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Die Filme Jim Jarmuschs

Äussere Reise - Innere Reise ?

©2001 Diplomarbeit 167 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Gang der Untersuchung:
Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Analyse der Filme Jarmuschs. Diese werden im Hinblick auf ihre äußere und zugleich stagnierende innere Reise untersucht, sowie ihre Aussagen in Bezug auf eine Lebensreise herausgearbeitet. Dabei liegt ein besonderes Interesse auf Jarmuschs Entwicklung der Betrachtung einer insgesamten „Lebensreise“ innerhalb seines Gesamtwerks. Um diese Untersuchung zu führen, werden Jarmuschs Filme in ihrer Chronologie analysiert und jede einzelne Reise herausgearbeitet, um deren thematische Gesamtentwicklung darstellen zu können. Dabei wird seine individuelle Nutzung und Kombination ästhetischer Verfahren der klassischen, parametrischen und der Art Cinema Narration berücksichtigt, sowie seine Modifikation einiger typischer Motive des Road Movie.
Im zweiten Kapitel wird zunächst der historische Kontext des Filmemachers beschrieben. Es werden Jarmuschs Biographie sowie sein gesellschaftliches und künstlerisches Umfeld beleuchtet, um die aus seinen Lebensumständen bzw. seinem Lebenslauf resultierenden Einflüsse auf sein Schaffen aufzuzeigen.
Anschließend werden im dritten Kapitel kinematographische Einflüsse auf Jarmusch anhand seiner Vorläufer untersucht. Da seine Entwicklung seit Stranger Than Paradise zu einem Ansehen als „einflußreicher elder statesman der amerikanischen Independent-Szene“ (Andrew, 1999a: 146) geführt hat, wird deren Entwicklung kurz aufgezeigt, da sie seine eigene Arbeit beeinflusste. Daran anschließend wird ein Überblick über die Strömungen des europäischen Art Cinema sowie des japanischen Kinos gegeben, deren ästhetische Verfahren auf Jarmusch ebenfalls einen wesentlichen Einfluss hatten.
Das vierte Kapitel befasst sich mit dem zentralen Aspekt der Reise, wobei das „Genre“ Road Movie ebenfalls als Einfluss auf Jarmuschs Werk zu betrachten ist. Der Filmemacher bedient sich einiger dort geprägter Verfahren bzw. Motivationen und legt sie seinen filmischen Reisen zugrunde. In dem Kapitel werden daher die Gründe für die Wahl einer Reise dargelegt und die Hauptmerkmale des Road Movie herausgearbeitet.
Mit der Analyse der sieben Spielfilme Jim Jarmuschs stellt das fünfte Kapitel den Hauptteil der Arbeit dar. Hier wird jeder Film im Detail untersucht, um die jeweilige spezifische Reise zu beleuchten. Die dabei zur Anwendung kommende filmanalytische Methode basiert auf dem von David Bordwell und Kristin Thompson entwickelten neoformalistischen Modell, dessen Merkmale dem […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Historischer Kontext: Prägende Einflüsse auf Jim Jarmuschs künstlerisches Schaffen
2.1. Biographie
2.1.1. Frühe Einflußfaktoren
2.1.2. Entwicklung zum Filmemacher
2.1.3. Jim Jarmusch als Independent-Regisseur
2.2. Die Künstlerszene an der Lower East Side

3. Die filmischen Vorläufer Jim Jarmuschs
3.1. Der amerikanische Independent-Film
3.1.1. Frühe Mavericks
3.1.2. Die "wahren" Unabhängigen: New Yorker Underground
3.1.3. John Cassavetes' "Anti-Hollywood-Haltung"
3.1.4. American New Wave
3.1.5. Entstehung einer Independent-Filmszene
3.2. European Art Cinema
3.2.1. Der italienische Neorealismus
3.2.1.1. Der "neue Realismus" in den 40er Jahren
3.2.1.2. Die Weiterentwicklung neorealistischer Tendenzen im italienischen Film
3.2.2. Die französische Nouvelle Vague
3.2.3. Der Neue Deutsche Film
3.3. Literarische Strukturen
3.3.1. Das japanische Kino
3.3.2. "Poetische Ablenkung": Yasujiro Ozu
3.3.3. Parametrische Narration

4. Road Movies - Filme über Reisen
4.1. Ein offenes "Genre"
4.2. Ursprünge des Road Movie: Suche nach Freiheit
4.2.1. Mythos "Neue Welt": Der Western
4.2.2. Begrenzungen und Außenseitertum: Film noir
4.2.3. Rebellion der jungen Wilden: Youthsploitation
4.3. Reiseantritt: Die Bedeutung der Heimat
4.4. On The Road: Entwicklung des Straßenmythos
4.5. Die Landschaft als Spiegel innerer Zustände
4.6. Das Leben als Reise
4.7. Das Ziel bleibt unerreicht

5. Die Filme Jim Jarmuschs
5.1. Neoformalistische Filmanalyse
5.2. Permanent Vacation
5.2.1. Der Drift: Ständige Bewegung
5.2.1.1. Exposition
5.2.1.2. Ziellose Unverbindlichkeit
5.2.1.3. Passive Langeweile
5.2.1.4. Leere und Bedeutungslosigkeit
5.2.2. Die Heimat als "mentale Wüste"
5.2.2.1. Die öde Außenwelt
5.2.2.2. Entfremdung von der Heimat
5.2.3. Innere Gefangenschaft: Veränderung durch Bewegung?
5.2.4. Das Leben als Momentaufnahme
5.3. Stranger Than Paradise
5.3.1. Kommentierte Momentaufnahme: Ein Fotoalbum
5.3.2. Ein amerikanischer Fluch
5.3.2.1. Die Neue Welt: Blues im Walzertakt
5.3.2.2. Ein Kammerspiel amerikanischer Kultur
5.3.2.3. Das Paradies: Von New York nach Florida
5.3.3. I Put A Spell On You
5.3.3.1. Die Form als Spiegel des inneren Zustands
5.3.3.2. Ein neuer Impuls für festgefahrene Amerikaner
5.3.3.3. Rollentausch: Ein trügerischer Fortschritt
5.4. Down By Law
5.4.1. Ein märchenhafter Alptraum
5.4.1.1. Eine holprige Einbahnstraße
5.4.1.2. Der Weg führt abwärts
5.4.2. "Un' alma in prigione": Orleans Parish Prison
5.4.2.1. Zwei Versager in innerer Erstarrung
5.4.2.2. Die Dualität des Lebens: Märchen oder Alptraum
5.4.3. Kreisbewegung im Sumpf
5.4.4. Reprise: Die "Frost'sche Straßengabelung"
5.5. Mystery Train
5.5.1. Geschichten in Geschichten: Kleine Reisen á la Jarmusch
5.5.2. Gefangen in der Form
5.5.2.1. Fixierung in Zeit und Raum
5.5.2.2. Das Zeit-Puzzle: Herstellung von Gleichzeitigkeit
5.5.3. Eine Situation aus verschiedenen Blickwinkeln
5.5.4. Reise nach Amerika: Auf den Spuren eines Mythos
5.5.5. Resümee: Eine Fahrt im Mystery Train
5.5.5.1. Von Bewegung und Stillstand
5.5.5.2. "Zug des Lebens"
5.6. Night On Earth
5.6.1. Tagebuch des Filmemachers
5.6.2. Reisen im Inneren eines Taxis
5.6.2.1. Blindheit oder die Chance eines Perspektivwechsels
5.6.2.2. Kleine Reisen repräsentieren das Leben
5.6.3. Irdischer Lebenszyklus
5.7. Dead Man
5.7.1. Reise in die Freiheit?
5.7.1.1. Ein allegorischer Western
5.7.1.2. Zugfahrt mit einem Dead Man
5.7.2. Reise in den Tod
5.7.2.1. Emotionale Nähe zu einem Sterbenden
5.7.2.2. Die Oberfläche eines Spiegels
5.7.2.3. Vom Buchhalter zum Gesetzlosen: Unbewußte Veränderung
5.7.2.4. Innere Stagnation oder der unvermeidliche Tod
5.7.3. Kreislauf des Lebens
5.8. Ghost Dog - The Way Of The Samurai
5.8.1. Auferstehung eines Killers
5.8.1.1. Ankunft des Samurai
5.8.1.2. Die Philosophie des Kriegers
5.8.2. Die moderne Variante eines alten Samurai
5.8.2.1. Ein sanftmütiger Killer
5.8.2.2. Die Vermischung der Philosophien im modernen Samurai
5.8.2.3. Der Geist des Kriegers in der modernen Welt
5.8.3. Das Verhängnis: The Way Of The Samurai
5.8.3.1. Mißverständnis: Rashomon
5.8.3.2. Following The Code: Gefangen in der eigenen Ideologie
5.8.4. Reprise: Generationswechsel

6. Fazit: Jim Jarmuschs filmische "Reise des Lebens"

7. Anhang
7.1. Sequenzprotokolle der analysierten Filme
7.1.1. Permanent Vacation
7.1.2. Stranger Than Paradise
7.1.3. Down By Law
7.1.4. Mystery Train
7.1.5. Night On Earth
7.1.6. Dead Man
7.1.7. Ghost Dog - The Way Of The Samurai
7.2. Filmographie Jim Jarmuschs
7.3. Literaturnachweis
7.4. danke schön!

