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Körperbehinderte Fußballfans

"Im Stadion befinde ich mich in einer anderen Welt"

©2001 Diplomarbeit 106 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Was ist so außergewöhnlich an einem Fußballspiel, dass Woche für Woche Hunderttausende von Fans in die Stadien strömen?
Lautstarke Sprechchöre, die schon von weitem hörbar sind und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermitteln; der Anblick der Massen, wie sie angespannt und erwartungsvoll dem Anpfiff entgegenfiebern und nicht zuletzt der Freudentaumel, wenn die eigene Mannschaft ein Tor erzielt – das sind die Momente, die einen alles andere vergessen lassen.
Als Kind noch in Begleitung meines Vaters, zieht es mich heute mit Freunden ins Stadion. Bei Heimspielen meines Lieblingsvereines habe ich oft verwundert zu den Rollstuhlfahrern, unten am Spielfeldrand, hinübergesehen. Gleichzeitig gehen mir die Bilder durch den Kopf, wie Giovanni Elber vom FC Bayern München nach einem Torerfolg zu einem Rollstuhlfahrer läuft und ihm das Trikot überreicht. An diesem Tag herrschte ziemlich schlechtes Wetter, nie und nimmer wäre ich auf die Idee gekommen, mir das Spiel vor Ort anzuschauen. Auch bei Übertragungen von Fußballbegegnungen im Fernsehen sind fast immer Rollstuhlfahrer zu sehen. Die Frage, welche ich mir immer wieder gestellt habe: Was ist für sie das Besondere am Live-Erlebnis Fußball, wenn sie zur gleichen Zeit das Spiel hätten im Fernsehen verfolgen können?
Vor diesem Hintergrund kam in mir der Wunsch auf, mich intensiver mit dem Phänomen der körperbehinderten Fußballfans zu befassen. Im Zusammenhang mit dem, von mir gewählten, Studienschwerpunkt Rehabilitationspädagogik, habe ich die Möglichkeit gesehen, dieses Thema in Form einer Diplomarbeit zu bearbeiten. Dabei war für mich von besonderem Interesse, ob sich in der Bedeutung des „Fanseins“ Unterschiede zwischen Körperbehinderten und Nichtbehinderten erkennen lassen. Außerdem wollte ich der Frage nachgehen, inwieweit sich die Rollstuhlfahrer, durch die räumliche Trennung von Nichtbehinderten, in die Fangemeinschaft einbezogen fühlen.
Wie sich im Laufe meiner Recherche sehr bald feststellen ließ, existieren zu dem Thema „Körperbehinderte Fußballfans“ keinerlei Veröffentlichungen. Bis zum Abschluss meiner Ausarbeitungen bin ich weder in Büchern oder Zeitungsartikeln, noch im Internet, auf Informationen dazu gestoßen. Bei weiteren Nachforschungen zeigte sich deutlich, dass der gesamte Freizeitbereich behinderter Menschen sehr wenig Aufmerksamkeit erfährt. Dies erklärt zudem, weshalb hinsichtlich dieser Thematik, kaum aktuelle Untersuchungen zu finden sind. Von Anfang an […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 4767
Scheibner, Sven: Körperbehinderte Fußballfans - "Im Stadion befinde ich mich in einer anderen
Welt"
Hamburg: Diplomica GmbH, 2001
Zugl.: Merseburg, Fachhochschule, Diplomarbeit, 2001
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Diplomica GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2001
Printed in Germany

Das Land der Hinkenden
Vorzeiten gab´s ein kleines Land,
Worin man keinen Menschen fand,
Der nicht gestottert, wenn er red´te,
Nicht, wenn er ging, gehinket hätte;
Denn beides hielt man für galant.
Ein Fremder sah den Übelstand;
Hier, dacht er, wird man dich im Gehn bewundern müssen,
Und ging einher mit steifen Füßen.
Er ging, ein jeder sah ihn an,
Und alle lachten, die ihn sahn,
Und jeder blieb vor Lachen stehen
Und schrie: Lehrt doch den Fremden gehen!
Der Fremde hielt´s für seine Pflicht,
Den Vorwurf von sich abzulehnen.
Ihr, rief er, hinkt, ich aber nicht:
Den Gang müßt ihr euch abgewöhnen!
Das Lärmen ward noch mehr vermehrt,
Da man den Fremden sprechen hört´.
Er stammelt´ nicht; genug der Schande!
Man spottet´ sein im ganzen Lande.
Gewohnheit macht den Fehler schön,
Den wir von Jugend auf gesehn.
Vergebens wird´s ein Kluger wagen
Und, daß wir töricht sind, uns sagen.
Wir selber halten ihn dafür,
Bloß weil er klüger ist als wir.
Christian Fürchtegott Gellert (aus ,,Fabeln und Erzählungen", Erstes Buch)

I
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung
1
2 Körperbehinderung
4
2.1 Begriffsdefinition Behinderung
4
2.2 Begriffsdefinition Körperbehinderung
7
2.3 Erscheinungsformen der Körperbehinderung
10
2.4 Psychologie der Körperbehinderung
13
2.4.1 Tiefenpsychologische Ansätze
14
2.4.2 Sozialpsychologische Ansätze
15
3 Freizeit von Körperbehinderten
18
3.1 Begriffsdefinition Freizeit
19
3.2 Freizeitsituation von Menschen mit Körperbehinderung
22
3.2.1 Zusammenhänge zwischen Körperbehinderung
und Freizeitverhalten
23
3.2.2 Freizeitinteressen Körperbehinderter
25
3.2.3 Auswirkungen der Bewegungs- und
Mobilitätseinschränkungen
25
3.3 Integration im Freizeitbereich
29
3.3.1 Was ist Integration?
29
3.3.2 Integrative Pädagogik der Freizeit
32
4 Körperbehinderte Fußballfans
34
4.1 Faszination Fußball - mehr als nur ein Zuschauersport
34
4.2 Das Stadion - der Ort des Geschehens
36
4.3
Fußballfans
38
4.3.1 Fans als Subgruppe innerhalb der Zuschauermasse
40
4.3.2 Fanverhalten als kompensatorische Reaktion
42

