblich nach Versuchen, „den Terminus hinreichend zu explizieren. Daher ist G. Schmidt zuzustimmen, der feststellte, dass wohl keine Frage die Sexualwissenschaftler so in Verlegenheit brächte `wie die Frage, was denn die Sexualität eigentlich sei`.“[18]

3.2. ...und heute

Doch auch 20 Jahre später scheint sich wenig geändert zu haben: „Bisher ist es offensichtlich nicht gelungen, eine umfassende, befriedigende Definition von Sexualität zu finden“[19], schreibt Friske 1995, und erklärt ihre eigenen Schwierigkeiten: „Es erscheint mir fast unmöglich, Sexualität auf einer abstrakten Ebene, die eine Definition immer sein muss, zu erklären.“

„Wenn man sich die Sicht von Kirche oder Biologie zu eigen macht, dann ist darunter zunächst einmal genau die eine Aktivität – nämlich der Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau – zu verstehen, die zur Fortpflanzung führen kann. Doch die Grenzen dieser Auffassung sind offensichtlich: Die meisten Menschen üben im Lauf ihres Lebens wesentlich öfter Geschlechtsverkehr aus, als es zur Zeugung der in Mitteleuropa üblichen ein, zwei oder drei Kinder nötig ist. Sie tun das, weil es beiden oder zumindest einem der Beteiligten Lust bereitet“[20], schreibt von Sydow, um an gleicher Stelle die New Encyclopaedia Britannica aus dem Jahr 1987 zu zitieren - die zwar den Begriffsinhalt noch erweitert, allerdings nicht wirklich mit Leben füllt: „Human sexual behaviour may be defined as any activity – solitary, between two persons, or in a group – that induces sexual arousal.”

Ebenso knapp äußert sich die mehrmals in der Literatur zitierte Erklärung der WHO: „Menschliche Sexualität ist ein natürlicher Teil der menschlichen Entwicklung in jeder Phase des Lebens und umfasst physische, psychologische und soziale Komponenten.“[21]

Gleich in mehreren, aktuellen Veröffentlichungen zitiert Walter[22] die US-amerikanische Sexualtherapeutin Offit, die „die ganze Bandbreite des Begriffsfeldes“ beinahe ins Grenzenlose ausdehnt und eine Definition jedem einzelnen freistellt:

„Sexualität ist, was wir daraus machen. Eine teure oder billige Ware, Mittel zur Fortpflanzung, Abwehr gegen Einsamkeit, eine Form der Kommunikation, ein Werkzeug der Aggression (der Herrschaft, der Macht, der Strafe und der Unterdrückung), ein kurzweiliger Zeitvertreib, Liebe, Luxus, Kunst, Schönheit, ein idealer Zustand, das Böse und das Gute, Luxus oder Entspannung, Belohnung, Flucht, ein Grund der Selbstachtung, eine Form der Zärtlichkeit, eine Art der Rebellion, eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Vergnügen, Vereinigung mit dem Universum, mystische Ekstase, Todeswunsch oder Todeserleben, ein Weg zum Frieden, eine juristische Streitsache, eine Form, Neugier und Forschungsdrang zu befriedigen, eine Technik, eine biologische Funktion, Ausdruck psychischer Gesundheit oder Krankheit oder einfach eine sinnliche Erfahrung.“ Bunt und blumig, aber meines Erachtens eben aufgrund der Fülle und des Fehlens jeder Abgrenzung wenig wissenschaftlich.

3.3. Sexualität mit dem Aspekt „Behinderung“

Noch komplizierter wird anscheinend ein Definitionsversuch, wenn ein weiterer Aspekt wie der der Behinderung dazustößt: Lempp zitiert Schröder, welcher in dieser Verbindung Sexualität definiert, wie wir sie „von unseren geistig behinderten Mitmenschen lernen können: Sexualität ist, wenn man ein Tier liebkost, oder eine Puppe wiegt, ist leidenschaftliches Verlangen, aber auch das ratlose Betrachten eines Menschen, den man gern hat, ist ein verstecktes Lächeln, oder ein roter Kopf, wenn man sich ertappt glaubt, ist das Abpflücken einer Blume, das Einatmen von salziger Seeluft - Sexualität ist Musik oder auch nur ein flüchtiger, hübscher Gedanke.“[23]

Die Kritik folgt auf dem Fuße: „Eine solche Ausweitung des Sexualitätsbegriffs ist meiner Ansicht nach ein fauler Trick, um das vermeintliche Problem zu entschärfen, es zu verwässern und sich so der Antwort zu entziehen, wie es mit der wirklichen Sexualität bei den Behinderten bestellt ist und wie wir uns dazu stellen. Es geht ja ganz konkret um die genitale Aktivität bei den behinderten Kindern und Erwachsenen, die hier zur Debatte steht und problematisiert werden soll, und wir können dieses Problem kaum dadurch lösen, dass wir die Behinderten aufs Blumenpflücken verweisen.“[24]

Da die hier zitierten Definitionsansätze meiner Meinung nach die bestehende Begriffsunsicherheit nicht aufheben, halte ich es nun für sinnvoll, mich der Wortbedeutung neu zu nähern – beginnend mit der eigentlichen Herkunft.

3.4. Herkunft des Begriffs „Sexualität“

Der Begriff „Sexualität“ an sich ist noch relativ jung; er stammt zwar aus dem Latein (secare: schneiden, trennen; davon sectus: Trennung, Unterscheidung), ist aber quasi eine „neulateinische“ Wortschöpfung (sexus: Zweiteilung in ein männliches und ein weibliches Geschlecht) und wurde als Fremdwort erst im 18. oder 19. Jahrhundert gebraucht; „noch bis 1865 war ein `Sexualsystem` laut Fremdwörterbuch lediglich `die Geschlechtsordnung oder Einteilung der Pflanzen nach Geschlechtsteilen von Linné“[25]. Erst seit dem 20. Jahrhundert wird die Bezeichnung „Sexualität“ im Sinne von „Geschlechtsleben, geschlechtliches Verhalten“ verwendet.

Jos van Ussel, der sich Ende der 60er Jahre sehr ausführlich und detailliert mit der Sexualität in der Geschichte befasst hat, weist auf die Problematik hin, bestimmte Begriffe universell gebrauchen zu wollen: „Für die Geschichtsschreibung über das Sexuelle fehlen klare semantische und terminologische Festlegungen über Begriffe wie Sexualität, Erotik, Liebe, Zuneigung, Zärtlichkeit, Körperlichkeit, Sensualität und anderes mehr. Die Schwierigkeit wird noch größer, wenn wir diese Begriffe auf frühere Epochen anwenden müssen. Es ergeben sich dann erkenntnistheoretische Probleme, da wir Ausdrücke, deren Bedeutung im gewöhnlichen Sprachgebrauch keinem Zweifel unterliegt, multisemantisch verwenden.“[26]

3.5. „Sexualität“ im Sprachschatz

Nach van Ussel sind Verhaltensweisen und Sprache (als eine Verhaltensform) vergleichbare Ergebnisse einer Erziehung innerhalb eines festen kulturellen Rahmens; eine Kultur, die der Sexualität gegenüber positiv eingestellt ist, verfügt damit über einen – in bezug auf alles Sexuelle – reichhaltigen Wortschatz[27]. Entsprechend findet man in einer Gesellschaft, die die Sexualität eher negativ bewertet, einen weniger umfangreichen Sprachschatz; diese Gesellschaft ist damit gezwungen, viele verschiedene Verhaltensweisen zum Beispiel mit der undifferenzierten Vokabel „sexuell“ zu bezeichnen[28].

Van Ussel vermutet nun, dass der im 19. Jahrhundert aufkommende Ausdruck „Sexualität“ entstand, als unterschiedliche Ausdrucksformen, die man zuvor in keinem Zusammenhang sah und auch als selbständige Verhaltensweisen begriff (wie beispielsweise Nacktheit und das Stillen eines Säuglings), zu einem großen Ganzen zusammengefasst wurden. Dies wiederum setzt eine Voreingenommenheit voraus, da das Sexuelle in diesen Verhaltensweisen jeweils nur einen Teilaspekt darstellt und durch die Einordnung unter die Vokabel „Sexualität“ generalisiert wird. „Auch unser Wortgebrauch ist mitbestimmend für das Erscheinungsbild der Dinge. Es ist demnach sehr wohl möglich, dass der Begriff `Sexualität` eine hypothetische Konstruktion ist, die zwar semantisch besteht, jedoch keine Hinweise auf entsprechende Gegebenheiten in der ontischen Ordnung enthält. Wenn wir dies nicht klar erkennen, so besteht die Gefahr, dass wir uns... unbewusst einer Metasprache bedienen.“[29]

Gerade durch diese umfassende Begriffserweiterung wird nun auch ein Verhalten als „sexuell“ bezeichnet, dass bei genauerem Betrachten nur in geringem Maß etwas mit Sexualität zu tun hat. Van Ussel nennt als aktuelles Beispiel Erfahrungen von Gruppentherapeuten; in gemischten Gruppen bezeichneten die Patienten Konflikte untereinander als „sexuell“, in gleichgeschlechtlichen Gruppen dagegen formulierten sie Spannungen mit einer nicht-sexuellen Terminologie. Auch durch eine Analyse von Fachliteratur ließ sich (1970) nach van Ussel „keine präzise Abgrenzung des Kerns und der Essenz des Begriffsinhaltes“[30] erarbeiten.

3.6. Kulturelle Prägung des Begriffs

Ein weiteres Problem bei dem Versuch, den Begriff der Sexualität wirklich universell festlegen zu wollen, liegt natürlich in der Tatsache begründet, dass jede hier angestrebte Definition durch unsere westliche, industriegesellschaftlich und christlich geprägte, von uns als „modern“ bezeichnete Kultur beeinflusst wird und kaum auf andere Kulturen (und auch andere Epochen, vergleiche van Ussel[31]) zu übertragen ist.