1. Einleitung

"Your life is an accumulation of a lot of things that are sad and stupid and funny and cruel and ugly and beautiful. I try to make stories that don't differentiate and focus only on the most dramatic moments of your life, because even the really little stupid things may be equally valuable and important" (Jarmusch zitiert in Susman, 1996: www).

Filmkritiker haben Jim Jarmuschs Filme im Zusammenhang mit ihren Verkaufsaussichten im Kinogeschäft häufig als langweilig und inhaltslos bezeichnet, da seine Geschichten minimalistisch sind bzw. keine besonderen Handlungsverläufe aufweisen1. Beispielsweise schrieb Todd McCarthy2 in Variety zu Jarmuschs letztem Film Ghost Dog - The Way Of The Samurai (1999) nach dessen Premiere 1999 in Cannes:

"(...) the overall conception is terribly thin and the scenes lack complexity, extensive character interaction and a sense of meaningful confrontation (...) and with Jarmusch operating in minimalist mode, tale is never expanded in ways that invite deep interest" (McCarthy, 1999: 65).

In Europa und Japan findet die filmische Arbeit des Amerikaners größeren Anklang als in seiner Heimat (Merritt, 2000: 324), da er sich primär nicht auf traditionelle, im Hollywood-Film geprägte Sehgewohnheiten der Zuschauer bezieht und der Einfluß europäischer und japanischer Kinoästhetik in seinen sonst "sehr amerikanischen Geschichten" (Mundt, 1991: 50f.) erkennbar ist.

"In Europe they like my films cause they think they're very American, and in America they say: 'You make films like a European.' So how the hell should I know?"

(Jarmusch zitiert in Yabroff, 1996: www).

Vor allem von außeramerikanischen Geldgebern unterstützt, hat Jarmusch bis heute seine künstlerische Unabhängigkeit konsequent beibehalten und sich bisher keine Entscheidung bezüglich der Umsetzung seiner Filme von Produktionsfirmen, die ihn finanziell und distributiv unterstützten, abnehmen lassen (Jarmusch, 1999: www). Daher besitzt er bis heute die Negative und Rechte aller seiner Filme (Rosenbaum, 2000: 15). Oliver Schindler hat in seiner poststrukturalistischen Analyse Jim Jarmusch, Independent-auteur der achtziger Jahre (2000) nachgewiesen, daß die Filme Jarmuschs seine persönliche Handschrift tragen und seine Abgrenzung zum amerikanischen Mainstream spiegeln3. In einer 1996 vom Filmmaker Magazin herausgegebenen Liste (vgl. Merritt, 2000: 258) erscheint Jarmuschs Erfolgsfilm Stranger Than Paradise (1984) nach John Cassavetes' A Woman Under The Influence (1974) als "second most important independent film of all time" (Merritt, 2000: 323). Vor diesem Hintergrund gehen einige Interpretationen von einer den Filmen grundsätzlich zugrundeliegenden Sozialkritik aus bzw. verurteilen z.T. enttäuscht deren Fehlen4. Andere Kritiken basieren auf einem intensiven Vergleich Jarmuschs mit Wim Wenders5, der seinen ästhetischen Verfahren eine stark intellektuell motivierte Metaphorik zugrunde legt (Pflaum, 1990: 197ff.). Jim Jarmuschs Filme weisen zwar Elemente für derartige Vergleiche auf, können jedoch nicht ausschließlich auf diese Weise interpretiert werden. Sein Werk wird erst verständlich, wenn in der Analyse die Traditionen des unabhängigen amerikanischen, europäischen und japanischen Kinos, sowie lyrische und musikalische Strukturen berücksichtigt werden, die er bei der Umsetzung seiner Filme aufgreift und anders umzusetzen sucht. So stellen Jarmuschs Filme Kompositionen aus verschiedenen künstlerischen Bereichen dar, die er seit seinem Debüt Permanent Vacation (1980) zu einem sehr persönlichen Stil weiterentwickelt hat.

Ein vordergründiger Themenkomplex in Jarmuschs Spielfilmen ist das Thema einer Reise: Seine Figuren sind immer in Bewegung.

"Jarmuschs Arbeiten sind allesamt, mehr oder weniger, 'road movies', hastig hingekritzelte Tagebuchblätter von Reisenden, die der Zufall irgendwo hingespült hat und die nach irgendwohin wieder forttreiben" (Wehrstedt, 1990: 42).

Dies gilt noch immer ebenso für Jarmuschs Filme der 90er Jahre. Die äußeren Reisebewegungen sind auf zwei Ebenen interpretierbar und führen den Zuschauer auf eine alternative, "innere" Ebene, die den Ausgangspunkt für die Betrachtung eines bestimmten Aspekts des Lebens bilden, das ebenfalls als Reise verstanden wird. Dabei behandelt jeder Film eine eigenständige Reise, verweist aber auch auf vergangene und enthält bereits Aspekte zukünftiger Filmreisen. Jede der autonomen Einzelreisen ist bei Jarmusch zugleich Teil einer Gesamtreise: Sein Werk zeigt eine ständige Weiterentwicklung in der Variation des Themas "Reise des Lebens".

Dabei ist eine grundsätzliche Einteilung seines Werks in drei Schaffensperioden möglich: Seine frühen Filme, Permanent Vacation, Stranger Than Paradise und Down By Law (1986), bilden den Ausgangspunkt dieser Entwicklung und konzentrieren sich in erster Linie auf persönliche Schicksale. In der zweiten Schaffensperiode mit Mystery Train (1989) und Night On Earth (1991) werden diese zu allgemeineren Aussagen über größere Lebenszusammenhänge. Schließlich kombiniert Jarmusch die Merkmale der ersten beiden Entwicklungsphasen in den neueren Filmen Dead Man (1995) und Ghost Dog - The Way Of The Samurai, in denen er anhand von Einzelschicksalen allgemeingültige Aussagen über den Lauf des Lebens trifft. Dabei wird auch der Tod als Bestandteil des Lebens verstanden, das insgesamt einen sich ständig erneuernden Zyklus beschreibt.

In allen Filmen Jarmuschs wird dabei das Leben erst einmal zur Verkettung einzelner Momente, die das "Hier und Jetzt" repräsentieren. Diese einzelnen Augenblicke sind das Leben. In diesem Sinne ist zu verstehen, daß alle Filme sowohl einen Ausschnitt aus dem Leben ihrer Figuren, als auch des Filmemachers repräsentieren, das jeweils vor und nach der Geschichte weitergeht:

"Life has no plot, no real conclusion." (Jarmusch zitiert in Feldman, 1992: www)

Die zentrale Aussage aller Filme ist, daß die dargestellte Reisebewegung in Wirklichkeit eine Form des Stillstands ist: Die äußere Reise in "innere Welten" dient der Betrachtung einer eigentlichen inneren "Gefangenschaft" der Figuren in ihren Lebensauffassungen.

Eine Reise wird in Literatur, Poesie, Drama und Film häufig als Metapher für eine innere Reise verwendet und steht oft auch symbolisch für das Leben selbst (Sargeant/Watson, 1999: 10). Im Film wird dies speziell im Road Movie aufgegriffen, z.B. in Federico Fellinis La Strada (1954) oder Wim Wenders Alice in den Städten (1974). Das Reisen wird hierbei in der Regel durch den Wunsch der Protagonisten nach persönlicher Freiheit motiviert. Road Movies handeln vom Ausbruch aus gesellschaftlichen Strukturen oder Lebensumständen (Sargeant/Watson, 1999: 16). Jarmuschs Werk will dabei aufzeigen, daß ein solcher Ausbruch durch das Reisen nicht zu verwirklichen ist, da ohne eine aktive Bemühung um Überwindung der eigenen inneren Beschränkung kein Weg aus der persönlichen Gefangenschaft hinaus führt.

Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Analyse der Filme Jarmuschs. Diese werden im Hinblick auf ihre äußere und zugleich stagnierende innere Reise untersucht, sowie ihre Aussagen in Bezug auf eine Lebensreise herausgearbeitet. Dabei liegt ein besonderes Interesse auf Jarmuschs Entwicklung der Betrachtung einer insgesamten "Lebensreise" innerhalb seines Gesamtwerks. Um diese Untersuchung zu führen, werden Jarmuschs Filme in ihrer Chronologie analysiert und jede einzelne Reise herausgearbeitet, um deren thematische Gesamtentwicklung darstellen zu können. Dabei wird seine individuelle Nutzung und Kombination ästhetischer Verfahren der klassischen, parametrischen und der Art Cinema Narration berücksichtigt, sowie seine Modifikation einiger typischer Motive des Road Movie.

Im zweiten Kapitel wird zunächst der historische Kontext des Filmemachers beschrieben. Es werden Jarmuschs Biographie sowie sein gesellschaftliches und künstlerisches Umfeld beleuchtet, um die aus seinen Lebensumständen bzw. seinem Lebenslauf resultierenden Einflüsse auf sein Schaffen aufzuzeigen.

Anschließend werden im dritten Kapitel kinematographische Einflüsse auf Jarmusch anhand seiner Vorläufer untersucht. Da seine Entwicklung seit Stranger Than Paradise zu einem Ansehen als "einflußreicher 'elder statesman' der amerikanischen Independent-Szene" (Andrew, 1999a: 146) geführt hat, wird deren Entwicklung kurz aufgezeigt, da sie seine eigene Arbeit beeinflußte. Daran anschließend wird ein Überblick über die Strömungen des europäischen Art Cinema sowie des japanischen Kinos gegeben, deren ästhetische Verfahren auf Jarmusch ebenfalls einen wesentlichen Einfluß hatten.

Das vierte Kapitel befaßt sich mit dem zentralen Aspekt der Reise, wobei das "Genre" Road Movie ebenfalls als Einfluß auf Jarmuschs Werk zu betrachten ist. Der Filmemacher bedient sich einiger dort geprägter Verfahren bzw. Motivationen und legt sie seinen filmischen Reisen zugrunde. In dem Kapitel werden daher die Gründe für die Wahl einer Reise dargelegt und die Hauptmerkmale des Road Movie herausgearbeitet.

Mit der Analyse der sieben Spielfilme6 Jim Jarmuschs stellt das fünfte Kapitel den Hauptteil der Arbeit dar. Hier wird jeder Film im Detail untersucht, um die jeweilige spezifische Reise zu beleuchten. Die dabei zur Anwendung kommende filmanalytische Methode basiert auf dem von David Bordwell und Kristin Thompson entwickelten neoformalistischen Modell, dessen Merkmale dem Kapitel vorangehend kurz vorgestellt werden7.

Ein abschließendes Fazit gibt im sechsten Kapitel einen auswertenden Überblick über die "Reise" des Gesamtwerks bzw. deren Entwicklung in Jarmuschs Filmen, sowie die getroffenen Aussagen über das Leben, unter Berücksichtigung der ästhetischen und thematischen Vorläufer und Einflüsse, obwohl diesen keine explizite Untersuchung gilt.

Im Anhang finden sich schließlich als Orientierungshilfe die Sequenzprotokolle aller der Analyse zugrundeliegenden Filme, deren wichtigste Produktionsangaben, sowie ein Nachweis der für diese Arbeit verwendeten Literatur.

2. Historischer Kontext:

Prägende Einflüsse auf Jim Jarmuschs künstlerisches Schaffen

Um die Hintergründe von Jim Jarmuschs Filmschaffen und die oftmals sehr persönlichen Themen seiner Filme nachvollziehen zu können, ist es notwendig, zunächst seine Entwicklung mit wesentlichen Einflüssen auf ihn darzustellen. Dazu gehört neben seiner Biographie auch ein kurzer Einblick in die Situation der New Yorker Künstlerszene an der Lower East Side, die seine künstlerische Orientierung bedeutend prägte (Jarmusch, 1992a: 35): Ihr stand er seit Mitte der 70er Jahre nahe und lebte noch im Jahr 1999 in dieser Wohngegend (Jarmusch, 1999: www).

2.1. Biographie

2.1.1. Frühe Einflußfaktoren

Jim Jarmusch wurde am 22. Januar 1953 als mittlerer Sohn eines kleinen Geschäftsmannes in der Arbeiterstadt Akron in Ohio geboren, wo er aufwuchs und die Highschool besuchte. Seine Familie wohnte im Stadtteil Cuyahoga Falls, in dem Menschen des Mittelstands lebten. In der ganzen Stadt gab es weder Schwarze noch Juden (Jarmusch, 1985: 61). Jarmuschs Vater, aufgewachsen in Cleveland mit einem Abschluß in Jura, arbeitete für eine große ortsansässige Reifenfirma und später für verschiedene Mittelklassefirmen (Arrington, 1990: www), ohne von seinen juristischen Kenntnissen Gebrauch zu machen (Jarmusch, 1985: 61). Seine Mutter war vor ihrer Heirat Filmkritikerin beim Akron Beacon Journal (Arrington, 1990: www).

Jarmuschs Vorfahren waren tschechischer, deutscher, irischer und französischer Herkunft (Kiefer, 1999: 332), was ihn offenbar sehr prägte und seine spätere Faszination an fremden Kulturen und Orten erklärt. So interessierte er sich bereits in seiner Kindheit für die indianische Kultur (Yabroff, 1996: www) und später auch für fernöstliche Philosophien (Jarmusch, 1999: www).

"As I've gone through my life I've had the chance to travel a lot and see a lot of different cultures" (Jarmusch zitiert in Yabroff, 1996: www).

Als Jugendlicher in den späten 60er Jahren empfand Jarmusch sich als Außenseiter:

"When I was young I was shy and sort of outside things, so I became kind of an observer. I read a lot, and it gave me a certain distant perspective"

(Jarmusch zitiert in Yabroff, 1996: www).

Sein Vater wollte, daß er entweder Jura studieren oder Geschäftsmann in der Wirtschaft werden solle, was Jarmuschs eigenen Vorstellungen jedoch nicht entsprach (Jarmusch, 1985: 61). So nahm er zunächst viele kurzfristige Jobs an, u.a. als Taxifahrer, Barkeeper, in Hotels oder als Möbelpacker (Arrington, 1990: www), die er jedoch nie lange ausübte:

"I just can't stand the idea of working for other people or having a boss. I never got along, or I was never able to hold jobs for very long because I just didn't like the setup. You know, your time being limited. (...) I'd rather have no money at all than to schedule my whole life around aquiring it" (Jarmusch, 1985: 61).

Diese Aussage verdeutlicht, wie wesentlich es für Jarmusch war, sich gegen Anpassung und Unterordnung zu wehren und seinen ganz persönlichen Lebens- und Arbeitsstil zu finden.

2.1.2. Entwicklung zum Filmemacher

Nach seinem Highschool-Abschluß ging Jarmusch 1971 nach New York City mit dem Ziel, Dichter zu werden. Er studierte Englische und Amerikanische Literatur an der University of Columbia (Holmes, 1986: 38). Bevor er dort 1975 seinen Abschluß machte (Winning, 1991: 426), ging Jarmusch für ein Semester nach Paris (Frankreich), um seinen Vorbildern der Lost Generation8 der 20er Jahre zu folgen (Kiefer, 1999: 332), dehnte aber seinen Studienaufenthalt auf ein Jahr aus (Holmes, 1986: 38). Anstatt an der Pariser Universität sein Literaturstudium fortzusetzen, besuchte er regelmäßig die in der Nähe seiner Wohnung gelegene Cinématèque française, eines der größten Filmarchive der Welt (Jarmusch, 1999: www). Sein bereits früh gewecktes Interesse am Film hatte ihn schon in seiner Heimatstadt häufig ins Kino geführt, doch das Angebot hatte zum größten Teil aus "Japanese monster movies and James Bond" (Holmes, 1986: 38) bestanden. In New York lernte er die Vielfalt an Möglichkeiten des Mediums kennen (Jarmusch, 1999: www), doch sein filmischer Horizont wurde erst durch die Besuche in der Cinématèque maßgeblich erweitert, da er Einblick in weltweite Kinoströmungen erhielt und seine Leidenschaft für diese entwickelte:

"Erst dort entstand meine Obsession fürs Kino, ich verbrachte den größten Teil meiner Zeit in der Cinématèque. Dort habe ich erst verstanden, daß Film so vielfältig sein kann wie Literatur" (Jarmusch zitiert in Wehrstedt, 1990: 42).