II
4.4 Bedeutung des ,,Fanseins" für Körperbehinderte
45
4.4.1 Die Integration im Stadion
49
4.4.2 Das ,,Fansein" als Möglichkeit der Kompensation
53
4.5 Die Situation Körperbehinderter im Stadion
55
4.6 Ansätze und Beispiele von Problemlösungen
59
5
Schlussbetrachtung
62
Literaturverzeichnis
66

Kapitel 1
Einleitung
1
1. Einleitung
Was ist so außergewöhnlich an einem Fußballspiel, dass Woche für Woche
Hunderttausende von Fans in die Stadien strömen?
Lautstarke Sprechchöre, die schon von weitem hörbar sind und ein Gefühl der
Zusammengehörigkeit vermitteln; der Anblick der Massen, wie sie angespannt
und erwartungsvoll dem Anpfiff entgegenfiebern und nicht zuletzt der
Freudentaumel, wenn die eigene Mannschaft ein Tor erzielt ­ das sind die
Momente, die einen alles andere vergessen lassen.
Als Kind noch in Begleitung meines Vaters, zieht es mich heute mit Freunden ins
Stadion. Bei Heimspielen meines Lieblingsvereines habe ich oft verwundert zu
den Rollstuhlfahrern, unten am Spielfeldrand, hinübergesehen. Gleichzeitig gehen
mir die Bilder durch den Kopf, wie Giovanni Elber vom FC Bayern München
nach einem Torerfolg zu einem Rollstuhlfahrer läuft und ihm das Trikot
überreicht. An diesem Tag herrschte ziemlich schlechtes Wetter, nie und nimmer
wäre ich auf die Idee gekommen, mir das Spiel vor Ort anzuschauen. Auch bei
Übertragungen von Fußballbegegnungen im Fernsehen sind fast immer
Rollstuhlfahrer zu sehen. Die Frage, welche ich mir immer wieder gestellt habe:
Was ist für sie das Besondere am Live-Erlebnis Fußball, wenn sie zur gleichen
Zeit das Spiel hätten im Fernsehen verfolgen können?
Vor diesem Hintergrund kam in mir der Wunsch auf, mich intensiver mit dem
Phänomen der körperbehinderten Fußballfans zu befassen. Im Zusammenhang mit
dem, von mir gewählten, Studienschwerpunkt Rehabilitationspädagogik, habe ich
die Möglichkeit gesehen, dieses Thema in Form einer Diplomarbeit zu bearbeiten.
Dabei war für mich von besonderem Interesse, ob sich in der Bedeutung des
,,Fanseins" Unterschiede zwischen Körperbehinderten und Nichtbehinderten
erkennen lassen. Außerdem wollte ich der Frage nachgehen, inwieweit sich die
Rollstuhlfahrer, durch die räumliche Trennung von Nichtbehinderten, in die
Fangemeinschaft einbezogen fühlen.

Kapitel 1
Einleitung
2
Wie sich im Laufe meiner Recherche sehr bald feststellen ließ, existieren zu dem
Thema ,,Körperbehinderte Fußballfans" keinerlei Veröffentlichungen. Bis zum
Abschluss meiner Ausarbeitungen bin ich weder in Büchern oder
Zeitungsartikeln, noch im Internet, auf Informationen dazu gestoßen. Bei weiteren
Nachforschungen zeigte sich deutlich, dass der gesamte Freizeitbereich
behinderter Menschen sehr wenig Aufmerksamkeit erfährt. Dies erklärt zudem,
weshalb hinsichtlich dieser Thematik, kaum aktuelle Untersuchungen zu finden
sind. Von Anfang an hatte ich Bedenken, was die Herangehensweise an die
Diplomarbeit betrifft, da die Dimensionen dieser nicht abzusehen waren.
Mit Hilfe der von mir durchgeführten qualitativen Interviews und Beobachtungen
möchte ich versuchen, einen Einblick in das Ausmaß und den Umfang dieser
Thematik zu geben. Ausgangspunkt meiner Betrachtung ist eine Klärung der
Begriffe Behinderung und Körperbehinderung. Daran anschließend erfolgt ein
Überblick über die Erscheinungsformen von Körperbehinderungen und ihre
psychologischen Auswirkungen auf die Betroffenen. Im weiteren Verlauf stelle
ich Überlegungen zur Freizeitsituation von Menschen mit Körperbehinderung und
deren Integration in diesem Bereich an. Die Untersuchung des Phänomens
,,Fußballfansein" im Allgemeinen bildet die Überleitung zu dem eigentlichen
Schwerpunkt und Hauptteil meiner Arbeit. Im Zentrum dessen steht die Analyse
und Deutung, der aus den Interviews gewonnen Aussagen und den
Beobachtungen. In diesem Zusammenhang kommt es mir besonders darauf an, die
persönlichen Ansichten und Einschätzungen der Betroffenen in den Vordergrund
zu stellen.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, vor dem Hintergrund der Bedeutung des
,,Fanseins", einen möglichst realistischen Einblick in die Gedankenwelt von
Körperbehinderten zu vermitteln. Außerdem möchte ich aufzeigen, welche
Probleme in diesem Kontext auftreten und in welcher Form diese von den
Betroffenen wahrgenommen und bewältigt werden.