So wäre es beispielsweise völlig falsch, in arabischen Ländern oder auf Bali Männer als homosexuell zu bezeichnen, die Arm in Arm spazieren gehen, nur weil man einen solchen Ausdruck der Sympathie unter heterosexuellen Männern in Mitteleuropa nicht kennt. Ebenso ließe sich für eine Gesellschaft, in der man seine „Triebe“ nicht wie zu Zeiten Freuds zu sublimieren hatte, kaum das Triebmodell der klassischen Psychoanalyse mit der Theorie des angeborenen Grundtriebs „Es“, des unterdrückenden „Über-Ichs“ und des vermittelnden „Ichs“ anwenden[32].

3.7. Geläufige Bedeutungszusammenhänge

Was ist sie denn nun, die Sexualität? Der oft zitierte[33] niederländische Medizinethiker Sporken formulierte 1974 einen Definitionsansatz in einem Drei-Aspekte-Schema, das sich am gesamten menschlichen Miteinander orientiert: Sexualität meint demnach „1) das ganze Gebiet von Verhaltensweisen in den allgemein-menschlichen Beziehungen (im sog. koedukativen Alltag), 2) im Mittelbereich von Zärtlichkeit, Sensualität, Erotik und 3) in der Genitalsexualität“[34]. Wichtig ist zu betonen, dass diese Einteilung keine Wertskala darstellt, sondern alle drei Bereiche gleichwertig und die Übergänge fließend sind. Nach Sporken darf der Mittelbereich nicht dem Genitalbereich übergeordnet und dieser nur als Triebkomponente negativer Art gesehen werden[35].

Kluge versucht, sich dem Begriffsinhalt dadurch zu nähern, dass er – in einem ersten Schritt - mehrere sehr unterschiedliche Bedeutungszusammenhänge, die in der Gegenwart geläufig sind, aufzeigt und verdeutlicht[36]:

In einem ersten, eingeschränktesten Sinn kann die menschliche Sexualität als „Genitalsexualität“ gesehen werden, die auf die Vereinigung der Geschlechtsorgane von Mann und Frau im Erwachsenenalter begrenzt wird. Mögliche Lust- und Sozialfunktionen der Sexualität werden dabei außer acht gelassen; im Vordergrund steht oft der alleinige Zweck der Zeugung, was zur Folge hat, dass Kindern und Alten (aufgrund der altersbedingt fehlenden Fruchtbarkeit) und behinderten Menschen (aufgrund unerstellter mangelnder Ehefähigkeit, vergleiche Kapitel 3.17.) sexuelle Verhaltensweisen abgesprochen beziehungsweise sogar die biologischen Voraussetzungen aberkannt werden.

In einem zweiten, engeren Sinn wird die Sexualität als „Orgasmussexualität“ aufgefasst, wie sie unter anderem vom behavioristisch orientierten Mitarbeiterteam um Alfred C. Kinsey beschrieben wird. Dieses Verständnis schließt neben dem Koitus auch andere Verhaltensweisen mit ein (wie beispielsweise Selbstbefriedigung, Petting, Homosexualität), bei denen der Orgasmus als Höhepunkt der sexuellen Erregung den „Trieb befriedigt“. Kluge hält dieser Auffassung entgegen, dass sie auf einem inzwischen überholten Triebmodell beruht, den Sexualitätsbegriff allgemein mit dem Orgasmus gleichsetzt (ihn also getrennt von der emotionalen Erlebnismöglichkeit zu erfassen versucht) und ihn allein auf physiologische Reaktionen beschränkt, was nach Kluge zahlreiche andere sexuelle Verhaltensweisen außer acht lässt (die von ihm an dieser Stelle allerdings nicht weiter ausgeführt werden).

Die Psychoanalyse entwickelte einen dritten, weiter gefassten Sexualitätsbegriff, den Kluge als „Lustsexualität“ umschreibt, wobei sich „Lust“ nicht auf Koitus und Genitalien (und damit auf das Erreichen des Orgasmus) reduziert, sondern von jedem Menschen an zahlreichen Organen und Körperteilen erlebt und hervorgerufen werden kann. Diese Organlust äußert sich bereits beim Kleinkind beispielsweise durch Daumenlutschen (in der von Freud beschriebenen „oralen Phase“) oder durch das Zurückhalten des Kotes (in der „analen Phase“).

Durch Freuds Theorien wurde die reine Fortpflanzungsfunktion um die Lustfunktion erweitert, was nun - wenigstens wissenschaftlich - auch Menschen außerhalb des gebär- und zeugungsfähigen Alters Sexualität zugestand. Mit Freud bekäme „die Sexualität endlich ein menschliches Gesicht“[37], würdigt Kentler dessen Verdienste, doch Kluge kritisiert, dass sich der Lustgewinn nach dieser Theorie allein auf die erogenen Zonen des menschlichen Körpers beschränkt und die Sozialfunktionen völlig übersehen wird. „Deshalb bleibt das subjektive Lustempfinden ein einsames Erlebnis, woran weder Partnerschaft noch gesellschaftliche Bedingungen etwas zu ändern vermögen.“[38]

Als extremen Gegensatz zum „biologischen Fortpflanzungsmechanismus“ erwähnt Kluge einige sehr weit gefasste sexual-soziologische Definitionsansätze, wie sie von R. Fricker und J. Lerch vertreten werden und die die Sexualität allein als Ergebnis kultureller und gesellschaftlicher Prozesse betrachten; sie sei ein „komplexes Produkt sozialer Interaktion..., welches nicht durch biologische Fakten erklärt werden kann.“[39] So gesehen, wäre Sexualität also ausschließlich ein gesellschaftlich vermitteltes Lernergebnis, wobei jeder sexualbiologische Aspekt ohne Bedeutung bliebe - ein allein schon aufgrund dieser Einseitigkeit wissenschaftlich nicht haltbarer Definitionsversuch, der im Folgenden nicht weiter berücksichtigt und diskutiert werden soll.[40]

3.8. Motivationsansätze

In einem weiteren Schritt führt Kluge verschiedene sexuelle Verhaltensweisen auf, um dadurch einer Antwort auf die Frage nach dem Begriffsinhalt „Sexualität“ näher zu kommen. Er beschreibt die Vielfalt sexueller Ausdrucksformen, beginnend mit sexuellen Spielereien bei Kindern, Petting bei Jugendlichen, Masturbation, Koitus und Homosexualität bis hin zu sogenannten Deviationen wie Frotteurismus, Exhibitionismus, Voyeurismus, Promiskuität und Sadomasochismus (diese in einem Atemzug genannten Punkte bedürfen sicherlich einer sorgfältigen Differenzierung, sollen an dieser Stelle aber nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden). Um nun das Zustandekommen menschlicher Sexualverhaltens zu erläutern, nennt Kluge unterschiedliche Motivationsansätze:

3.9. Das psychohydraulische Modell...

Das Trieb- oder psychohydraulische Modell, das unter anderem von Freud und Kinsey entwickelt und vertreten wurde, beruht auf folgender Hypothese: Interne hormonale und zentralnervöse Vorgänge bewirken (wie Hunger oder Durst als unangenehm empfundene) sexuelle Anspannung im Organismus. Erreichen diese einen bestimmten Höhepunkt, streben sie nach beruhigender oder sättigender „Entladung“, woraus sich die Motivation zu sexueller Betätigung ergibt.

Der Sexualtrieb des Menschen (die Libido) ist demnach eine Energiequelle, die von biologisch-chemischen Reizen abhängig ist; externe Anregungen spielen keine Rolle. Die sexuelle Motivation steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Dauer der Abstinenz. Ziel des Triebes ist es, diesen inneren Reizzustand, die Erregung der Geschlechtsorgane und der erogenen Zonen, abzubauen; eine Befriedigung führt gleichzeitig zu einem Lustgewinn. Dieses „Lustprinzip“ allein steht nach Freud aber dem Sozialverhalten des Menschen im Weg (da sich jemand, der sich an seiner eigenen Triebbefriedigung orientiert, gezwungenermaßen unsozial verhält) und wird vom „Realitätsprinzip“, also der naturgegebenen und sozialen Wirklichkeit, reguliert und ungeleitet; es sei damit möglich, durch „Sublimation“ die Triebenergie über das Sexualverhalten hinaus positiv zu nutzen und beispielsweise als Motivationskraft für kulturschaffende Arbeit umzulenken.

3.10. ... und die Kritik daran

Kentler umschreibt dieses Modell als „Dampfkesseltheorie“[41] und kritisiert das Gleichsetzen der Sexualität mit Trieben wie Hunger und Durst; weder sei Sexualität für ein Individuum so überlebenswichtig wie Nahrungsaufnahme, noch löse ihr Fehlen eine lebensbedrohliche Mangelsituationen aus. Trotz der offensichtlich unterschiedlichen Qualitäten wurde dieses psychohydraulische Modell Freuds bis in die 70er Jahre hinein in sexualpädagogischer Literatur zitiert, gilt heute aber als wissenschaftlich widerlegt.