Stark beeindruckt von Regisseuren wie Yasujiro Ozu, Jean-Luc Godard, Robert Bresson, Michelangelo Antonioni und Wim Wenders (Kiefer, 1999: 333) kehrte er 1976 nach New York zurück.

Dort knüpfte Jarmusch Kontakt zur Film-, Kunst- und Musikszene an der Lower East Side. Er spielte u.a. Posaune in der Garagenband The Del-Byzanteens; "reiner Lärm zunächst" (Jarmusch, 1989a: 4). In dieser Zeit lernte er den Saxophonisten John Lurie9 kennen (Holmes, 1986: 38), der später an einigen seiner Filme als Darsteller und Filmmusikkomponist beteiligt war. Jarmusch fühlte sich stark zur Punk-Musik hingezogen, die ihm seinen Antrieb für das Filmemachen gab:

"That whole scene gave me the courage to express myself in film without having to be a virtuoso" (Jarmusch, 1996a: www).

Dies zeigt sein Interesse am Experimentieren und seinen Wunsch, sich in einem Medium auszudrücken, das ihm die Möglichkeit zur Vereinigung seiner musischen, literarischen und visuellen Kreativität bot.

Obwohl er zunächst noch weiter versuchte, seinen Lebensunterhalt mit Schreiben zu verdienen, bemerkte er bald, daß auch seine schriftstellerische Arbeit sich mehr und mehr am Medium Film orientierte:

"I was writing prose poems, but they were starting to echo not film scripts, but descriptions of scenes in a cinematic way." (Jarmusch, 1999: www).

So beschloß er, sich an der New York University Graduate Film School zu bewerben:

"(...) just to see what would happen. Having never made a film, I had no expectation of there, but I submitted some writing and an essay about cinema and some still photographs and was admitted" (Jarmusch zitiert in Holmes, 1986: 38).

1976 wurde Jarmusch erst Schüler und 1979 Assistent des Regisseurs Nicholas Ray10, der an der NYU Film School einen Lehrstuhl innehatte (Andrew, 1999a: 121):

"Er war mein Vorbild (...) Sein Selbstverständnis als Filmemacher, wie er immer sagte, bedeutete für ihn, genauso viel über Musik, Literatur, Malerei, Politik wissen zu müssen wie über Film. (...) Er inspirierte mich sehr, (...) von ihm habe ich mehr gelernt als durch alle anderen Erfahrungen, die ich vorher hatte." (Jarmusch, 1980a: 3).

Während seines fast dreijährigen Filmstudiums war Jarmusch u.a. als Toningenieur an Eric Mitchells Film Underground USA (1980) beteiligt und lernte 1979 bei den Dreharbeiten zu Nick's Movie - Lightning Over Water (1979/80) Wim Wenders kennen (Andrew, 1999a: 121). Bei dieser Koproduktion zwischen Wenders und Ray über dessen bevorstehenden Tod11 arbeitete Jarmusch als Produktionsassistent mit (Holmes, 1986: 38). 1980 drehte er seinen ersten eigenen Film, Permanent Vacation, den er Nicholas Ray widmete12. Dieser für nur $12.00013 produzierte Debütfilm, ursprünglich Teil des Universitätsprogramms und als Abschlußfilm der Hochschule gedacht, gefiel den Prüfern jedoch nicht, weshalb er zunächst keinen offiziellen Abschluß erhielt. Außerdem hatte Jarmusch sein Stipendium der Louis B. Mayer Foundation für das Budget seines Films verwendet, anstatt davon seine Studiengebühren zu zahlen (Jarmusch, 1999: www). Obwohl Permanent Vacation als Abschlußfilm mißfiel, wurde er mehrfach auf europäischen Filmfestivals14 prämiert (Andrew, 1999a: 122). Erst Jahre später, nachdem seine Filme bereits internationalen Ruhm erlangt hatten, erhielt er nachträglich die Anerkennung seiner Filmhochschule (Jarmusch, 1999: www), worauf er jedoch keinen besonderen Wert mehr legte:

"With that degree and a $1.50, you can buy a coffee in New York" (Jarmusch, 1999: www).

Der enge Produktionsrahmen dieses ersten Films beinhaltete einige Restriktionen: Aus Kostengründen konnte Jarmusch nur mit an der Hochschule geliehener Technik auf sehr billigem und illegal beschafften 16mm-Filmmaterial drehen und mußte mit diesem sparsam umgehen (Jarmusch, 1980a: 2). Die Drehzeit betrug zehn Tage und die Schauspieler waren Laien; der Hauptdarsteller spielte u.a. Teile seines realen Lebens (Jarmusch, 1980b: 453).

2.1.3. Jim Jarmusch als IndependentRegisseur

"My films are like my children" (Jarmusch, 1999: www).15

Zusammen mit seiner Freundin Sara Driver16, selbst Filmemacherin in der Underground-Szene, gründete Jarmusch seine eigene Firma Cinesthesia Inc. und realisierte 1982 zunächst den Kurzfilm The New World, nachdem Wim Wenders ihm das unbelichtete Filmmaterial aus den Resten seines Films The State Of Things (1982) überlassen hatte (Mundt, 1991: 48f.). Er setzte wieder vor allem Darsteller aus seinem Bekanntenkreis ein, wie Eszter Balint17 und John Lurie, und produzierte den Film privat mit ca. $7.000 (Jarmusch, 1999: www). Der Kurzfilm bekam im selben Jahr den Internationalen Kritikerpreis in Rotterdam. Mit dem Preis gewann Jarmusch die finanzielle Unterstützung des deutschen Produzenten Otto Grokenberger sowie des ZDF, so daß er The New World zu seinem zweiten Spielfilm Stranger Than Paradise (1984) ausbauen konnte, mit dem ihm schließlich der internationale Durchbruch als Regisseur und Filmemacher gelang (Andrew, 1999a: 123): Der für $120.000, dem Zehnfachen seines ersten Budgets, produzierte Film erhielt weltweit einige wichtige Preise, darunter die Caméra d'Or und den Preis der amerikanischen Filmkritik. Mit Stranger Than Paradise wurde Jarmusch zum "Liebling der Kritik und des Publikums" (Mundt, 1991: 49).

Es folgten zahlreiche Auftritte bei Filmfestivals in Europa und Japan, wo er, wie eingangs erwähnt, im weiteren Verlauf seiner Karriere größeren Erfolg hatte als in seiner Heimat (Merritt, 2000: 324). Bei diesen immer wieder neuen Reisen lernte Jarmusch für ihn wichtige Menschen kennen, wie u.a. den italienischen Komiker Roberto Benigni (Clarke, 1989: 32). Nachdem sein dritter Film Down By Law (1986) ebenfalls einige Preise auf europäischen Festivals gewonnen hatte, bekam Jarmusch 1987 vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) ein Stipendium für einen dreimonatigen Aufenthalt in West-Berlin (Jarmusch, 1987c: 1). Durch zahlreiche kürzere und längere Auslandsaufenthalte dieser Art, so auch bei den Filmemachern Kaurismäki in Helsinki, vertiefte Jarmusch seine Kenntnisse unterschiedlicher Kulturen und Sprachen, die er in seinen Filmen verarbeitete:

"I love to travel and I love to be in places where I don't understand everything culturally, or even linguistically, because my imagination opens up" (Jarmusch, 1999: www).