Kapitel 1
Einleitung
3
Das sich daraus abzeichnende Tätigkeitsfeld, welches Ansätze für
sozialpädagogisches Handeln bietet, wird zum Abschluss in meine Überlegungen
mit einbezogen.

Kapitel 2
Körperbehinderung
4
2. Körperbehinderung
Bei Menschen mit Körperbehinderung handelt es sich um eine sehr heterogene
Gruppe, als deren gemeinsames Merkmal die Bewegungseinschränkung gilt. Eine
körperliche Behinderung betrifft den Menschen stets in seiner
Gesamtpersönlichkeit. Davon betroffen sind die Motorik, Wahrnehmung,
Kognition und Emotion.
In diesem ersten Kapitel soll eine Klärung des Verständnisses von
Körperbehinderung vorgenommen werden.
Zunächst erfolgt mit Hilfe verschiedener Definitionen eine Bestimmung des
Begriffs ,,Behinderung". Im Anschluss sollen die unterschiedlichen Sichtweisen
(juristische, medizinische, pädagogische) von ,,Körperbehinderung" aufgezeigt
werden.
In einer kurzen Übersicht werden die, für den Arbeitsbereich
Körperbehindertenpädagogik von besonderer Bedeutung, häufigsten
Erscheinungsformen der Körperbehinderung dargestellt. Aufgrund der Vielzahl
von möglichen Körperschäden wird auf eine ausführliche medizinische
Beschreibung einzelner Behinderungsarten verzichtet.
Im weiteren Verlauf dieses Kapitels soll die Körperbehinderung vom
psychologischen Aspekt betrachtet werden. Dabei besonders interessant sind der
tiefenpsychologische und der sozialpsychologische Ansatz.
2.1 Begriffsdefinition Behinderung
Es existieren unterschiedliche Definitionen von Behinderung und somit
verschiedene Herangehensweisen, um den Begriff
zu bestimmen.
Im §39 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) mit Eingliederungs-
hilfeverordnung werden Behinderte wie folgt beschrieben:
,,Personen, die nicht nur vorübergehend körperlich, geistig oder seelisch
wesentlich behindert sind..." (BSHG §39 I).

Kapitel 2
Körperbehinderung
5
Wer der Kategorie ,,wesentlich behindert" angehört, entscheiden die Experten.
Zudem muss die Beeinträchtigung dauerhaft (d.h. mehr als 6 Monate) sein, um
,,Behinderung" von ,,Krankheit" abgrenzen zu können. Diese Definition orientiert
sich ausschließlich an der funktionalen Beeinträchtigung, sie besagt nichts über
die Auswirkungen der Lebensgestaltung des betreffenden Individuums. Somit ist
sie, unter dem sozialpädagogischen Aspekt, unbrauchbar (vgl. Cloerkes, 1997, 4).
Kommen wir zu einer Definition aus der Behindertenpädagogik. Nach Bleidick
gelten Personen als behindert:
,,... die infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, geistigen oder seelischen
Funktionen soweit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbaren
Lebensverrichtungen oder ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft erschwert
werden" (Bleidick, 1998 a, 12).
Besonders wichtig an dieser Definition ist die Dreiteilung in körperliche, geistige
und seelische Beeinträchtigung, die Benennung von ,,Schädigung" als
Ausgangspunkt und der Verweis auf die sozialen Konsequenzen des
Behindertseins (vgl. Cloerkes, 1997, 4).
Nach Bleidick ist das Behindertsein eines Menschen ein komplexer Prozess von
Ursachen und Folgen, unmittelbaren Auswirkungen, individuellem Schicksal und
sozialen Konsequenzen (vgl. Bleidick 1998 a, 12).
Mit diesem mehrperspektivischen Verständnis von Behinderung verbindet
Bleidick die individuellen Schädigungen mit den Erschwernissen bei den
unmittelbaren Lebensverrichtungen und der Teilnahme am öffentlich-
gesellschaftlichen Leben. Allerdings geht er auf die Ursachen beziehungsweise
Bedingungen nicht differenzierter ein.
Eine detailliertere Betrachtung der Erschwernisse im Leben betroffener Menschen
findet sich in der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wieder.
Die WHO legte 1980 ein weitgehend anerkanntes Klassifikationssystem zur
Beschreibung von Behinderungen vor. Darin wird die Behinderung in drei
Dimensionen gegliedert:

Kapitel 2
Körperbehinderung
6
1. Schädigung (Impairment): Störung auf der organischen Ebene
(menschlicher Organismus allgemein)
2. Beeinträchtigung (Disability): Störung auf der personalen Ebene
(Bedeutung für einen konkreten Menschen)
3. Benachteiligung (Handicap): Mögliche Konsequenzen auf der sozialen
Ebene (Nachteile, durch die die Übernahme von solchen Rollen
eingeschränkt oder verhindert wird, die für die betreffende Person in
Bezug auf Alter, Geschlecht, soziale und kulturelle Aktivitäten als
gemessen gelten)
Diese Klassifikation unterscheidet sinnvoll zwischen Schädigung und
Behinderung, außerdem erfolgt mit dieser Dreiteilung ein geeigneter Zugang zur
Thematik.
Die WHO geht davon aus, dass die Schädigung als objektivierbare Abweichung
von der Norm (im organischen Bereich) feststellbar ist. Aber woran lässt sich die
Normabweichung messen und ist die Schädigung immer so leicht feststellbar?
Behinderung könnte genauso, auch ohne objektiven Grund, das Ergebnis eines
sozialen Bewertungs- oder Abwertungsprozesses darstellen. Ebenfalls ist es
möglich, dass sich die Schädigung als Folge einer negativen Bewertung einstellt
(vgl. Cloerkes, 1997, 4-5).
Eine, nach meinem Verständnis, gelungene Definition liefert Cloerkes. Er
beschreibt den Begriff Behinderung wie folgt:
,,Eine Behinderung ist eine dauerhafte und sichtbare Abweichung im
körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich, der allgemein ein entschieden
negativer Wert zugeschrieben wird. Ein Mensch ist behindert, wenn erstens eine
unerwünschte Abweichung von wie auch immer definierten Erwartungen vorliegt
und wenn zweitens deshalb die soziale Reaktion auf ihn negativ ist " (ebd., 6).
Die ,,soziale Reaktion" schließt insbesondere die Gesamtheit der Einstellungen
und Verhaltensweisen auf der informellen Ebene zwischenmenschlicher
Interaktionen ein. Dass heißt, eine Abweichung ruft auf jeden Fall eine Reaktion
hervor.

Kapitel 2
Körperbehinderung
7
Im Vergleich zu den Definitionen der WHO bzw. Bleidick unterscheidet Cloerkes
zwischen ,,Behinderung" und ,,behinderter Mensch". Nach seiner Meinung ist
eine negative Bewertung einer Abweichung als Behinderung nicht automatisch
Bedingung für eine negative Reaktion auf einen Menschen mit dieser
Andersartigkeit. Somit muss zwischen der Bewertung von Behinderung und der
Reaktion auf Behinderte getrennt werden (vgl. ebd., 7).
Auf der Grundlage der Überlegungen zu einer begrifflichen Bestimmung von
,,Behinderung" soll es im weiteren um eine Klärung des Begriffs
,,Körperbehinderung" gehen.
2.2 Begriffsdefinition Körperbehinderung
,,Körperbehinderung ist eigentlich nur ein Oberbegriff für sämtliche
Erscheinungsformen und Schweregrade körperlicher Beeinträchtigungen"
(http://behinderung.org/koe.htm, 10.07.2001).
Der Begriff Körperbehinderung ist vieldeutig. Er wird in der Umgangssprache als
Fachterminus in Medizin, Heil-, Sonder- und Rehabilitationspädagogik gebraucht
und auch vom Gesetzgeber verwendet, so dass eine Festlegung des Begriffsinhalts
im jeweiligen Kontext erforderlich ist (vgl. Wellmitz, 1993, 19).
Im weiteren Verlauf soll eine juristische Definition betrachtet werden.
Nach BSHG §39 (Eingliederungshilfe für Behinderte) lässt sich
Körperbehinderung wie folgt zusammenfassen:
,,Jene Personen sind körperbehindert, die in ihrer Bewegungsfähigkeit durch eine
Beeinträchtigung ihres Stütz- und Bewegungssystems nicht nur vorübergehend
wesentlich behindert sind oder bei denen wesentliche Spaltbildungen des
Gesichtes oder des Rumpfes bestehen" (Schönberger, 1974, zit. in Kampmeier,
1997, 36).

Kapitel 2
Körperbehinderung
8
Kritikwürdig an dieser Definition des BSHG ist, dass die Körperbehinderung als
ein feststehender Defekt des Menschen interpretiert wird. Damit werden alle
psychologischen und sozialpsychologischen Folgen bestimmter
Behinderungsformen außer Acht gelassen. Für die Entwicklung eines behinderten
Kindes können diese von größerer Bedeutung sein als die Behinderung selbst.
In der Medizin wird Behinderung als Schaden (Impairment) beschrieben, der sich
bei einer Untersuchung eines Patienten mittelbar oder unmittelbar feststellen lässt.
Körperschäden entstehen durch Vererbung, Krankheit oder Unfall, dabei kann es
sich um den Verlust oder die Beeinträchtigung von physischen, psychischen oder
geistigen Strukturen und Funktionen handeln. Aus medizinischer Sicht ist in erster
Linie der anatomisch-physische Bereich interessant, der aber zu den anderen
Bereichen nicht abzugrenzen ist. Die durch einen Körperschaden hervorgerufene
Verschlechterung der motorischen Leistungen kann sich auf die gesamte
Persönlichkeit auswirken. In Abhängigkeit von der körperlichen und geistigen
Gesamtverfassung eines Organismus wird die Leistungsfähigkeit und
Verhaltensweise gegenüber der Umwelt bestimmt. Nur durch die Zusammenarbeit
von Fachkräften (Ärzte, Psychologen, Pädagogen u.a.) lässt sich ein körperlicher
Schaden in seiner Auswirkung auf die Persönlichkeit ausgleichen (vgl. Wellmitz,
1993, 31).
Aus pädagogischer Sicht wird Körperbehinderung von Bleidick folgendermaßen
beschrieben:
,,Als körperbehindert gilt, wer infolge einer zentralen (vom Zentralnervensystem
ausgehenden) oder peripheren (von Körperteilen und Organen ausgehenden)
Schädigung des Stütz- und Bewegungssystems in seiner Bewegungsfähigkeit so
beeinträchtigt ist, dass die motorische Umwelterfahrung und die Bewältigung von
Lebensanforderungen erheblich erschwert wird. Als körperbehindert gilt auch,
wer durch Missbildungen oder durch Entstellungen im äußeren Erscheinungsbild
auffällig wird" (Bleidick, 1998 b, 88).
Im Allgemeinen besteht Übereinstimmung im Inhalt aller pädagogischen
Begriffsdefinitionen (Leyendecker, Schönberger, Kunert) von