„Tierversuche haben gezeigt, dass sexuelle Bedürfnisse auch nach langer Abstinenz nicht gesteigert werden, wenn Reize von außen fehlen. Der Verdacht liegt nahe, dass auch beim Menschen soziale Faktoren wie Phantasie und Kommunikation eine größere Rolle spielen als die klassische Psychoanalyse wahrhaben wollte.“[42]

Kluge sieht einen großen Nachteil dieses Modells darin, dass es die Möglichkeiten externer Anreize übersieht und die soziale Wirklichkeit ignoriert. „Nicht weil wir sexuell erregt sind, haben wir Sexualität, sondern wir produzieren sexuelle Erregung, um Sexualität zu haben.“[43]

3.11. Das „Zwei-Komponenten“-Modell

Diese von Whalen[44] im Jahr 1966 entwickelte und später von Schmidt ausgearbeitete Theorie unterscheidet zwei Bestandteile der sexuellen Motivation: die „Erregbarkeit“ (arousability, „Triebstärke“) und die „Erregung“ (arousal). Als „Erregbarkeit“ wird demnach die individuell verschieden ausgeprägte sexuelle Reaktionsbereitschaft bezeichnet; sie wird sowohl durch physiologische Voraussetzungen (Androgene, Gestagene) als auch durch soziale Erfahrungen bestimmt. Die „Erregung“ beschreibt das „momentane Niveau“ sexuellen Angesprochenseins und ist damit als Folge der „Erregbarkeit“ zu sehen.

Der Einfluss der Sexualhormone auf die Erregbarkeit wird also anerkannt, wie auch die Wichtigkeit von Lernprozessen betont wird, deren Schwerpunkte vor allem auf der Sensibilisierung und dem Bekräftigungseffekt liegen. Damit darf die Vorbildfunktion der Eltern oder Erziehenden auch in bezug auf das spätere Sexualverhalten eines Menschen nicht unterschätzt werden: „So ist es nicht einerlei für die Entwicklung der Erregbarkeit, ob Sexualität vom Kind als etwas Angenehmes oder Verwerfliches empfunden, von der Umgebung gefördert und vom jungen Menschen selbst bejaht wird.“[45]

„Je häufiger von früher Kindheit an sexuelle Erlebnisse gemacht werden, je angenehmer sie empfunden werden, je konfliktfreier sie erlebt werden und je mehr sie von der Umwelt akzeptiert werden, desto stärker ist die Arousability (Erregbarkeit) eines Menschen. Arousability wird damit zu einer durch Erfahrung begründeten Antizipation der affektierten Konsequenzen sexueller Betätigung. Je stärker in der Erfahrung eines Menschen sexuelle Aktivität und sexuelle Erlebnisse verbunden sind mit sexueller Befriedigung, Lust, Entspannung, aber auch mit Akzeptiertwerden, Zuwendung, Zuneigung, Geborgenheit, Wertschätzung, desto größer wird nach den Gesetzen der sekundären Motivation die Arousability sein.“[46]

Diese Theorie verdeutlicht, dass die sexuelle Motivation sowohl von Innen- wie auch von Außenreizen beeinflusst wird und weder allein als biogen noch als soziogen betrachtet werden darf. Zu einem gleichen Schluss kommt Kentler, der auf folgende Tatsachen hinweist, die für ein Vorstellungsmodell der Sexualität berücksichtigt werden müssen:

- Es sind natürliche Umstände notwendig, „natur-gegebene Grundausstattungen“ sozusagen, die in erster Linie aus funktionierenden Geschlechtsorganen, Steuerungsmechanismen (beispielsweise den Sexualreflexzentren im Rückenmark und den übergeordneten Steuerungszentren im Hirn) und einem intakten Hormonhaushalt bestehen. Hinzu gehören weiter die erogenen Körperzonen, also die Haut im allgemeinen, der Mund, die Brust, der After, die Geschlechtsorgane, deren zärtliches Berühren angenehm empfunden und als lustvoll erlebt wird, was von Geschlecht, Alter oder einer Behinderung völlig unabhängig ist.
- Allerdings wird das Sexualverhalten eines Menschen an sich nun nicht von diesen Naturgegebenheiten diktiert, sondern hängt davon ab, wie er lernt, mit ihnen umzugehen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen er aufwächst, welche Normen er anerkennt und was er persönlich als sexuell erlebt und erfährt.

„Die Sexualität ist keine Naturenergie, die unsere sexuelle Aktivität antreibt und auf naturgegebene Ziele lenkt, sondern unsere Sexualität wird im Verlauf unserer Lebensgeschichte bearbeitet, geformt, gestaltet, so dass unser sexuelles Verhalten schließlich ein Ausdruck unserer Persönlichkeit wird.“[47] Gelernt wird, ob und wie ein Mensch sich dem eigenen oder dem Geschlecht gegenüber sexuell verhält, welche sexuellen Eigenarten und Vorlieben er hat und an seinem Partner schätzt, ob er eine dauerhafte Sexualbeziehung vielen sich abwechselnden vorzieht oder umgekehrt usw.

Das menschliche Sexualverhalten ist weitgehend instinktfrei und hat die „Geschichte der Menschwerdung“ (Kentler) mitgemacht, seine Abhängigkeit zu natürlichen Grundlagen wurde in der Evolution gelockert, es wurde kultiviert und immer weiter unter die „Selbstverfügung des Menschen“ gestellt.

3.12. Vergleich mit menschlicher Sprache

Falls die menschliche Sexualität also mit einer anderen Eigenschaft verglichen werden soll (Hunger und Durst sind, wie oben beschrieben, dazu nicht geeignet), dann am ehesten, so Kentler, mit der Sprache[48]. Das Sprechenkönnen setzt ebenfalls Naturgegebenheiten voraus (das Sprachzentrum im Gehirn, die Stimmbänder, Zunge, Lippen usw.), die Sprache selbst ist aber ein Kulturprodukt.

Kentler hält den Vergleich für sehr lohnend, um diese Auffassung von Sexualität weiter zu verdeutlichen. Die Tatsache, dass Menschen mit intakten Sprechorganen geboren werden, bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie auch tatsächlich sprechen werden. Kinder in einem „sprachlosen“ Umfeld lernen dies nie, weil zur Entwicklung der Sprachfähigkeit ein ständiger Umgang mit sprechenden Menschen notwendig ist. Auf die Sexualität übertragen bedeutet dies, dass sie sich um so besser entwickelt, je konfliktfreier sie erlebt, je mehr sie von den nächsten Bezugspersonen, den Eltern, der Familie oder auch den Betreuenden in einer Wohnstätte akzeptiert wird und je angenehmer die Empfindungen sind, die bereits seit der frühesten Kindheit erfahren werden.

Je reicher und ausdifferenzierter die sprachlichen Fähigkeiten eines Menschen sind, desto besser ist er in der Lage, mit anderen in Beziehung zu treten, sich zu verständigen und auszutauschen, eigene Gedanken und Gefühle verständlich auszudrücken, also mit jemand anderem zu kommunizieren. Auch Sexualität ist Begegnung und damit eine nonverbale Art der Kommunikation[49]. In einer sexuellen Beziehung kann mehr geschehen als gegenseitige Erregung und ein Hervorbringen von Orgasmen; man kann den Partner in den eigenen Intimbereich einbeziehen, der sonst verschlossen bleibt, und ihm damit sein Vertrauen ausdrücken.

„Wenn Martin Luther in seiner Bibelübersetzung für den Geschlechtsverkehr die Formel gebraucht `Er erkannte sie`, dann erfasst er den tiefen Ernst des sexuellen Sichbegegnens: Die sexuelle Vereinigung bedeutet nicht nur körperlich-sexuellen Lustgewinn, sie ist auch ein geistiger Erkenntnisakt, und die Sexualorgane sind als Erkenntnisorgane brauchbar... Wie reich und differenziert diese körperbezogene Kommunikation ist, hängt davon ab, wie weit wir unsere eigenen sexuellen Wünsche akzeptieren und ausdrücken können und wie weit wir andere mit ihren sexuellen Wünschen ernst nehmen, wie empfindungsfähig wir sind, ob wir gelernt haben, zu empfinden, wie die Gegenseite empfindet, ob wir zu anderen zärtlich sein können und ob wir empfänglich für ihre Zärtlichkeit sind.“[50]

Ein dritter Vergleich: Menschen sind nicht nur in der Lage zu sprechen, sie haben sich auch eine Sprach kultur geschaffen: Der Sprachstil jedes einzelnen, Dichtung, Literatur. Vom Anspruch der Spracherziehung hängt ab, inwieweit einem Menschen diese Sprachkultur zugänglich ist oder ob er sogar selbst kreativ zu ihr beiträgt. Eine Sexualkultur beginnt bereits, wenn man es als primitiv ansieht, nur sexuelle Eroberungen zu machen und Orgasmen zu erleben. Als Voraussetzung für ernstgemeinte sexuelle Beziehungen gelten Verstehen, Vertrauen und Liebe; gegenseitige Treue wird als Hochform dieses Verhältnisses angesehen, die Partner erwarten voneinander Rücksichtnahme und gegenseitige Verantwortung. Sexuelle Phantasien gehören ebenso zur Sexualkultur wie Geschicklichkeit im Flirten oder Fähigkeiten, sexuelle Beziehungen lustvoll und abwechselungsreich gestalten zu können.[51]

3.13. Sinnaspekte der Sexualität

Ein Definitionsansatz, den ich persönlich für umfangreich formuliert, dabei aber gleichzeitig für rund und stimmig halte, findet sich in den sexualpädagogischen Materialien des Instituts für Sexualpädagogik in Dortmund, herausgegeben von Sielert:

„Sexualität ist eine allgemeine Lebensenergie, die in allen Phasen des menschlichen Lebens körperlich, geistig-seelisch und sozial wirksam ist. Sie bedient sich des Mediums `Körper` und hat vielfältige Ausdrucksformen – als Zärtlichkeit, Leidenschaft, Hingabe, Sehnsucht und Begierde oder auch als Aggression.“[52] Zudem lässt sie sich in folgenden vier Sinn-Aspekten skizzieren:

- „Der Identitätsaspekt von Sexualität meint in seiner elementarsten Form die Erfahrung des eigenen Ich als eine eigenständige und zur Selbstbestimmung fähige körperliche und seelisch-geistige Einheit. Sexualität ermöglicht die Gewährung und Entgegennahme von Selbstbestätigung als Bedingung zur Selbstliebe und zur Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit... Wenn ich mich als eigenständige und liebenswerte Person erfahren konnte,... bin ich in der Lage, andere zu achten, sie in ihrem Selbst zu bestätigen und ihnen Mut zu machen, ihre Persönlichkeit zu entfalten.“
- „ Der Beziehungsaspekt: In der intimen Bindung können die Qualitäten Vertrauen, Wärme und Geborgenheit erfahren werden. Sexualität kann damit in der Begegnung das Bedürfnis nach Heimat wecken und im günstigsten Fall auch befriedigen. Sexualität kann eine Art der Kommunikation sein, in der andere Ebenen angesprochen und beantwortet werden.“[53]
- Der Lustaspekt von Sexualität „wird heute weitgehend als lebenswert, als wichtige Lebensäußerung gedeutet, wenn auch... an unterschiedliche soziale Bedingungen geknüpft... Lust kann Triebkraft des Lebens sein und Lebensmut erhöhen. Leben, das wachsen kann, ist nicht gradlinig, geordnet und bis ins einzelne kontrollierbar, wie auch sexuelle Lust nicht nur in den vorgegebenen Bahnen des moralisch und sozial Verordneten verläuft. Lust bleibt in diesem Sinn immer eine kritische Anfrage an die Lebendigkeit von menschlichen Beziehungen... Sexuelle Lust kann als Kraftquelle erlebt werden, als tiefe, aktiv ausgeübte Leidenschaft und Hingabe.“[54]
- Der lebensschöpferische Aspekt: „Sexualität kann Kraftquelle bedeuten, aus der Lebensmut und Energie gespeist werden, wenn sie intensiv erlebt wird. Sexualität kann das Gefühl vermitteln, lebendig zu sein. Gespürte Lebensenergie kann in diesem Sinne das Ich kräftigen und weist zugleich auf das Du hin... In diesem weitesten Sinne ist Sexualität fruchtbar, lebensschöpferisch und lebensspendend. Die Zeugung eines Kindes ist also nicht die einzige, wenn auch sehr plastische Form, Leben zu spenden.“[55]

Friske hält jeden Aspekt in sich wichtig für ein geglücktes Sexualleben und ein Zusammenspiel aller Faktoren für wünschenswert, betont aber, es bestehe kein Grund, dieses Zusammenspiel als Voraussetzung zu fordern, und zitiert in diesem Bezug Feuser: „Allein der Aspekt subjektiven Lustgewinns durch sexuelle Betätigung... ist Grund genug, die Entwicklung der Sexualität umfassend zu fördern.“[56]

Deutlich wird, dass es nicht eine Sexualität geben kann, genau so wenig wie es den Menschen gibt. Sexualität fügt sich individuell aus den unterschiedlichsten Facetten zusammen, aus biologischen Voraussetzungen, der persönlichen Lerngeschichte, aus gesellschaftlichen Erfahrungen und subjektiven Wünschen und Vorlieben. Sie ist jedem Menschen eigen und damit menschlich. Fütterer und Siegel plädieren „ganz entschieden dafür, im Interesse einer Entkrampfung, Sexualität gerade als das allen Menschen Gemeinsame, sie Verbindende anzusehen, als eine Brücke über die Grenzen von Sprachen und Rasse, von Behinderung und Nichtbehinderung.“[57]

3.14. Sexualerziehung

Wie oben dargestellt, basiert Sexualität nun zwar auch auf biologisch festgelegten Mechanismen, diese „genetische Determination vermag jedoch bei keinem Säugetier so weitgehend von gesellschaftlichen Determinanten überformt zu werden wie beim Menschen.“[58] Das Fehlen von Instinkten, die das menschliche Sexualverhalten steuern könnten, begründet nun die Notwendigkeit einer Sexualerziehung, die diese Defizite auszugleichen sucht. Verbunden mit dem sich laufend ändernden Verständnis des Begriffs Sexualität, unterliegt natürlich auch jede Form der Sexualerziehung den jeweiligen kulturellen, gesellschaftlichen und gesamtpolitischen Ordnungen. Sie ist wie jede andere Erziehungsmethode von den Zielvorstellungen abhängig, die in einer Gesellschaft angestrebt werden.

Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert und bis etwa zum Beginn der 1960er Jahre herrschte in Deutschland eine ausgesprochen repressive Ansicht zu diesem Thema. Sexualität sollte auf den Bereich der Fortpflanzung beschränkt bleiben und ansonsten als sündig und mit schlechtem Gewissen erlebt werden. Der Schwerpunkt der Erziehung lag in der extremen Anpassung der Kinder und Jugendlichen an die gesellschaftlichen Erfordernisse und moralischen Vorstellungen. Dazu wurde das Ausprägen von Individualität und Selbstbestimmung vernachlässigt oder bewusst unterdrückt, was als notwendig erachtet wurde, um bestehende gesellschaftliche Verhältnisse aufrecht zu erhalten[59]. Moralische Grundlagen für diese Art repressiver Erziehung wurden meist als „naturbedingt“ oder gar als „von Gott gewollt“ ausgegeben, um sie dadurch als eine objektive und unwiderlegbare Ordnung zu legitimieren, die nicht beeinflusst werden konnte oder beeinflusst werden durfte, weil es dem Willen Gottes widersprochen hätte. Einen Höhepunkt erlebte diese Einstellung zur Sexualität bekanntermaßen im ausgehenden 19. Jahrhundert.[60]

Lange Zeit war die sogenannte Sexual aufklärung über medizinisch-hygienische Zusammenhänge gang und gäbe (und sicherlich ist sie vereinzelt auch noch heute anzutreffen), „meist eine einmalige sexualbiologische Information..., die mehr moralische Belehrung als sexualwissenschaftliche Unterrichtung beinhaltete.“[61] Als Zeitpunkt zur Aufklärung von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen wurde oft der Eintritt in die Erwachsenenwelt gewählt, wie beispielweise die Konfirmation[62], oder bei einer jungen Frau sogar erst die erste Schwangerschaft[63]. Zuvor wurde das Thema Sexualität nach Möglichkeit vollständig tabuisiert.

In den 1960er Jahren dann, parallel zu anderen gesellschaftlichen und politischen Änderungen, schlug das Pendel in die entgegengesetzte Richtung. Mündigkeit war nun das angestrebte Mindest-Ziel der Erziehung, jedes Individuum sollte nur einem Minimum vorgegebener, sozial notwendiger Normen gegenüberstehen und damit einen größtmöglichen „Freiraum zur Gestaltung des persönlichen Glücks“[64] erhalten. Zeitgleich wurde durch die Entwicklung hormoneller Verhütungsmittel wie der Pille auf unkomplizierte Weise Sexualität von Fortpflanzung getrennt.

Letztlich sah man in der Liberalisierung der Sexualität den Beginn einer „Revolution der kapitalistischen Industriegesellschaft“ und die „Aufhebung illegitimer Macht- und Herrschaftsverhältnisse als Voraussetzung für eine umfassende Entfaltung der Lebensmöglichkeiten“[65]. Selbst Kluge, ansonsten eher liberal eingestellt, fragte, wer anders „als der `aufgeklärte` Sexualerzieher... die Aufgabe zu übernehmen [hätte], eine allmähliche Änderung des gesellschaftlichen Bewusstseins herbeizuführen“[66]. Kilian sah in der Sexualerziehung sogar „eine Bedingung des Überlebens der ganzen Menschheit“[67].

Auch dieser als „emanzipatorisch“ bezeichnete Erziehungsstil erhob Sexualität also „zu einem gesellschaftspolitischen Thema von hoher Brisanz“[68], diesmal allerdings, um im Idealfall mit ihr politische Umwälzungen zu erreichen. Beide Standpunkte bedachten also kaum individuelle Wünsche und sind aus heutiger Sicht wegen ihrer präskriptiven und dogmatischen Grundhaltung zu kritisieren.

3.15. Sexualerziehung heute

Im Laufe der 80er Jahre ist es um die Verfechter des letztgenannten Erziehungsstils ruhig geworden. In der alltäglichen Erziehungspraxis wird seit dem meist ein sexualfreundlicher und lustbejahender Weg versucht, der von Etschenberg als “vorsichtig progressiv“ und „liberal“ bezeichnet wird. Ein Merkmal dieser liberalen Richtung ist unter anderem, dass sie nicht normativ vorgeht, sondern versucht, „die konkreten Maßnahmen zur Sexualerziehung pragmatisch an sich verändernde Rahmenbedingungen der jeweils aktuellen gesellschaftlichen Situation und absehbaren zukünftigen Erfordernissen anzupassen..., ohne dabei eine – vor allem sozialethisch begründete – Wertorientierung aufzugeben.“

Müller bezeichnet diesen Erziehungsstil als neoemanzipatorisch; im Prinzip versuche er, die emanzipatorische Sexualpädagogik „kritisch fortzuschreiben und deren Mängel und Einseitigkeiten zu überwinden“, wobei „die Überbetonung... der gesellschaftlichen Relevanz des Sexuellen... und die weitgehende Ignorierung unterbewusster, körperlicher und emotionaler Faktoren“[69] gehören. Ziel ist nun, die sexuelle Identitätsfindung von Kindern und Jugendlichen zu unterstützen und ihre Entscheidungsfähigkeit zu fördern, durch die sie ihre eigenen Grundsätze für ihr Sexualverhalten finden und verwirklichen können.