Jarmusch realisierte seine Filme mit steigenden Budgets18 und immer höher dotierten Schauspielen bzw. später sogar Stars wie Winona Ryder in Night On Earth (1991), Robert Mitchum und Johnny Depp in Dead Man (1995) oder Forest Whitaker in Ghost Dog (1999). Dennoch beschränkte er sich weiterhin größtenteils auf Darsteller aus seinem Bekanntenkreis19, oftmals Musikerpersönlichkeiten wie Tom Waits, Joe Strummer, Screamin' Jay Hawkins oder Iggy Pop, deren Persönlichkeiten ihm eine Idee für eine Figur lieferten und deren realer Hintergrund in seinen Filmen mitschwingt bzw. einen Bestandteil der Geschichte bildet (Jarmusch, 1999: www). Jarmuschs Filme entstehen grundsätzlich in Kooperation mit den beteiligten Schauspielern. Erst mit ihnen im Kopf beginnt er mit einem neuen Drehbuch (Jarmusch, 1999: www), so auch Roberto Benigni in Down By Law, die Japaner Youki Kudoh und Masatoshi Nagase u.v.m. in Mystery Train (1989), um nur einige Beispiele zu nennen. Für Night On Earth wählte er schließlich sogar die Drehorte und Geschichten bewußt nach den Darstellern aus, mit denen er arbeiten wollte (Jarmusch, 1999: www).

"I started working with friends of mine and that, to some degree, continues. I always start with characters rather than with a plot, which many critics would say is very obvious from the lack of plot in my films - although I think they do have plots - but the plot is not of primary importance to me, the characters are" (Jarmusch, 1999: www).

Nachdem sich für Down By Law schon kleinere amerikanische Produzenten neben den bisher coproduzierenden westdeutschen Firmen fanden, konnte Jarmusch 1989 für Mystery Train u.a. die japanische JVC als Produzent aquirieren, die ihn seither zusammen mit der deutschen Pandora Film und wechselnden kleinen Firmen bei allen Spielfilmen finanziell unterstützt hat (Jarmusch, 1999: www). 1995 erklärte sich schließlich die amerikanische Miramax20 bereit, Dead Man in den USA zu vertreiben, doch Jarmusch mußte sich ihr gegenüber entschieden für die Realisierung des Films nach seinen eigenen Vorstellungen einsetzen. Miramax reagierte darauf mit massiven Verzögerungen bei dessen dortigem Kinostart: Der Verleih witterte wenig erfolgversprechende Verkaufsaussichten und verlor trotz Starbesetzung mit Mitchum und Depp das Interesse an dem Film21 (Rosenbaum, 2000: 16f.).

Aufgrund derart einschränkender Erfahrungen mit dem amerikanischen Filmmarkt konzentriert sich Jarmusch wie erwähnt auf außeramerikanische Geldgeber, obwohl mit dem Bestehen auf Unabhängigkeit oft jahrelanges Verhandeln und Warten auf die Finanzierung eines neuen Films aus Europa verbunden ist (Kiefer, 1999: 333). Da diese ihn jedoch in seiner künstlerischen Freiheit nicht einschränken, konnte er seine Filme stets nach eigenen Vorstellungen realisieren (Jarmusch, 1999: www). Offenbar will Jarmusch persönliche Anliegen auf eine besondere Weise in seinen Filmen ausdrücken. Insgesamt hat er in seiner ca. 20jährigen Laufbahn sieben Spielfilme realisiert, sowie neben dem dokumentarischen Konzertfilm Year Of The Horse (1997) auch eine Serie von fünf Kurzfilmen mit dem Titel Coffee & Cigarettes, von denen jedoch bisher nur drei veröffentlicht wurden (Jarmusch, 1999: www).

Die Begeisterung an Jarmuschs Filmen hat vor allem in den USA mittlerweile nachgelassen: Zwar bekam er z.B. für Dead Man den europäischen Felix verliehen und für Ghost Dog den Douglas Sirk-Preis in Hamburg (Jarmusch, 2000: 12), doch beide Filme wurden von der amerikanischen Kritik weitgehend ignoriert (Rosenbaum, 2000: 14). Sein Einfluß auf den unabhängigen amerikanischen Film wird dennoch heute als bedeutend bezeichnet, zumal junge Regisseure wie Kevin Smith, Hal Hartley oder Spike Lee22 seinem Vorbild folgen und ihrerseits ein größeres Publikum erreichen konnten (Andrew, 1999a: 146). Außerdem hat Jarmusch seit Stranger Than Paradise viele unabhängige Filmemacher durch Kurzauftritte in ihren Filmen unterstützt, neben den Brüdern Kaurismäki z.B. auch Wayne Wang mit Blue In The Face (1995) und Billy Bob Thornton mit Sling Blade (1996) (Andrew, 1999a: 146). Trotzdem er also mittlerweile eine Vorbildfunktion innehat, begreift Jarmusch seine eigene filmische Arbeit als nie endenden, persönlichen Lernprozeß:

"Each film I make I learn a lot from and maybe, some day, I'll learn really how to make films, but probably not" (Jarmusch, 1999: www).

Die verschiedenen Stationen im Leben Jim Jarmuschs verweisen auf seine vielfältigen Interessen und Fähigkeiten in Poesie, Film und Musik. Nachdem er zunächst Literatur studiert hatte und auch in der Musik eine Möglichkeit des emotionalen Ausdrucks sah, fand er schließlich im Medium Film zu einer Synthese der Künste. Zugleich macht sein Lebenslauf deutlich, daß er sich vom Mainstream der amerikanischen Gesellschaft23 abzugrenzen versuchte. Dies spiegelt sich vor allem in seinem künstlerischen Umfeld an der Lower East Side, die daher im folgenden Abschnitt beleuchtet wird. Besonders Jarmuschs früh gewecktes Interesse für unterschiedliche Kulturen und seine vielen Reisen prägten seine persönliche Entwicklung, weshalb er diese Lebensstationen in seinen Filmen festhält:

"Obwohl ich bis zu einem gewissen Grad Amerikaner bin, bin ich doch von Europa geprägt, besonders was Literatur, Malerei und Kino angeht. Ich fühle mich irgendwie dazwischen und ich mag das Gefühl, ein Drifter zu sein" (Jarmusch, 1987c: 2).

2.2. Die Künstlerszene an der Lower East Side

Seit der Zeit des Pop Art-Künstlers Andy Warhol entstand in den 60er und 70er Jahren an der New Yorker Lower East Side der sog. New York Underground24, in dem sich die unterschiedlichsten künstlerischen Strömungen mischten (Merritt, 2000: 303). Stark geprägt auch von Bewegungen wie der Beat Generation25 und der Fluxus-Kunst26, ging es den Künstlern nicht um Virtuosität, sondern vielmehr um den emotionalen Ausdruck ihres persönlichen Lebensgefühls, so daß eine Art "make-it-in-the-garage-aesthetic" daraus hervorging (Jarmusch, 1999: www). Die Künstler verfolgten jedoch keine politischen Ambitionen, sondern wandten sich gegen die amerikanische Mainstream-Kultur, da sie sich nicht mit den kulturellen Werten der Wohlstandsgesellschaft identifizierten (Schindler, 2000: 29). Statt dessen wollten sie die Möglichkeiten der Avantgarde und des Pop erforschen (Merritt, 2000: 303). Zu dieser Zeit waren in der Gegend die Mieten billig, weshalb dort viele junge und mittellose Künstler lebten (Jarmusch, 1996b: www). Neben der Punk-Musik hatten an der Lower East Side auch die Graffitikunst und der Hip-Hop ihre Wurzeln. Kleine Kunstgalerien unterstützten die Künstler, ohne dabei auf kommerzielle Erfolge abzuzielen (Jarmusch, 1996b: www):

"It was a vibrant, disorganized collective of artists, filmmakers, and musicians (...) Punk, graffiti, New Wave, postmodern, rap - it struck a pose" (Merritt, 2000: 303).

Die Punk-Bewegung erstreckte sich neben der Musik auch auf andere Kunstrichtungen, so entstand 1978 die sog. Super-8-Punkszene, eine Gruppe junger Filmemacher, die sich das New Cinema nannte (Mundt, 1991: 47). Sie bestand aus Experimentalfilmkünstlern wie Scott und Beth B., aber auch aus Low-Budget-Filmemachern wie Eric Mitchell und Susan Seidelman (Jarmusch, 1996b: www). Ihre Konzentration lag z.B. auf Autobiographien, filmischen Tagebüchern oder betont narrativen Spielfilmen, die häufig sehr persönliche Inhalte hatten (Mundt, 1991: 47). Susan Seidelman war die erste Low-Budget-Filmemacherin dieses New Cinema, der ein Durchbruch gelang (Merritt, 2000: 303). Neben ihrem Smithereens (1982) zählen u.a. Mitchells Underground USA sowie Jon Josts Angel City (1977) zu den bekannteren Produktionen aus der Zeit (Andrew, 1999a: 35f.). Jim Jarmusch selbst beschreibt vor allem Amos Poes The Foreigner (1978) als signifikant für diese Szene, deren Lebensgefühl er in dem für nur $5.000 realisierten Film repräsentiert sah:

"It was so loose and raw, so close to the idea of the music of the late Seventies - so-called punk music where musicianship wasn't important, virtuosity wasn't the main criterion, it was 'I have something I want to express'" (Jarmusch, 1992a: 35).