Kapitel 2
Körperbehinderung
9
Körperbehinderung. Sie unterscheiden sich nur geringfügig zu der oben zitierten
von Bleidick. Hinzuzufügen wäre nur, dass aus oben genannter Schädigung eine
Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit resultiert, die Auswirkungen auf die
Persönlichkeitsentwicklung des Betroffenen hat.
Bei Anwendung der von der WHO 1980 eingeführten Begriffe ,,impairment",
,,disability" und ,,handicap" (siehe 2.1) auf den Begriff Körperbehinderung sind
folgende Bestimmungsstücke von Bedeutung:
·
Schädigung:
Schädigung des Stütz- und Bewegungsapparates,
Schädigungen anderer Organsysteme, erhebliche Veränderungen im
körperlichen Erscheinungsbild, Entstellungen
·
Beeinträchtigungen/Leistungsminderung: quantitative Einschränkungen
und qualitative Veränderungen motorischer Leistungen, gemessen an dem,
was altersentsprechend und milieubezogen als normal gilt
·
Behinderung: anhaltende erhebliche Auswirkungen auf kognitive,
emotionale und soziale Vollzüge; erschwerte soziale Interaktionen;
unvollständige oder fehlende Übernahme der alters- und
geschlechtsgemäßen sowie der gesellschaftlichen Rollen
In dieser Betrachtungsweise wird der Unterschied zwischen Schädigung und den
daraus resultierenden Folgen des Behindertenseins sichtbar.
Körperschaden und Körperbehinderung zeigen sich zwar als Grund-Folge-
Beziehung, das Verhältnis von Ursache und Wirkung muss jedoch in keinem
Zusammenhang stehen. Das Ausmaß der Behinderung ist nicht direkt abhängig
von der Schwere des Körperschadens, vielmehr wird der Begriff
Körperbehinderung durch die Gesellschaft bestimmt (vgl. Wellmitz, 1993, 21).
Nach Wellmitz (ebd.
)
zeichnet sich ,,der Umfang der Behinderung erst in der
Auseinandersetzung mit der Umwelt ab, wobei inadäquate Bedingungen die
Möglichkeiten des Betroffenen einschränken und zusätzlich behindernd wirken".
Körperschäden sind nicht mit pädagogischen und nur begrenzt mit medizinischen
Mitteln zu beeinflussen. Durch Interventionen im Umfeld des Menschen sind

Kapitel 2
Körperbehinderung
10
jedoch Veränderungen möglich, die eine verbesserte Eingliederung in die
Gesellschaft zum Ziel haben. Somit ist Behinderung nicht nur als Zustand,
sondern auch als Prozess zu verstehen, welches sowohl für das Entstehen von
Körperbehinderung als auch für die Minderung oder Beseitigung der Behinderung
zutrifft.
Aus der Definition von Körperbehinderung in Anlehnung an die WHO-
Klassifikation wird ersichtlich, dass ein Mensch aus medizinischer oder
rechtlicher Sicht durchaus behindert sein kann, pädagogisch betrachtet jedoch
keine Behinderung vorliegen muss (vgl. ebd., 22).
Um sich einen besseren Überblick verschaffen zu können, möchte ich nun in einer
kurzen Übersicht die häufigsten Erscheinungsformen von Körperbehinderung
aufzeigen.
2.3 Erscheinungsformen der Körperbehinderung
,,Körperbehinderung ist ein Sammelbegriff für die vielfältigen
Erscheinungsformen und Schweregrade körperlicher Beeinträchtigungen, die sich
aus Schädigungen des Stütz- und Bewegungsapparates und aus anderen inneren
oder äußeren Schädigungen des Körpers und seiner Funktionen ergeben"
(Stadler, 1998, 11).
Nach Stadler (ebd., 13) lassen sich die, für den Arbeitsbereich
Körperbehindertenpädagogik von besonderer Bedeutung, häufigsten
Erscheinungsformen der Körperbehinderung in drei Kategorien einteilen.
1. Schädigungen des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark)
­
Frühkindliche Hirnschädigung (Infantile Cerebralparese) z.B. Spastik,
Athetose
­
Cerebrale Bewegungsstörung infolge von Verletzung oder Erkrankung

Kapitel 2
Körperbehinderung
11
­
Querschnittslähmung infolge angeborener Schädigung (Spina Bifida),
Verletzung oder Erkrankung
­
Spinale Kinderlähmung (Poliomyelitis)
­
Anfallsleiden (Epilepsien)
2. Schädigung der Muskulatur und des Skelettsystems
­
Muskelkrankheiten z.B. Progressive Muskeldystrophien, Typ Duchene
­
Wachstumsstörungen z.B. Kleinwuchs
­
Glasknochenkrankheit (Osteogenesis imperfecta)
­
Fehlstellungen der Wirbelsäule z.B. Rundrücken, Hohlrücken
­
Gliedmaßenfehlbildungen (Dysmelien)
­
Gliedmaßenverlust (Amputation)
3. Chronische Krankheiten und Fehlfunktionen von Organen
­
Rheumatismus
­
Asthma bronchiale
­
Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus)
­
Erkrankungen von Herz, Kreislauf und Gefäßsystem
­
Nierenerkrankungen
­
Bluterkrankheit
­
Hauterkrankungen
Die am häufigsten auftretenden Formen von Körperbehinderungen sind die
cerebralen Bewegungsstörungen. Sie können im frühen Kindesalter (vor, während
oder kurz nach der Geburt) entstehen oder zu einem späteren Zeitpunkt (z.B.
durch ein Schädel-Hirn-Trauma) erworben werden. Sie treten nicht selten als
Variation auf, und es können alle vier Gliedmaßen, die Beine oder eine
Körperhälfte betroffen sein.
Die infantile Cerebralparese (ICP)
1
, ist nicht nur der Ausgangspunkt für
entstehende Bewegungsstörungen, sondern auch für andere Störungen in der
1
Bewegungs- und Haltungsstörung infolge einer Schädigung des frühkindlichen Gehirns