„Diese Forderung impliziert aber“, so Gademann, „dass der Erzieher sich der Relativität und der Fragwürdigkeit seiner eigenen moralischen Grundsätze bewusst ist... Moralische Grundsätze und Weltanschauungen dürfen... nicht zu sexualpädagogischen Zielsetzungen verallgemeinert werden, ...weil die Sexualität und das Sexualverhalten zum Intimbereich des Menschen gehören, in dem jede pädagogische Normierung – die schon durch die Normenpluralität fragwürdig ist – einen Eingriff in die persönliche Freiheit des Einzelnen bedeutet und damit bedenklich wird... Konkret: Ob der Jugendliche onaniert oder nicht, ob er Geschlechtsverkehr ausübt oder nicht, dies hat er selbst zu entscheiden, der Erzieher kann ihn nur auf mögliche Vor- und Nachteile seines Verhaltens aufmerksam machen.“[70]

3.16. Sexualerziehung durch Vorbildfunktion

Doch auch wenn sich Erziehende mit der direkten Äußerung ihrer eigenen Weltanschauung zurückhalten, spielen sie dennoch durch ihre Vorbildfunktion eine nicht zu unterschätzende Rolle, wie anders könnten sonst soziale Erfahrungen als notwendiger Teil der „arousability“ (siehe Kapitel 3.11.) entstehen. Auch wenn natürlich die Erziehungsinhalte verschieden sind, ist es von der Intention und den Zielen relativ gleich, ob es sich bei den Erziehenden um die Eltern oder um Pädagogen in Einrichtungen handelt. Wichtig ist vor allem, dass sie durch ihr Verhalten ein sexualfreundliches Klima schaffen.

Borneman vermisst in der alltäglichen Sexualerziehung solche Vorbilder und kritisiert gleichzeitig die Praxis der Aufklärung durch Sexualkundebücher. Er geht davon aus, dass „unsere Gattung sich ihr sexuelles Wissen und Können nur in der Kindheit und nur mit Hilfe der Beobachtung des Geschlechtsverkehrs der Älteren erwerben kann. Also durch Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken, nicht aber durch das Anhören und Lesen von Worten... An die Stelle der Prägung durch das Konkrete und Primäre tritt eine Prägung durch das Abstrakte und Sekundäre. Resultat: Die gattungsspezifische Sexualentwicklung wird pervertiert. Der Prozess entzieht dem Bedürfnis nach Körperkontakt die Körperlibido und fixiert sie auf Buchstaben und Bilder.“[71]

Einem ähnlichen Gedanken folgt Kentler: „Was die Sexualerziehung zu erziehen hat, ist die Sexualität. In anderen Erziehungsbereichen ist es gar keine Frage, dass das, worum es in der Erziehung jeweils geht, geübt werden muss. Nur in der Sexualerziehung meint man, ohne das auszukommen, womit sie doch zu tun hat: ohne Sexualität und Sexualleben.“[72]

Es versteht sich von selbst, dass es auch in der Sexualerziehung schon aus Gründen des Normalisierungsprinzips keine Unterscheidung zwischen Nichtbehinderten und Menschen mit Behinderungen geben sollte. Zudem kann man natürlich davon ausgehen, dass beispielsweise für geistig behinderte Kinder eine individuell gelebte, „begreifbare“ Sexualerziehung, ein Lernen durch soziale Aktion, durch Beobachtung, am Modell leichter zu verstehen ist als durch abstrakte, situationsfremde Aufklärungsbücher.

3.17. Kirche, Sexualität, Moral

Abgesehen davon, dass die Kirchen mit ihren Normen- und Wertvorstellungen in unserem Kulturkreis auch für das Ansehen der Sexualität noch immer von so ausschlaggebender Bedeutung sind, dass sie nicht unbeachtet bleiben dürfen, üben sie mit ihren Trägern durch die große Anzahl von Behinderteneinrichtungen auch direkten Einfluss auf das alltägliche Zusammenleben von Menschen mit geistiger Behinderung aus, deren pädagogische Arbeit auch bei Theologen nicht nur auf Zustimmung stößt: „Es waren nicht in erster Linie die Theologie und nicht die kirchlichen Einrichtungen in Deutschland, welche die Emanzipation der Menschen mit geistigen Behinderungen in den letzten Jahrzehnten vorangetrieben haben. Dazu zählt auch ihre sexuelle Emanzipation.“[73]

Die Wurzeln christlicher Sexualethik reichen weit bis in alttestamentarische Zeiten zurück und können an dieser Stelle natürlich nicht weiter dargelegt werden[74] ; wichtig ist aber ein christliches Ideal, welches spätestens im 19 Jahrhundert als das bürgerlich-christliche, allgemein menschliche Ideal angesehen wurde, durch seine Übernahme in Gesellschaft und Erziehung bis weit in die 1960er Jahre richtungsweisend war und mit dem auch heute noch oft argumentiert wird: Die „Viereinheit“ von Sexualität, Ehe, Liebe und Fortpflanzung.[75]

Jeder einzelne Aspekt war nur in diesem Zusammenhang erlaubt und wurde ansonsten unterbunden. Gegen jede Art der Sexualität außerhalb der Ehe wurde angegangen, also gegen freie Liebe, vorehelichen und außerehelichen Geschlechtsverkehr, ebenso wie gegen Sexualität ohne Liebe zu dem oder zu einem Partner, wie bei der Prostitution oder der Selbstbefriedigung. Homosexualität und Sexualität von Kindern und im Alter wurden ebenfalls abgelehnt, da sie dem alleinigen Sinn der Fortpflanzung widersprachen und „zu nichts“ führten. Menschen mit geistiger Behinderung fielen ebenfalls aus diesem Schema, da ihnen von vornherein keine Ehefähigkeit zugesprochen wurde. Heiraten war theoretisch „zwar ein allgemein menschliches Recht, aber in Wirklichkeit lief es darauf hinaus, dass es nur ein sozialwirtschaftliches Recht war: Wer eine Frau unterhalten konnte, durfte heiraten. Ehen zwischen zwei Behinderten kamen fast nie vor.“[76]

Innerhalb der Ehe erfuhr die Sexualität, durch die ja nach 1. Mose, 3 erst das Böse in die Welt kam, eine enorme Umwertung: Verurteilte man vor der Ehe ohne Ausnahme jede Form von Sexualität, so wurde sie nun durch das Jawort in den „heiligen Dienst der Fortpflanzung“ gestellt, durch welchen man dem Willen Gottes folgte. Später machte der Geschlechtsverkehr sogar das Sakrament der Ehe erst – kirchenrechtlich – gültig; das Ausbleiben des „Ehevollzugs“ war sogar einzig möglicher Scheidungsgrund.[77]

Sexualität wurde also mit moralischer Begründung genitalisiert, mit der Fortpflanzung gleichgesetzt und damit auf die „fruchtbaren Jahre“ lange nach der Kindheit und vor dem Alter eingeschränkt. „Die traditionelle Sexualmoral ist uns in aller Regel von den Kirchen... auferlegt worden“, so Bartholomäus, „viele Menschen haben sie als unerträgliche Einmischung in ihr Privatleben erlebt, auch deswegen, weil ihre Normen bis ins intimste Detail gingen. Viele Menschen sind ihr gefolgt, weil ihre Angst- und Schuldgefühle ihnen keinen Ausweg ließen[78] Darum brauchen wir eine neue Sexualmoral, die uns freigibt... Darum bedarf es konkreter ethischer Entwürfe, die Bilder gelungener Sexualität vorgeben, an denen wir uns orientieren können. Sonst blieben unsere eigenen Möglichkeiten unentfaltet, und wir würden uns vielleicht in Situationen verrennen, die nur bittere Folgen haben. Dies ist der vernünftige Sinn einer Sexualmoral.“[79]

3.18. Normenpluralität

Zu diesen ethischen Entwürfen gehören also Werte, Normen und Ordnungen, die dem Menschen als „instinktreduziertem Wesen“ biologische Verhaltensregeln ersetzen und ein Miteinander in der Gesellschaft erst ermöglichen. Natürlich sind auch hier wie bei der Sexualerziehung die gesetzten Maßstäbe von gesamtgesellschaftlichen Größen abhängig. Heutzutage lässt sich eine allgemein anerkannte Sexualethik faktisch nicht mehr formulieren, allerdings haben sich mit dem zunehmenden Individualisierungsprozess unserer Gesellschaft mehrere „im Sinne des demokratischen Prinzips... einander gleichrangige Wertsysteme“[80] entwickelt, die dem Einzelnen, solange er nicht die Interessen anderer beeinträchtigt, im Sinne des Rechts auf Selbstbestimmung Handlungsalternativen anbieten.[81]

Durch diese Normenpluralität ist es jedem relativ freigestellt, „die ihm angemessenen Wertvorstellungen auf sein Leben anzuwenden, zu erfahren und gegebenenfalls neu zu definieren... Die Bestimmung, die die Sexualität in der interpersonellen Begegnung letztlich einnimmt, obliegt zur Gänze den Betroffenen. Ob die primäre Bedeutung sexuellen Handelns in einer momentanen Situation Ausdruck der Liebe, ein biologisches Bedürfnis, Freude an der wechselseitigen lustvollen Stimulierung, ein kommunikationsvertiefendes Mittel, körperliche Entspannung, ein Beitrag zur Selbstverwirklichung, geistig-seelische Beglückung ist und / oder den (gemeinsamen) Wunsch nach einem Kind einschließt – immer bleibt die Kompetenz der qualitativen Beurteilung dieser oder anderer Funktionen bei den jeweiligen Partnern.“