Die Low-Budget- bzw. Super-8-Filme fanden in der Regel keine Kinoverleihe und wurden daher in Musikclubs gezeigt (Mundt, 1991: 47). Weiterhin bot die Underground-Szene durch die Gründung unabhängiger Labels vielen jungen Regisseuren, neben Jarmusch auch David Lynch u.a., eine Plattform für erzählstilistische Experimente durch das Drehen von Musikvideospots (Andrew, 1999a: 37). So vermischten sich die Grenzen zwischen den künstlerischen Bereichen, was bei Jarmusch Ausdruck im bereits erwähnten Einsatz von Darstellern aus der Musikszene findet. Die Vielfältigkeit der Kunstrichtungen an der Lower East Side, sowie deren Herangehensweise an die Kunst als Ausdruck von Emotionen und dem persönlichen Lebensgefühl ermutigte Jarmusch offenbar, seine persönlichen Anliegen selbstbewußt in seinen Filmen auszudrücken. Gleichzeitig trug dieses künstlerische Umfeld maßgeblich zur Entwicklung einer Art "Bewegung" im amerikanischen Independent-Film bei, die bis in die 80er Jahre hinein weitgehend unsichtbar blieb (Andrew, 1999a: 36f.), wie das folgende Kapitel noch genauer zeigen wird.

3. Die filmischen Vorläufer Jim Jarmuschs

Dieses Kapitel soll einen Überblick über die Einflüsse der weltweiten Kinoströmungen auf Jarmuschs filmische Arbeit geben. Um seine ästhetischen Ansätze zu verstehen und interpretieren zu können, ist es notwendig, deren Ursprünge darzulegen.

Dazu wird erst einmal die Geschichte des amerikanischen Independent-Film betrachtet, wobei das Interesse vor allem einigen speziellen Regisseuren gilt, die auf Jarmusch einen besonderen Einfluß nahmen. Dazu gehören neben seinem Lehrer Nicholas Ray auch John Cassavetes (Andrew, 1999a: 139) und Terrence Malick (Andrew, 1999a: 29). Im Anschluß daran werden die weiteren Einflüsse des internationalen Kinos auf Jarmuschs Arbeit beleuchtet. Dazu gehören in ästhetischer Hinsicht in Europa vor allem der italienische Neorealismus und die französische Nouvelle Vague, sowie auch einzelne Vertreter des japa-nischen Films, insbesondere Yasujiro Ozu, der neben dem Franzosen Robert Bresson den Modus der sog. "parametrischen Narration" prägte. Im Zusammenhang mit dem euro-päischen Kino wird auch der Neue Deutsche Film betrachtet, da Jarmuschs Arbeit einerseits von Wim Wenders mit beeinflußt, er aber vor allem durch deutsche Geldgeber zu Beginn seiner Laufbahn gefördert wurde. Die damit verbundenen Hintergründe werden kurz aufgezeigt.

3.1. Der amerikanische Independent-Film

Wie die vorangegangenen Kapitel deutlich gemacht haben, gilt Jarmusch in den USA als "embodiment of modern independent film" (Merritt, 2000: 360). Stranger Than Paradise stellte in diesem Zusammenhang einen "Wendepunkt" dar (Andrew, 1999a: 37), der u.a. durch die New Yorker Underground-Szene ermöglicht wurde: An ihr, sowie auch an vereinzelten Individualisten des amerikanischen Films wie vor allem John Cassavetes, orientierte sich in den 80er Jahren das erst jetzt entstehende "Netz unabhängiger Filmemacher" (Andrew, 1999a: 36). Diese erreichten bis dahin lediglich ein kleines Publikum, so daß dabei keine "Bewegung" erkennbar war. Noch heute arbeitet in den USA die Mehrheit der Regisseure für Hollywood (Andrew, 1999a: 35). Eine amerikanische Independent-Filmszene entwickelte sich zunächst aus der Notwendigkeit heraus, sich von den von Hollywood kontrollierten Konventionen der Filmindustrie abzugrenzen: Diese waren bereits zur Stummfilmzeit "remarkably standardized"27 (Bordwell/Thompson, 1993: 458). Dort etablierten sich vor allem narrative Formen28, die aufgrund der immer stärkeren kommerziellen Einbindung der Major Studios auch die Sehgewohnheiten des Publikums prägten (Bordwell/Thompson, 1993: 456f.). In den 80er Jahren verstärkte sich dies noch durch die mittlerweile aufkommende Wohlstandsgesellschaft, so daß Hollywood nun "in der Lage (war), ganze Kinoketten zu kontrollieren (...)" (Schindler, 2000: 5). Hollywood produzierte, seinen eskapistischen Strategien folgend, ausschließlich großangelegte Spektakel:

"Das Ergebnis war, daß alle jungen Filmemacher, die die von den Studios bevorzugte Realitätsferne umgehen oder übertreffen wollten, sich um Gelder von außerhalb des Mainstream kümmern mußten (Andrew, 1999a: 37).

3.1.1. Frühe Mavericks

Trotz dieser heute allgemein gegen Ende der 70er Jahre angesiedelten "Entstehung" des amerikanischen Independent-Films (vgl. Merritt, 2000: 260ff.), gab es immer wieder einzelne selbstbewußte Individualisten, die sich den Manipulationsversuchen Hollywoods bei der Filmproduktion widersetzten und z.T. selbst das klassische Kino prägten. Zu den ersten dieser sog. Mavericks29 zählte Orson Welles, der in seinem Regiedebüt Citizen Kane (1941) erstmals die damals in Hollywood noch untypische Tiefenschärfe verwendete und die Konventionen der narrativen Kontinuität erweiterte30 (Bordwell/Thompson, 1993: 473). Bereits bei diesem Film, der später große Erfolge hatte, kämpfte Welles bei der Produktionsfirma RKO für seine künstlerische Freiheit. Er verlor sie mit dem zweiten Film The Magnificent Ambersons (1942) jedoch wieder, als dieser gegen seinen Willen umgeschnitten und z.T. sogar neu gedreht wurde31. Welles' ästhetische Verfahren wurden vom Publikum nicht verstanden: Seine Filme waren sehr düster und komplex, was den Großteil der Zuschauer langweilte (Andrew, 1999a: 13). Hollywood zwang ihn daher zu konventionelleren Produktionen wie The Stranger (1946) oder später Touch Of Evil (1958). Da Welles jedoch seiner künstlerischen Vision treu bleiben wollte, wandte er sich an kleine Gesellschaften wie Republic, an europäische Investoren oder finanzierte selbst. So verkörperte er einen "Geist von Unabhängigkeit", der bis heute immer wieder individuelle Filmemacher inspirierte (Andrew, 1999a: 14).

Während der 40er und 50 Jahre wurden das aufkommende Fernsehen und die Auswirkungen des Kalten Krieges zur Krise für Hollywood, das sich trotz Entwicklung des Farbfilms und Cinemascope-Formaten an den gesellschaftlichen Eskapismus jener Zeit anpaßte. Mit der besonders auf extravagante Künstler einsetzenden Hetzjagd durch Senator Joe

McCarthys "Komitee zur Untersuchung unamerikanischer Umtriebe" (Andrew, 1999a: 14) war Hollywood geprägt von Talentschwund und Verrat von Kollegen. Viele Regisseure gingen nach Europa, wie z.B. Stanley Kubrick. Andere machten innerhalb der Industrie weiter, wie Jarmuschs späterer Mentor Nicholas Ray, Douglas Sirk oder Sam Fuller (Andrew, 1999a: 14f.). Sirk und Ray hatten oft mit den Studios Konflikte und schmuggelten subversive Kritik in "konventionell" erscheinende Genre-Filme, während Fuller eigene Low-Budget-Produktionen machte oder für das billigere Studio Fox arbeitete (Merritt, 2000: 115). Nicholas Ray, dessen Regiedebüt They Live By Night (1947) einige konventionelle Brüche wie z.B. eine elliptische Erzählweise aufwies, konnte jedoch seine folgenden Filme ebenfalls nicht immer nach eigenen Vorstellungen durchsetzen. So mußte er z.B. auch bei Johnny Guitar (1954)32 den Vorstellungen desselben Studios wie Welles entsprechen, obwohl er seinerseits den Stil Hollywoods beeinflußte (Andrew, 1999a: 8), u.a. mit Filmen wie In A Lonely Place (1950) und Rebel Without A Cause (1955). Ende der 50er Jahre gingen kleinere Produktionsfirmen wie Republic und RKO pleite und es wurden Firmen wie Crown International gegründet, sog. "exploitation specialists" (Merritt, 2000: 151). Mehrere Filmemacher gründeten während der 50er Jahre auch eigene Firmen, um sich nicht kontrollieren zu lassen, so z.B. Robert Aldrich, Burt Lancaster oder Jerry Lewis, von denen jedoch die meisten ihre Studios wieder verkauften und zurück nach Hollywood gingen (Merritt, 2000: 137).