Kapitel 2
Körperbehinderung
12
Sprachentwicklung, Wahrnehmung und für cerebrale Anfälle. Daraus ergeben
sich möglicherweise Probleme in der sozialen, kommunikativen und emotionalen
Entwicklung eines Kindes. Diese Wechselwirkung soll an folgender Abbildung
noch einmal dargestellt werden.
Abb. 1: Infantile Cerebralparese und ihre Wechselwirkungen (Hedderich, 1999,
21)
Cerebrale Bewegungsstörungen werden in drei Ausprägungsformen eingeteilt:
Spastik,
Athetose und
Ataxie.
Wie schon am Anfang dieses Kapitels erwähnt, treten sie vielfach als
Mischformen auf.
Spastik ist ein vermehrter Spannungszustand der Muskulatur. Dabei ist das
Wechselspiel der Muskeln zwischen Anspannung und Entspannung gestört.
Athetose ist durch eine wechselnde Muskelspannung gekennzeichnet. Plötzlich
einschießende Impulse führen zu ausfahrenden Bewegungen der Gliedmaßen. Die
Mimik ist mit betroffen.
ICP
Intelligenz-
minderung
cerebrale
Anfälle
Sprachent-
wicklungs-
störungen
Wahr-
nehmungs
-störungen
Bewegungs-
störungen
Soziale/kom-
munikative
Störungen
ortho-
pädische
Störungen
emotionale
Störungen

Kapitel 2
Körperbehinderung
13
Ataxie äußert sich in einer verminderten Grundspannung der Muskulatur.
Daraus erfolgt eine mangelnde Fähigkeit, zielsichere Bewegungen auszuführen
(vgl. ebd., 1999, 20-23).
Aufgrund der Vielzahl derartiger Schäden oder biologischer Mängel, die zu
,,pädagogisch bedeutsamen Bewegungsbeeinträchtigungen" führen, würde eine
intensivere Betrachtung den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Deshalb verweise
ich auf einen ausführlichen Überblick über die Erscheinungsformen, Ursachen,
Auswirkungen und Rehabilitationsmaßnahmen von Körperbehinderungen, der
sich im Anhang auf Seite 28-31 befindet.
2.4 Psychologie der Körperbehinderung
Empirische Untersuchungen zur sozialpsychologischen Situation
Körperbehinderter haben ergeben, dass Körperbehinderte nicht nur physisch,
sondern auch psychisch und sozial benachteiligt sind. Es wurde festgestellt, dass
alle Integrationsversuche für Körperbehinderte abhängig von der Entwicklung des
psychischen und sozialen Geschehens sind. Sie müssen somit vor diesem
Hintergrund verstanden und interpretiert werden (vgl. Marenbach, 1985, 9).
Aus diesem Grund soll es in diesem Kapitel um die psychologische
Betrachtungsweise von Körperbehinderung gehen. Dabei sind der
tiefenpsychologische und der sozialpsychologische Ansatz von besonderer
Bedeutung.
Die Tiefenpsychologie befasst sich mit den vor- und unterbewussten Schichten
des Seelenlebens. In diesem Fall wird die Auseinandersetzung des Behinderten
mit seiner Schädigung betrachtet. Hingegen erforscht die Sozialpsychologie den
wechselseitigen Einfluss zwischen gesellschaftlichem Zusammenleben und
individuellem Seelenleben, wobei es sich hierbei um das Zusammenleben des
Behinderten in der Gesellschaft handelt.

Kapitel 2
Körperbehinderung
14
Unter diesen beiden Gesichtspunkten sollen im Folgenden die wichtigsten
Bestandteile in der Erklärung des Verhältnisses zwischen Körperbehinderten und
Nichtbehinderten sowie die seelischen Folgen anatomischer Schäden dargestellt
werden.
2.4.1 Tiefenpsychologische Ansätze
Das tiefenpsychologische Denken wurde vor allem von dem österreichischen
Psychiater und Psychologen Alfred Adler (1870-1937) geprägt. Er ging in seiner
Studie über Organminderwertigkeit davon aus, dass durch die Schädigung
Minderwertigkeitsgefühle entstehen. Daraus entwickeln sich Bemühungen der
Kompensation, die in Form von Geltungsbedürfnissen auftreten.
Durch das Fehlen der zur Verfügung stehenden Kompensationsmöglichkeiten,
gegenüber dem Gesunden, kommt es zu erhöhter Empfindsamkeit, Reizbarkeit
und Egoismus. Daraus erwächst wiederum ein Verhalten, dass trotzig, aggressiv
und voller Selbstbewunderung ist.
Von Würtz, einem Psychologen der auf Adler´s Spuren wandelte, entstand der
Begriff ,,Krüppelseele". Danach führen häufig misslungene
Kompensationsversuche zu ständigen Gemeinschaftskonflikten, welche sich in
Form von übersteigertem Geltungsbedürfnis, Neid, Argwohn, Verdrießlichkeit
und Aggression, äußern.
In der Entwicklung eines Kindes ist das Angenommen- und Verstandenwerden
durch die Familie von großer Bedeutung. Die ersten Erfahrungen eines Kindes
finden ausschließlich auf Körperebene statt. Wenn eine angeborene Schädigung
fehlende Körperlichkeit zur Folge hat, kommt es zu Störungen der Beziehung zur
umgebenden Gruppe (vgl. Marenbach, 10).
Tiefenpsychologen gehen davon aus, dass die Begegnung mit Körperbehinderten
bei Nichtbehinderten Angst um die Integrität des eigenen Körpers, sogenannte
Kastrationsangst (S. Freud), hervorruft.
Dieser Angst folgen verschiedene Abwehrmechanismen, die sich am Ende in
unbewussten Schuldgefühlen widerspiegeln und in einer Mitleidshaltung zum