Valtl spricht im Zusammenhang mit einer emanzipatorischen Sexualpädagogik davon, dass diese den Menschen die Mühe einer eigenen Sinnsuche zumute, Erziehung als zieloffenen Prozess begreife und den Kern der Person als letztlich unverfügbar für pädagogische Einflussnahme achte; „Sie orientiert sich an einer Kompetenzethik und unterstützt das Individuum darin, die Fähigkeit zur eigenständigen und partnerschaftlichen Gestaltung des sexuellen Lebens zu entwickeln... Wo jedoch eine fertige Konzeption des gelungenen Lebens / der gelungenen Sexualität pädagogisch verordnet wird, führt dies letztlich in ein totalitäres System. Solange wir um Utopien streiten, ist es gut. Sobald wir eine für allgemein gültig erklären, geht es schief.“[82] Auch Schmidt vertritt einen ähnlichen Ansatz: „Der ausdrückliche verbale Konsens... ist zentrale Kategorie der Interaktionsmoral, die Volkmar Sigusch deshalb auch `Konsensmoral` genannt hat. Da sie nicht sexuelle Handlungen oder Praktiken bewertet, sondern die Art und Weise ihres Zustandekommens, hat die Interaktionsmoral durchaus liberale Züge... Ob hetero-, homo- oder bisexuell, ehelich oder außerehelich, genital, anal oder oral, zart oder ruppig, bieder oder raffiniert, sadistisch oder masochistisch – all das ist ohne Belang. Von Belang ist, dass es ausgehandelt wird.“[83]

4. Geistige Behinderung

4.1. Auch hier: Begriffsunsicherheit

Wie schon der Begriff „Sexualität“, ist auch der generell gewählte Ausdruck „Behinderung“ nur auf den ersten Blick deutlich umrissen und inhaltsklar; viele Autoren betonen dies gleich zu Beginn ihrer Literatur und bieten verschieden umfangreiche Definitionen an (Hensle, Friske, Pixa-Kettner und andere).

Hensle hält die Mühe für lohnend, „einen Begriff an seine historischen Wurzeln zurückzuverfolgen“, und bezieht sich auf Darstellungen von Schworm[84], nach welchem das Substantiv wie auch das Verb „behindern“ zuerst bei zwei Autoren des frühen 18. Jahrhunderts zu finden sind. Ursprünglich hatte „hindern“ die räumliche Bedeutung von „eine Sache nach hinten stellen“, erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff „auf seinen jetzigen Gegenstandsbereich... angewandt. Noch 1906 hatte Biesalski nicht etwa eine Körperbehinderten-, sondern eine `Krüppelzählung` durchgeführt.“[85]

Nach 1918 empfanden Kriegsbeschädigte es als diskriminierend, nach ihrem Dienst am Vaterland als „Krüppel“ bezeichnet zu werden, zudem deckte diese Bezeichnung nicht die kriegsbedingten Seh- und Hörschädigungen ab. Der Begriff der Behinderung begann allmählich, sich einzubürgern; 1938 spricht das Reichsschulpflichtgesetz von einer Schulpflicht geistig und körperlich behinderter Kinder. Erst 1957 allerdings wurde durch eine Neufassung des Körperbehindertengesetzes das Wort „Krüppel“ durch „Körperbehinderte“ aktualisiert, der Begriff setzte sich nun langsam auch für andere Behindertengruppen durch. In der Heilpädagogik wird der „Begriff `Behinderungen`... im Sinne von `anormal` seit 1958 von Egenberger “ verwendet.[86]

Hensle stellt fest, dass in den letzten Jahren Tendenzen zu beobachten sind, den Behinderungsbegriff noch weiter auszudehnen und neben Lernbehinderten auch Kinder mit Schulleistungsschwächen oder leichten orthopädischen Haltungsschäden oder sogar psychisch Kranke einzubeziehen: „Ob eine solche Erweiterung des Begriffs sinnvoll ist, mag bezweifelt werden; bekanntlich nimmt mit steigender Extension, dem Geltungsbereich eines Begriffes, seine Intension, sein spezifischer Sinngehalt, ab... Eine angemessene Vertretung der Interessen von Schwerbehinderten könnte damit eher verwässert werden.“

4.2. Historischer Hintergrund

Eine Lobby für Menschen mit geistiger Behinderung hat sich in Deutschland erst vor wenigen Jahrzehnten gebildet. Abgesehen von konfessionellen Trägern wie der Diakonie oder der Caritas, die auch mit ihren Einrichtungen der Behindertenhilfe eher in der langen Tradition christlicher Nächstenliebe mit einem „Schema von Barmherzigkeit und hierarchischer Bevormundung“[87] stehen, bildete sich erst mit Gründung der „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“ im November 1958 ein Verband von geistig behinderten Menschen und deren Eltern, die sich nun aus der Perspektive der Betroffenen für gesellschaftliche Änderungen einsetzten.

Während, wie gezeigt, der Begriff der Behinderung noch recht jung ist, haben natürlich die Behinderungen selbst die Menschheit durch alle Kulturen begleitet – es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, diesen historischen Hintergrund mit seinen so unterschiedlichen Facetten auch nur ansatzweise darstellen zu wollen; kurz gesagt allerdings scheint bis auf wenige Ausnahmen[88] immer und überall die Situation geistig behinderter Menschen von dem gesellschaftlichen Bestreben geprägt gewesen zu sein, „sie aus der Gesellschaft der sogenannten Gesunden und Nichtbehinderten auszugliedern. Durch die Geschichte der Menschheit wurde das Schicksal geistig Behinderter bestimmt von Vorurteilen, Aberglauben und Ablehnung seitens ihrer Umwelt, trugen sie das Stigma des Andersartigen, Fremden, Kultisch-Unreinen...“[89]

[...]


[1] Die Namen sind geändert

[2] Zu diesem Punkt vgl. auch: „Eines Tages wird Denis seinen Eltern über den Kopf wachsen / Das behinderte Ehepaar W. zieht ein gesundes Baby auf / Praunheimer Werkstätten bieten sozialpädagogische Familienhilfe“, Frankfurter Rundschau vom 13. Mai 2000, S. 29

[3] Schwarte und Oberste-Ufer sprechen nicht von „Bewohnern einer Wohnstätte“, sondern von „Nutzern von Angeboten und Dienstleistungen im Bereich des Wohnens“, um deren aktive Beteiligung „an allen Prozessen bei der Erbringung psychosozialer Dienstleistungen“ zu betonen. Der Wertewechsel vom übergeordneten Erzieher zum Dienstleister (als Quasi-Angestellter von Menschen mit Behinderung) ist offensichtlich (vgl. Schwarte / Oberste-Ufer, LeWo, S. 8). Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich aber bei den Begriffen „Bewohnerinnen und Bewohner“ bleiben, da ich sie für mich persönlich und in meinem momentanen Arbeitsumfeld als wertungsfrei empfinde. – Eine weiterentwickelte und verbesserte Version von LeWo ist seit Mitte April 2001 bei der Lebenshilfe Marburg erhältlich (vgl. auch LeWo II: http://www.uni-siegen.de/~zpe/LEWO.htm, Stand 10. April 2001)

[4] Pixa-Kettner, „Dann waren sie sauer auf mich, dass ich das Kind haben wollte“, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Bonn 1996

[5] Pixa-Kettner, „Dann waren sie sauer auf mich...“, S. 230

[6] Nach dem „Einrichtungsverzeichnis Westfalen-Lippe, Hrsg. LWL“, Stand September 1999, gibt es neben zahlreichen kleineren Einrichtungen für Erwachsene mit geistiger Behinderung immer noch 21 Großeinrichtungen mit über 100 Plätzen; addiert ergeben sich 5401 Plätze (Zweigstellen und Außenwohngruppen nicht mit eingerechnet). Die Spitze belegen das Sozialwerk St. Georg in Gelsenkirchen mit 559 und Bethel mit 1577 Plätzen

[7] Nach www.muenster.de/lwl/ , Stand 10. April 2001

[8] Quelle: www.kreis-recklinghausen/de, Stand: 10. April 2001

[9] Walter / Hoyler-Herrmann, Erwachsensein und Sexualität..., S. 98

[10] http://bidok.uibk.ac.at/allgem/einleit.html, Stand: 10. April 2001

[11] Friske weist in „Als Frau geistig behindert sein“, S. 12; darauf hin, dass sie „explizit von Frauen“ spricht und Zitate auch in diesem Sinne verändert hat, um die Perspektive zu beeinflussen und „eine Orientierung auf die Situation der Frau“ zu unterstützen

[12] Zitiert in Achilles, Ilse: Was macht Ihr Sohn denn da, S. 97

[13] Nach Müller (Skeptische Sexualpädagogik, S.41) erhält allein BRAVO pro Monat etwa 3000 Briefe von Jugendlichen mit Fragen zur Sexualität (1992)

[14] Nach einer Untersuchung der focus-online-GmbH steht der Begriff „sex“ an erster Stelle, es folgen 2. nude, 3. monkey, 4. pictures, 5. com, 6. adult, 7. free, 8. www, 9. chat, 10. software, 11. university, 12. naked, 13. xxx, 14. porn, 15. porno, 16. http, 17. women, 18. windows, 19. girl, 20. news, 21. games, 22. gay, 23. pussy, 24. music, 25. erotic. Zitiert in: BZgA, Forum Sexualaufklärung 4 – 1997, S. 8

[15] Lautmann, Rüdiger: Die gesellschaftliche Thematisierung der Sexualität, zitiert in: Müller, Skeptische Sexualpädagogik, S. 62

[16] Zitiert bei Gademann, Erziehung zur Liebesfähigkeit, S. 22

[17] Lempp, Reinhart: Pubertät und Adoleszenz beim geistigbehinderten Menschen, zitiert bei Walter, Sexualität und geistige Behinderung, S. 179. - Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde unter dem wissenschaftlichen Begriff „Sexualität“ nur die Fortpflanzung verstanden. In seiner Schrift „Über `wilde` Psychoanalyse“ distanzierte sich Freud von diesem einengenden Verständnis und rechnete zum „Sexualleben auch alle Betätigungen zärtlicher Gefühle“ und gebrauchte das Wort Sexualität „in demselben umfassenden Sinne, wie die deutsche Sprache das Wort `lieben`“ (Freud, GW VIII, S. 120, zitiert in Walter / Hoyler-Herrmann, Erwachsensein und Sexualität..., S. 100)