3.1.2. Die "wahren" Unabhängigen: New Yorker Underground

Trotz der Kontrolle Hollywoods über Schauspieler, Regisseure und Vorführmöglichkeiten gab es bereits in den 40er Jahren Avantgarde-Künstler und Art Film Fans (Merritt, 2000: 123). In Manhattan formierte sich eine Gruppe experimenteller Filmemacher um Maya Deren, die mit ihrem Experimentalfilm Meshes Of The Afternoon (1943) mit narrativen Konventionen brach: Sie spielte mit den Möglichkeiten von Traum und Realität und organisierte sie in einer Zeitschleife, die keinen logischen oder dramatischen Ablauf33 erkennen ließ. Maya Deren führte während der nächsten zwei Jahrzehnte die amerikanische Avantgarde an, zu der auch Künstler wie Stan Brakhage und Kenneth Anger zählten (Merritt, 2000: 89). Das breite Publikum konnte jedoch nicht einmal Welles' Filme "verstehen", es verlangte nach offensichtlichen Erklärungen für den Sinn und Zweck eines Films oder sogar nach Untertiteln. So erreichte die von Hollywood ignorierte Avantgarde nur Fachkreise in New York und San Francisco (Merritt, 2000: 123). Obwohl diese experimentellen Arbeiten des sog. Underground-Film im Vergleich zu den Mavericks extrem unkonventionell waren (Andrew, 1999a: 15), trieb Maya Deren als eine der wenigen "wahren Independents" in den USA die Entwicklung unabhängiger Filmemacher wesentlich voran. Sie gründete 1953 mit ihrer Gruppe Cinema 16 die Film Artists Society als ein Forum für Avantgarde-Produktionen (Merritt, 2000: 131). Ihr Nachfolger Jonas Mekas, der selbst mit dokumentarischer Handkamera Filme wie Guns In The Trees (1960) realisierte, führte diese Arbeit fort. 1960 gründete er u.a. die Zeitschrift Film Culture34, in der er ein unabhängiges "Cinema of personal expression" (Merritt, 2000: 183) proklamierte, und organisierte seit 1964 die Filmmaker's Cinemateque (Merritt, 2000: 183).

Zur gleichen Zeit begann auch der in New York lebende Pop-Art Künstler Andy Warhol, Filme zu machen, die er selbst als "schlecht" bezeichnete (Merritt, 2000: 186). Er drehte 1963 und 1964 z.T. mehrere Stunden dauernde "silent, static, one-subject movies" (Merritt, 2000: 187) wie Sleep oder Haircut, die aber nur in seiner Factory gezeigt wurden. Seit 1965 machte er auch Tonfilme über größtenteils sinnlose Konversationen und mit sog. "real emotions" (Merritt, 2000: 187), die oftmals von brutaler Gewalt unterbrochen waren, wie z.B. Chelsea Girls (1966). Der Film wurde in Mekas' Cinemateque gezeigt. Die experimentelle Underground-Bewegung wurde u.a. durch Warhol zunehmend zum Ausdruck der aufkommenden Jugendbewegung und nahm während der folgenden Jahre steigenden Einfluß auf die New Yorker Szene und das bereits erwähnte New Cinema, das sich in den 70er Jahren formierte (Merritt, 2000: 187f.).

3.1.3. John Cassavetes' "Anti-Hollywood-Haltung"

Wie bereits angedeutet, gilt John Cassavetes als wichtiger Vorreiter des amerikanischen Independent-Films (Andrew, 1999a: 17). Er besaß als einer der wenigen "true mavericks" bis zu seinem Tod 1989 die Rechte an seinen selbst produzierten Filmen (Merritt, 2000: 264). Sein Regiedebüt Shadows (1959)35 war vor allem von den französischen Kritikern der Cahiers du Cinéma um André Bazin sowie der Beat Generation beeinflußt und wurde maßgeblich gefördert durch die Avantgarde: Uraufgeführt im Cinema 16 debütierte der Film zeitgleich mit Jean-Luc Godards A bout de souffle (1959) und lief 1960 auch selbst in Cannes (Merritt, 2000: 158). Von Fachleuten wie Geoff Andrew als "Meilenstein des unabhängigen amerikanischen Kinos" (Andrew, 1999a: 15) bezeichnet, entstand er jedoch lange vor der sog. American New Wave Ende der 60er Jahre und somit lange vor der

"Genese" des Independent-Film (Merritt, 2000: 158). Cassavetes' stand mit seiner "Anti-Hollywood-Haltung" (Andrew, 1999a: 35) in enger Verbindung zur französischen Nouvelle Vague und dem italienischen Neorealismus. Er stellt eine Mischform amerikanischer und europäischer Filmverständnisse dar, die später oft von unabhängigen Regisseuren nachgeahmt wurde (Andrew, 1999a: 18): John Cassavetes brach mit einigen Strukturen der klassischen Narration. Im Gegensatz zu deren dramatischen Handlungsverläufen reihte er z.T. improvisierte Szenen scheinbar zufällig und elliptisch aneinander, so daß keine Spannungskurve entstand. Tempo und Struktur seines Shadows waren weitgehend von seinen marginalen Charakteren bestimmt, denen er die originalen Namen der Schauspieler gab. Dies stand im Gegensatz zu den in Hollywood gängigen Stereotypen. Außerdem drehte Cassavetes an Originalschauplätzen und in einer "Low-Budget-Ästhetik" (Andrew, 1999a: 16): Mit körnigem Schwarzweiß-Material und z.T. Handkamera filmte er detaillierte Dialoge in langen Einstellungen und einer sparsamen Mise-en-scène36. Cassavetes' Besonderheit war sein ständiges Bewußtsein über die Existenz einer (beobachtenden) Kamera, die die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Darstellung der Erzählung selbst und weg von der eigentlichen Handlung lenkte (Andrew, 1999a: 16). Sein selbstbewußter und sehr persönlicher Stil stand im Gegensatz zu den "vergleichsweise anonymen (...) Merkmalen" der Regisseure Hollywoods (Andrew, 1999a: 38).

Dennoch blieb Cassavetes in den 60er Jahren eher eine Randfigur und arbeitete nach seinem Debüt selbst für Hollywood, wo er jedoch negative Erfahrungen machte (Andrew, 1999a: 18). Daher folgten wieder selbst produzierte Low-Budget-Filme wie Faces (1968) und A Woman Under The Influence 37 (1974), die beide von "raw emotions" und "real-time aesthetics" geprägt waren (Merritt, 2000: 201f.). Cassavetes' Filme der späten 70er Jahre, wie Opening Night (1977) und Gloria (1980) stellten traditionelle Genre-Elemente in Frage. Sein "Mißtrauen gegenüber Filmklischees" (Andrew, 1999a: 17) übte einen großen Einfluß auf das moderne Kino aus: Heute kritisieren viele unabhängige Regisseure durch den verändernden und ungewöhnlichen Einsatz von Genre-Konventionen direkt und indirekt die Verfahren der klassischen Narration (Andrew, 1999a: 38).