Kapitel 2
Körperbehinderung
15
Ausdruck kommen können. Die Grundlage der Identitätsentwicklung ist nach S.
Freud die Vorstellung vom eigenen Körper (vgl. ebd., 11-12).
Für das beständige seelische Wissen vom eigenen Körper führte Schilder 1924
den Begriff ,,Körperschema" ein. Das Ichgefühl entspricht dem Körperschema. Es
resultiert aus der Wahrnehmung des eigenen Körpers und der Körper anderer und
von der Aufnahme von Reaktionen gegenüber dem eigenen Körper. Dies hat zur
Folge, dass die Annahme der eigenen Behinderung erleichtert oder erschwert
wird. Bei Körperbehinderten existiert ein Missverhältnis zwischen Körperschema
und Körperschädigung. Das psychische Wissen vom eigenen Körper muss daran
angepasst werden.
Das Körperschema entwickelt sich demnach aus der Erfahrung mit dem eigenen
Körper. Die dadurch ermöglichten neuen Erfahrungen führen bei einer Störung zu
Aktionen (Protest, Ablehnung), die den Zusammenhang wieder ersetzen wollen
(ebd., 1985, 12).
Von besonderer Bedeutung ist die Erfahrung des eigenen Körpers deshalb, weil es
der Ausgangspunkt für alle folgenden Erfahrungen ist.
Die körperliche und die geistige Entwicklung eines Kindes sind untrennbar
miteinander verbunden. In der Wiedergabe des Körperbildes wird die Situation
des Kindes in seiner Umwelt sichtbar. Sie wird in erster Linie durch die Familie
geprägt (vgl. ebd., 1985, 13).
,,Gesellschaftlich so hoch bewertete Attribute, wie Schönheit, körperliche
Integrität, Mobilität und ,,Dynamik" lassen erwarten, daß Störungen im
Körperschema von großer Bedeutung für die soziale Stellung und die Interaktion
mit Gesunden sind" (ebd.).
2.4.2 Sozialpsychologische Ansätze
Amerikanische Sozialpsychologen (u.a. Barker, 1946) messen der Gruppe eine
wesentliche Bedeutung bei der Entwicklung der Persönlichkeit zu. Sie sehen
Körperbehinderte als Angehörige einer Minderheit innerhalb der Gesellschaft.

Kapitel 2
Körperbehinderung
16
Diese Zuordnung wird von anderen Sozialpsychologen kritisiert, weil in dieser
Theorie eindeutige Unterschiede zwischen Behinderten und Minderheiten nicht
ausreichend betrachtet werden. So zum Beispiel entsteht das Merkmal
(Schädigung) nicht durch die Gruppe selbst, sondern wird durch Geburtsschaden
oder Unfall hervorgerufen. Körperbehinderten werden andere soziale Reaktionen
entgegen gebracht, als Angehörigen von Minderheiten.
,,Im Unterschied zu Mitgliedern aus Minoritätengruppen wird zu Behinderten
nicht einmal oberflächiger Kontakt gesucht, sie werden im Gegenteil isoliert. Die
benachteiligte Gruppe der Behinderten befindet sich also in einem sozialen Getto;
Absonderung wird gefördert" (Marenbach, 1985, 14).
Für Jordan ist diese sozialpsychologische Feststellung über Gruppenbeziehungen
auf die Behinderten, als homogene Gruppe, nicht ohne weiteres übertragbar. Sie
sind durch Zufall in die Kategorie ,,Körperbehinderter" gekommen und dadurch
kann man nicht von gleichen Normen und Werten in dieser Gruppe ausgehen
(ebd.).
Auch andere Psychologen ziehen die Theorie von Jordan vor. So führt zum
Beispiel Hagmeier (1955, zit. in ebd., 15) aus:
,,Die Behinderung ist jedoch das einzige, was die Körperbehinderten zu einer
Gruppe werden läßt. [...] So bleibt allein der äußere Druck als Zusammenhalt,
auf den die Körperbehinderten mit der Bildung von Interessenverbänden
antworten".
Hingegen vertritt Cloerkes die Anwendung des Minoritätenansatzes, da es ihm
wichtiger erscheint, wie Behinderte von Nichtbehinderten als solche aufgefasst
und entsprechend behandelt werden (vgl. ebd. 15).
Von großer Bedeutung für die soziologische Betrachtungsweise der Behinderten
war die Einführung des ,,Stigma"- Begriffes 1963 von Goffman. Mit ihr konnte
eine umfassende Erkenntnis zur Situation Körperbehinderter erreicht werden.
Unter einem Stigma versteht Goffman eine Eigenschaft einer Person, die zutiefst
diskreditierend ist. Er führt dazu weiterhin aus:
,,Ein Individuum, das leicht in gewöhnlichen sozialen Verkehr hätte aufgenommen
werden können, besitzt ein Merkmal, das sich der Aufmerksamkeit aufdrängen