[18] Kluge, Einführung in die Sexualpädagogik, S. 2

[19] Dieses und das folgende Zitat in: Friske, Andrea: Als Frau geistig behindert sein, S. 120

[20] Von Sydow, Sexualität ist gleich Geschlechtsverkehr?!, in: BZgA, Sexualpädagogik zwischen Persönlichkeitslernen und Arbeitsfeldorientierung, S. 14

[21] WHO´s current technical definitions related to reproductive health in PROGRESS in Human Reproduction Research, No. 30 / 1994, zitiert in BZgA, Rahmenkonzept Sexualaufklärung für Jugendliche, S. 4, und in BZgA, Sexualpädagogik zwischen Persönlichkeitslernen und Arbeitsfeldorientierung, S. 9

[22] U.a. in: BZgA, Sexualpädagogik zwischen Persönlichkeitslernen und Arbeitsfeldorientierung, S. 34, und Walter, Sexualität und geistige Behinderung, S. 34f, beides aus Offit, A., Das sexuelle Ich, Stuttgart 1979

[23] Schröder, S.: Beschützte Ehen bei geistig Behinderten. In Kluge / Sparty (Hrsg.): Sollen, können, dürfen Behinderte heiraten? Bonn 1977, zitiert in: Lempp, Reinhart, Pubertät und Adoleszenz beim geistigbehinderten Menschen, in: Walter, Sexualität und geistige Behinderung, S. 179. - In der mir vorliegenden Ausgabe von Kluge / Sparty konnte ich dieses Zitat nicht finden. – Pixa-Kettner bezeichnet das Buch von Kluge und Sparty lakonisch als „aus heutiger Sicht bemerkenswert antiquiert“ (Dann waren sie sauer auf mich..., S. 2)

[24] Lempp, Reinhart, Pubertät und Adoleszenz beim geistigbehinderten Menschen, in: Walter, Sexualität und geistige Behinderung, S. 179

[25] Herrath, Frank: Sexualität und Sprache, in: Dunde, Handbuch Sexualität, S. 253

[26] Van Ussel, Sexualunterdrückung, S. 8

[27] So kannte man laut van Ussel (S. 9) in der französischen Sprache des 16. Jahrhunderts etwa dreihundert verschiedene Ausdrücke allein für den Geschlechtsverkehr und vierhundert für die Genitalien

[28] Vgl. auch: Herrath, Frank: Sexualität und Sprache, in: Sexualpädagogik zwischen Persönlichkeitslernen und Arbeitsfeldtheorien, S. 36ff. - Ein Nichtbenennen oder Nichtbenennenkönnen von Körperteilen hat in der Sexualerziehung weitreichende Auswirkungen. Vor allem älteren Eltern und Erziehenden in Kindergärten oder Wohnstätten fehlt es oft an Ausdrücken, um unbefangen „darüber“ zu sprechen. Die Sprachlosigkeit setzt sich fort. Vgl. Kentler, Eltern lernen Sexualerziehung, S. 20f.

[29] Van Ussel, Sexualunterdrückung, S. 9

[30] Van Ussel, Sexualunterdrückung, S. 9f.

[31] Lesenswert sind in diesem Zusammenhang Ariès Beschreibungen der Erziehung Ludwigs XIII (Ariès, Geschichte der Kindheit, Von der Schamlosigkeit zur Unschuld, S. 175ff.)

[32] Sehr interessante Beispiele über Auffassungen von Sexualität, die sich von unseren deutlich unterscheiden, nennen Kentler in „Eltern lernen Sexualerziehung“ (S. 23ff.) am Beispiel der Muria in Vorderindien und der mitteleuropäischen Gesellschaft um 1600, Ewers anhand einer kurzen Zusammenfassung von Mead und Malinowski (in: Ewers, Grundlagen und Didaktik der Sexualerziehung, S. 40ff.), und Sielert in einem Abschnitt über Rollenmuster auf Bali und in Arabien (in: Sielert, Sexualpädagogik, S. 163f.)

[33] Bundesvereinigung Lebenshilfe: Sexualpädagogische Materialien, LeWo; BZgA: Forum Sexualaufklärung und Familienplanung; Friske: Als Frau geistig behindert sein; Hoyler - Herrmann: Sexualpädagogische Arbeitshilfe; Krebs, Molinski und Couchoud / Neumann jeweils in Walter, Sexualität und Behinderung; u.a.

[34] Sporken, Geistige Behinderte, Erotik und Sexualität, S. 159

[35] Vgl. Hoyler-Herrmann / Walter, Sexualpädagogische Arbeitshilfe, S. 13

[36] Kluge, Einführung in die Sexualpädagogik, S. 2f.

[37] Kentler, Sexualwesen Mensch, zitiert in: Walter / Hoyler-Herrmann, Erwachsensein und Sexualität..., S. 99

[38] Kluge, Einführung in die Sexualpädagogik, S. 3

[39] R. Fricker / J. Lerch: Zur Theorie der Sexualität und der Sexualerziehung. Weinheim 1976, S. 97. Zitiert bei Kluge, Einführung in die Sexualpädagogik, S. 4 (Auslassung durch Kluge)

[40] Kluge bemerkt lakonisch, dieser Ansatz sollte „von den Autoren noch einmal überdacht und korrigiert werden“ (Einführung in die Sexualpädagogik, S. 22). Nach der mir vorliegenden Literatur scheinen Kluge und Hoyler-Herrmann überhaupt die einzigen Verfasser zu sein, der dieser Definition wenigstens einige Zeilen zugestehen

[41] Kentler, Eltern lernen Sexualerziehung, S. 10

[42] Koch, Stichwörter zur Sexualerziehung, S. 180

[43] Schmidt, Gunter: Sexuelle Motivation und Kontrolle, S. 32, zitiert von Kluge, Einführung in die Sexualpädagogik, S. 20

[44] Whalen, R. E.: Sexual Motivation. In: Psych. Rev. 73 (1966). Genannt bei Kluge, Einführung in die Sexualpädagogik, S. 21

[45] Kluge, Einführung in die Sexualpädagogik, S. 21

[46] Schmidt, Gunter: Sexuelle Motivation und Kontrolle. Zitiert bei Koch, Stichwörter zur Sexualerziehung, S. 181

[47] Kentler, Eltern lernen Sexualerziehung, S. 13

[48] Vgl. auch Walter / Hoyler-Herrmann, Erwachsensein und Sexualität..., S. 109

[49] Nägele spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von „sexuellem Analphabetismus“ (Nägele, Literatur zur Sexualaufklärung..., S. 44)

[50] Kentler, Eltern lernen Sexualerziehung, S. 15

[51] Vgl. Kentler, Eltern lernen Sexualerziehung, S. 14ff.

[52] Dieses und die folgenden Zitate in: Sielert, Sexualpädagogische Materialien für die Jugendarbeit in Freizeit und Schule, S. 14f.

[53] Friske, Als Frau geistig behindert sein, S. 121, zusammengefasst nach Sielert, Sexualpädagogische Materialien für die Jugendarbeit in Freizeit und Schule, S. 15

[54] Sielert, Sexualpädagogische Materialien für die Jugendarbeit in Freizeit und Schule, S. 15

[55] Sielert, Sexualpädagogische Materialien für die Jugendarbeit in Freizeit und Schule, S. 15

[56] Feuser, Georg: Sexualität und Sexualerziehung bei geistig Behinderten, in: Geistige Behinderung, Heft 4, 194-208, zitiert in: Friske, Als Frau geistig behindert sein, S. 122. Auslassungen durch Friske

[57] Fütterer / Siegel, Ethische und theologische Überlegungen zur Sexualität bei Menschen mit geistiger Behinderung, in: Walter, Sexualität und geistige Behinderung, S. 82

[58] Ewers, Grundlagen und Didaktik der Sexualerziehung, S. 5

[59] Nach Walter / Hoyler-Herrmann, Erwachsensein und Sexualität..., S. 247, haben besonders Adorno, Fromm und Horkheimer die Zusammenhänge zwischen sexualunterdrückender Erziehung und autoritärer Persönlichkeitsstruktur analysiert

[60] Vgl. auch van Ussel, Sexualunterdrückung, S. 54

[61] Walter / Hoyler-Herrmann, Erwachsensein und Sexualität..., S. 245

[62] Kentler (Jahrgang 1928) schreibt, wie er selbst von seinem Vater aufgeklärt wurde: „Einen Tag vor meiner Konfirmation machte er einen Spaziergang mit mir, und ich kann noch angeben, an welchem Fleck es passierte: Ecke Prinzregentenstraße und Berlinerstraße. Mein Vater sagte, nachdem er lange gedruckst hatte, zwei Dinge zu mir, erstens: `Lege nie Hand an Dich selbst`. Heute wundere ich mich darüber, dass ich das nicht als Warnung vor Selbstmordversuchen aufgefasst habe, und dann zweitens: `Nimm Dich in acht, da gibt es so Männer, die wollen an Dich ran.` ... Wenn mein Vater nicht so aufgeregt gewesen wäre, wäre ihm sicher noch sehr viel mehr eingefallen, aber er hatte immer gesagt: `Nein, nein, tu´s nicht.` Kein einziges Wort fand er dafür, was ich tun sollte und wie, so dass es moralisch sei.“ (Kentler, Sexualität und Moral, in: Gamm, Bilanz der Sexualpädagogik, S. 91)