Kapitel 2
Körperbehinderung
17
und bewirken kann, daß wir uns bei der Begegnung mit diesem Individuum von
ihm abwenden... . Es hat ein Stigma, das heißt, es ist in unerwünschter Weise
anders, als wir antizipiert hatten" (Goffman, 1967, 13).
Hohmeier definiert Stigma als ,,... Sonderfall eines sozialen Vorurteils gegenüber
bestimmten Personen, durch das diesen negative Eigenschaften zugeschrieben
werden" (Hohmeier, 1975, 7).
Cloerkes schließt sich dieser Definition insoweit an, dass Stigmatisierungen wie
soziale Vorurteile zu einer Systemstabilisierung beitragen. Gleichzeitig werden
Nichtbehinderte von Unsicherheiten entlastet, die Wahrnehmung verzerrt und
somit eine Bedrohung der Identität Nichtbehinderter verhindert.
Daraus ergibt sich für Cloerkes, dass von der Norm abweichende Personen
(Behinderte) eine Störung der Identitätsbalance beim Einzelnen hervorrufen.
Aufgestellte Regeln (z.B. Artikel 3, GG) verhindern die Ausgrenzung von
Behinderten aus der Gesellschaft. Diese sieht sich sogar zu
Integrationsbemühungen gezwungen. Durch die Sozialisation werden ablehnende
Einstellungen gegenüber Behinderten vermittelt, die negative Reaktionen
verursachen. Gleichzeitig lehnt dieselbe Gesellschaft das offene Ausleben dieser
indoktrinierten Verhaltensweisen gegenüber Behinderten ab (vgl. Marenbach,
1985, 16). Diese Situation bringt Gefühle einer Hassliebe, Verhaltensunsicherheit
und Schuldangst bei Nichtbehinderten hervor, die in einem verhängnisvollen
Kreislauf enden.
Nach Scott (1969) ist eine Unsicherheit im Verhalten gegenüber
Körperbehinderten auf ausbleibende Begegnungen mit diesen sowie auf
unzureichend ausgeprägte Verhaltensnormen zurückzuführen.
Zwischen den unterschiedlichen sozialpsychologischen Theorien existiert jedoch
Übereinstimmung in den grundsätzlichen Vermutungen zum Verhältnis zwischen
Körperbehinderten und Nichtbehinderten. Dazu gehören folgende Punkte:
­
erschwerte Kommunikation,
­
Absonderung von Behinderten,
­
Auftreten verunsichert die Haltung Nichtbehinderter (vgl. ebd., 17).

Kapitel 3
Freizeit von Körperbehinderten
18
3. Freizeit von Körperbehinderten
Die Freizeit als Lebensbereich eines Menschen ist in der heutigen Gesellschaft
von großer Bedeutung. Aus den unterschiedlichsten Gründen ist ihr Einfluss in
den letzten Jahrzehnten stetig gewachsen.
In der Behindertenpädagogik wurde diese Thematik bis zum jetzigen Zeitpunkt
weitestgehend vernachlässigt. Dabei bietet besonders der Lebensbereich Freizeit
die Möglichkeit, Ausgrenzungen von Menschen mit Behinderungen zu
überwinden und praktische Integration voranzutreiben.
Gerade für Menschen, die wider Willen mehr Freizeit haben als sie wollen, ist
dieses unfreiwillige Zuviel an freier Zeit, ein zentrales Problem. Sie spüren
besonders deutlich, wie es um Freizeitmöglichkeiten, um Einrichtungen,
Angebote und Veranstaltungen bestellt ist. Wenn man ungewollt und ohne rechte
Alternative darauf angewiesen ist, wird das Fehlen ausreichender Gelegenheiten
verstärkt empfunden oder überhaupt erst bewusst.
Durch verschärfte Arbeitsmarktbedingungen oder aufgrund der eingeschränkten
Berufstätigkeit ist es gerade für Körperbehinderte von enormer Wichtigkeit, die
frei verfügbare Zeit sinnvoll zu gestalten. Für Menschen mit Behinderungen ist
zudem die zur Verfügung stehende Zeit häufig durch pflegerische und
therapeutische Maßnahmen stark eingeschränkt.
Ebenso wollen Behinderte, die voll in das Berufsleben eingegliedert sind, in ihrer
Privatsphäre ganz normal ihre Freizeit verbringen und haben hierauf auch einen
Anspruch.
Mit der Begriffsbestimmung von Freizeit und der Auseinandersetzung
verschiedener Freizeittheorien am Anfang dieses Kapitels möchte ich in diesen
Sachverhalt einführen. Danach soll die Freizeitsituation von Menschen mit
Körperbehinderung näher betrachtet werden. Dabei werden die Zusammenhänge
zwischen Körperbehinderung und Freizeitverhalten durchleuchtet. Anhand einer
empirischen Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Familie und
Senioren 1994 wird im Anschluss ein Überblick über die Freizeitaktivitäten und
sozialen Kontakte von Körperbehinderten gegeben.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2001
ISBN (eBook)
9783832447670
ISBN (Paperback)
9783838647678
Dateigröße
1.1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule Merseburg – Soziale Arbeit. Medien. Kultur
Note
1,7
Schlagworte
rollstuhlfahrer fußball behinderung körperbehinderung fußballfans
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Titel: Körperbehinderte Fußballfans
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