[63] Von Schlözer beispielsweise empfahl als Antwort auf die Frage nach der Herkunft der Kinder, sie seien eine Gabe Gottes; weitere „specielle Umstände“ könne man „später hinzuthun, und eine Mutter z.Ex. kann ihrer Tochter, zwischen der Zeit ihrer Verheyrathung und ersten Entbindung, noch Dinge sagen, worinnen sie vor dieser Zeit ohne allen Schaden und zu besorgende Gefahr ganz unwissend seyn konnte.“ (Zitiert in Plenz, Wie ist das mit dem Sex, S. 133)

[64] Nägele, Literatur zur Sexualaufklärung..., S. 15

[65] Marburger, Helga, Thema: Sexualität, S. 24, zitiert in: Müller, Skeptische Sexualpädagogik, S. 114

[66] Kluge, Sexualerziehung statt Sexualaufklärung, S. 113

[67] Kilian, Die Ideologie der Liebe, in: Haun, Geschlechtserziehung heute, S. 101, zitiert in: Müller, Skeptische Sexualpädagogik, S. 85

[68] Diese und das folgende Zitat in: Etschenberg, Karla, Sexualerziehung, in: Dunde, Handbuch Sexualität, S. 244

[69] Müller, Skeptische Sexualpädagogik, S. 119

[70] Gademann, Erziehung zur Liebesfähigkeit, S. 20f. Der Ausdruck „Onanie“ ist natürlich falsch. Dieser immer noch geläufige Begriff bezieht sich auf Onan, einen Sohn Judas, der im AT erwähnt wird (1.Mose 38, 8-11): „ Da sprach Juda zu Onan: Geh zu deines Bruders Frau und nimm sie zur Schwagerehe, auf dass du deinem Bruder Nachkommen schaffest. Aber da Onan wusste, dass die Kinder nicht sein eigen sein sollten, ließ er`s auf die Erde fallen und verderben, wenn er einging zu seines Bruders Frau, auf dass er seinem Bruder nicht Nachkommen schaffe. Dem Herrn missfiel aber, was er tat, und er ließ ihn auch sterben.“ Die Verse wurden jahrhundertelang gezielt so interpretiert und verbreitet, als ob Onan zur Strafe für Selbstbefriedigung starb, was natürlich ein gewichtiges Argument für ein Verbot gewesen wäre; Gott bestraft Onan aber wegen seines Ungehorsams (ganz abgesehen davon, dass es sich offensichtlich nicht um Selbstbefriedigung, sondern um unterbrochenen Geschlechtsverkehr handelt). Die Verwendung des Begriffs „Onanie“ impliziert immer eine drohende Gottesstrafe und sollte damit vermieden werden. „Dies ist sicher ein besonders krasses Beispiel – aber leider nicht das einzige – für den ideologischen Missbrauch von Theologie als Machtinstrument, um eigene rigide sexualmoralische Vorstellungen durchzusetzen“ (Fütterer / Siegel, Ethische und theologische Überlegungen..., in: Walter Sexualität und geistige Behinderung, S. 79). - Im übrigen bin ich überrascht, wie beharrlich sich dieser falsche Begriff selbst bei liberalen Sexualpädagogen hält (z.B. Gademann, Walter, Hoyler-Herrmann)

[71] Borneman, Ernest, Sexualität und Sprache, in: Kluge, Handbuch der Sexualpädagogik, S. 139f., zitiert in Müller, Skeptische Sexualpädagogik, S. 95

[72] Kentler, Repressive und nicht-repressive Sexualerziehung im Jugendalter, 1967, S. 31, zitiert in: Nägele, Literatur zur Sexualaufklärung..., S. 105

[73] Fütterer / Siegel, Ethische und theologische Überlegungen zur Sexualität bei Menschen mit geistiger Behinderung, in: Walter, Sexualität und geistige Behinderung, S. 78f. Beide Autoren sind evangelische Pfarrer

[74] Hingewiesen sei hier nur auf Fütterer / Siegel, Ethische und theologische Überlegungen zur Sexualität bei Menschen mit geistiger Behinderung, in: Walter, Sexualität und geistige Behinderung, S. 78ff. und die sehr detaillierten Ausführungen von van Ussel, z.B. S. 118ff.

[75] Vgl. van Ussel, Sexualunterdrückung, S. 50f.

[76] Sporken, Geistig Behinderte, Erotik und Sexualität, S. 175. – Sporken meint an dieser Stelle zwar Körperbehinderte, aber aus dem weiteren Textzusammenhang wird die Gültigkeit auch für Menschen mit geistiger Behinderung deutlich

[77] Nach dem seit 1983 (!) gültigen Gesetzbuch der katholischen Kirche „ Codex Iuris Canonici “ kann eine Trauung nur dann kirchenrechtlich gültig vollzogen werden, wenn bei keinem der ehewilligen Partner ein geschlechtliches Unvermögen vorliegt: „Die Eheschließenden müssen fähig sein, die geschlechtliche Vereinigung miteinander zu vollziehen. Nach c.1084 § 1 ist die a) bei Abschluss der Ehe (ante-cedes), b) dauernde (perpetua), c) absolute wie relative Impotenz ein trennendes Ehehindernis“ (nach Schwendenwein, Hugo: Das Neue Kirchenrecht, in: Nägele, Literatur zur Sexualaufklärung..., S. 17). Nach Nägele kann damit beispielsweise ein querschnittsgelähmter Mann seitens der katholischen Kirche mit einem Trauungsverbot belegt werden. Die Fähigkeit zur Zeugung wird also durch dieses Recht über die Fähigkeit der „ehelichen Liebe“ gehoben. – Dass Vergewaltigung in der Ehe erst durch die Sexualstrafrechtsreform von 1997 strafbar wurde (§ 177 StGB), zeigt deutlich, dass bis dahin innerhalb der Ehe anscheinend jede Art von Geschlechtsverkehr gesellschaftlich akzeptiert und damit erlaubt war

[78] Nägele bemerkt zurückhaltend, dass eine solche Sexualmoral „ihrer Struktur und Wirkung gemäß eigentlich nicht mehr in Übereinstimmung mit demokratischen Grundsätzen steht“ (Nägele, Literatur zur Sexualaufklärung für Kinder und Jugendliche, S. 11)

[79] Bartholomäus, Wolfgang, Sexualmoral / Sexualethik, in Dunde, Handbuch Sexual., S. 261

[80] Dieses und das folgende Zitat: Nägele, Literatur zur Sexualaufklärung für Kinder und Jugendliche, S. 13

[81] Inhaltlich immer noch aktuell sind die zwei vielzitierten Prinzipien von Comfort aus dem Jahr 1968, die sich als Minimalkonsens anbieten: „Du sollst die Gefühle eines Menschen nicht rücksichtslos ausnutzen und ihn mutwillig enttäuschenden Erfahrungen aussetzen“ und „Du sollst unter keinen Umständen fahrlässig die Zeugung eines unerwünschten Kindes riskieren“. Heute wäre noch die Notwendigkeit der Aids-Prävention hinzuzufügen. Die Formulierung dieser Prinzipien als Verbote allerdings stößt sich mit der Idee der „freigebenden Sexualmoral“, die Bartholomäus fordert; eine Umformulierung mit Begriffen wie Sympathie, Anteilnahme, Wertschätzung, Freundschaft, Liebe wäre also empfehlenswert (Comfort, Alex, Der aufgeklärte Eros, Plädoyer für eine menschenfreundliche Sexualmoral, Hamburg 1968, zitiert in Hoyler-Herrmann, Sexualpädagogische Arbeitshilfe, S. 99)

[82] Valtl, Karlheinz, Essentials einer emanzipatorischen Sexualpädagogik, in: Sexualpädagogik zwischen Persönlichkeitslernen und Arbeitsfeldorientierung, S. 19f.

[83] Schmidt, Gunter, Das Verschwinden der Sexualmoral, in: BZgA, Sexualpädagogik zwischen Persönlichkeitslernen und Arbeitsfeldorientierung, S. 66

[84] Schworm, E.: Behinderung, Störung, Beeinträchtigung als sonderpädagogische Begriffe; Heilpädagogische Forschung 6, 1975, S. 66 – 105, zitiert in Hensle, Einführung in die Arbeit mit Behinderten, S. 15f.

[85] Dieses und das folgende Zitat: Hensle, Einführung in die Arbeit mit Behinderten, S. 15ff.

[86] Schmutzler, Heilpädagogisches Grundwissen, S. 13. Ohne Angaben zu Egenberger

[87] Fütterer / Siegel, Ethische und theologische Überlegungen zur Sexualität bei Menschen mit geistiger Behinderung, in: Walter, Sexualität und geistige Behinderung, S. 79

[88] Hensle erwähnt altorientalische Kulturen, denen eine eher respektierende Haltung gegenüber Behinderten zugesprochen wird, vgl. Hensle, Einführung in die Arbeit mit Behinderten, S. 35ff. Vgl. auch: Dreezens-Fuhrke, Das Phänomen Behinderung aus ethnologischer Sicht: Die „Schamlosen“ und die „Weisen“, Zur gesellschaftlichen Stellung von Behinderten auf Java, in: Eberwein / Sasse: Behindert sein oder behindert werden, S. 27ff.

[89] Dieses und die folgenden Zitate: Bundesvereinigung Lebenshilfe, Das Recht auf Leben ist unantastbar, S. 8f.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2001
ISBN (eBook)
9783832448455
ISBN (Paperback)
9783838648453
DOI
10.3239/9783832448455
Dateigröße
1.8 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe – Heilpädagogik
Erscheinungsdatum
2001 (Dezember)
Note
1,0
Schlagworte
heilpädagogik
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Titel: '...aber wünschen kann ich mir ein Kind doch trotzdem' - Zu Sexualität und Elternschaft bei geistig behinderten Menschen
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