3.1.4. American New Wave

Während es in den 60er Jahren immer mehr Zuwachs an den amerikanischen Filmschulen der Universitäten wie UCLA und NYU gab, stieg auch das Interesse an europäischen Auteurs wie Antonioni oder Godard. Gleichzeitig produzierte Roger Corman, einfache, auf den amerikanischen Autokinomarkt ausgerichtete Exploitation-B-Movies (Andrew, 1999a: 18). Corman lehnte Angebote großer Studios wie Columbia ab und produzierte statt dessen meist für American International Pictures (AIP)38 (Merritt, 2000: 125). Obwohl er mit "Kunst" nichts zu tun hatte, war Corman bereit, mit Budgetgrenzen und Genre-Konventio-nen zu experimentieren (Merritt, 2000: 164). Er gründete 1960 seine Produktionsfirma New World. In seiner sog. "Corman-Schule" beschäftigte er eine Reihe damals noch unbekannter, junger Talente wie Francis Ford Coppola, Jack Nicholson, Dennis Hopper, Martin Scorsese, Robert DeNiro u.v.a. (Andrew, 1999a: 19). So hatte er als unabhängiger Filmemacher eine wichtige Bedeutung für viele eigenwillige Regisseure der darauffolgenden Jahrzehnte (Merritt, 2000: 125), denn die meisten seiner Mitarbeiter bildeten die im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen sowie der Zensur unter Präsident Nixon Ende der 60er Jahre aufkommende sog. American New Wave: Von der "Corman-Schule" beeinflußt, wollten sie mit Low-Budget-Produktionen Filmkunst machen, doch die Major Studios schluckten schließlich viele dieser neuen Pioniere (Merritt, 2000: 195f.).

Hollywood gab in dieser Zeit einigen jungen und andersdenkenden Regisseuren eine Chance, so z.B. Sam Peckinpah, Robert Altman, Arthur Penn und Dennis Hopper: Peckinpah drehte meist Western, untergrub aber deren Form, indem er brutale Gewaltdarstellungen einbaute und innovativ mit dem klassischen Genre umging, so z.B. in seinem kontroversesten Film The Wild Bunch (1969) (Andrew, 1999a: 19). Dennis Hopper wurde nach seinem bahnbrechenden Erfolg mit Easy Rider (1969), bis dahin das "non-studio motion picture" schlechthin (Merritt, 2000: 196), den er zusammen mit Peter Fonda selbst produziert hatte, als Star in der Independent-Szene gefeiert. Er bekam daraufhin freie Hand für seine chaotische Western-Allegorie The Last Movie (1971), die allerdings floppte. Dies führte dazu, daß Hollywood zukünftig noch seltener Geld in unabhängige Produktionen steckte (Andrew, 1999a: 20).

Einige Filme der neuen Strömung waren erfolgreich, so auch Robert Altmans Persiflage auf die Kriegsdramen Hollywoods, M.A.S.H. (1969). Der Film spiegelte den unabhängigen Geist der damaligen Filmszene und bestand wie Shadows, zehn Jahre zuvor, ebenfalls eher aus einer Aneinanderreihung einzelner Szenen, als daß er eine zusammenhängende Geschichte erzählte. Altmans folgende Produktionen waren subversive, kritische Genrefilme wie Thieves Like Us (1973), ein Remake von Rays They Live By Night, oder Buffalo Bill And The Indians (1976) (Andrew, 1999a: 21). Obwohl er für Major Studios39 produzierte, inspirierte Altman die nächste Generation von Independent-Regisseuren. In den 70er Jahren stellte er einen Höhepunkt in der amerikanischen Filmszene dar (Andrew, 1999a: 22f.).

In den frühen 70er Jahren produzierte auch Hollywood einige ambitionierte Projekte. Nun traten die wie Altman aus der "Corman-Schule" hervorgegangenen sog. "Movie brats" (Andrew, 1999a: 23) wie Scorsese, Coppola und Brian De Palma in den Vordergrund. Coppola galt mit seinen nachdenklichen Geschichten über die Korruption der Macht von The Godfather (1971 und 1974) bis Apocalypse Now (1979) ein Jahrzehnt lang als wegweisend. Scorseses Filme hingegen waren sehr komplex, mit Taxi Driver (1976), New York, New York (1977) und Raging Bull (1979) hatte er schließlich den "Ruf als der Inbegriff des unkonventionellen Filmemachers schlechthin" (Andrew, 1999a: 23). Trotz der "eleganten Aufmachung" (Andrew, 1999a: 23) seiner Filme stellte er in ihnen Gewalt, Besessenheit und Angst detailliert dar und brachte persönliche Erfahrungen aus Little Italy ein, weshalb er selten Happy Endings einsetzte. Scorsese zog Referenzen zur Popkultur, neben der Verwendung von Rockmusik im Soundtrack äußerte sich dies in der, oft an Cassavetes erinnernden, Darstellung intensiver menschlicher Gefühle (Andrew, 1999a: 23). Er widerstand lange Zeit den Angeboten Hollywoods, während sich andere Regisseure aus der "Corman-Schule" schnell anschlossen, so z.B. Steven Spielberg und George Lucas. In dieser Hinsicht war Scorsese Ende der 70er Jahre beinah einzigartig und ermutigte junge Regisseure, ihre Filme nicht nach Hollywood-Schema zu machen (Andrew, 1999a: 24).

Geoff Andrew bezeichnet den seit Ende der 70er Jahre zurückgezogen lebenden Terrence Malick mit seinen zwei Filmen Badlands (1973) und Days Of Heaven (1979) als "rätselhaftesten und interessantesten aus dieser speziellen Generation von Einzelgängern" (Andrew, 1999a. 28). Sein Debüt Badlands war wie Altmans Thieves Like Us eine Variation des Themas zweier "Liebender auf der Flucht", bekannt bereits aus z.B. Arthur Penns Bonny And Clyde (1967) und Rays They Live By Night. Doch Malick ging mit dem Stoff auf eine neue Art um und entwickelte eine gelassene und ironische Erzählweise: Anstatt das Pärchen als "mißverstandene Außenseiter" darzustellen, zeigte er die beiden als indifferente Charaktere: Kit tötet, weil er sich aufspielen will und Holly nimmt "alles um sich herum wahr (...), als sei es Teil einer Geschichte aus ihren anspruchslosen Teen-Magazinen" (Andrew, 1999a: 28). Andrew beschreibt den Film mit "lyrischen, malerischen Bildern" als facettenreiche Darstellung der "Kluft zwischen der Banalität des täglichen Lebens und seiner romantisch verklärten Darstellung in den Medien" (Andrew, 1999a: 28).

In den 60er und 70er Jahren traten einige weitere vereinzelte Regisseure mit unabhängigen Produktionen hervor, z.B. Monte Hellman mit seinen Low-Budget-Western The Shooting und Ride The Whirlwind (beide 1966) oder Peter Bogdanovic mit What's Up, Doc? (1972) (Andrew, 1999a: 25). Weiterhin gab es den "entschieden autonomen" (Andrew, 1999a: 26) Woody Allen, der nach anfänglichen Komödien später intensivere Betrachtungen z.B. der Neurosen der New Yorker Mittelklasse vornahm, wie Annie Hall (1977) und Manhattan (1979) (Andrew, 1999a: 26). Auch Phil Kaufman drehte einige eigenwillige, poetisch-ironische Produktionen wie The Wanderers (1979) und The Right Stuff (1982). In letzterer offenbarte er einen "fast europäischen Eindruck einer kritischen Distanz zum Gezeigten" (Andrew, 1999a: 30). Der "straffe, wortkarge" (Andrew, 1999a: 30) Stil Michael Manns in Jericho Mile (1977) oder Thief (1981) z.B. erinnerte an die Filme Jean-Pierre Melvilles. Mann tendierte wie Kaufmann und Malick zu epischen Erzählweisen, sowie auch Michael Cimino. Dieser repräsentierte Ende der 70er Jahre zunächst einen "Triumph der jungen Wilden über Hollywood" (Andrew, 1999a: 29), als er für Heaven's Gate (1980) nach seinem Erfolg mit The Deer Hunter (1978) freie Hand von United Artists bekam. Der Mißerfolg des Films ruinierte jedoch beinah das Studio und schädigte das Ansehen der unabhängigen Regisseure in Hollywood, so daß dieses nun wieder Geld in realitätsfremde Ware steckte (Andrew, 1999a: 29): Mit steigenden Budgets kamen Exploitation-Filme wie Spielbergs Jaws (1975) und Lucas' Star Wars (1977) auf den Markt, die Mitte der 70er Jahre die "Blockbuster mania" (Merritt, 2000: 260) einläuteten. Diese führte schließlich zum Ende der American New Wave, als das Interesse nun großangelegten eskapistischen Spektakeln galt. In den 80er Jahren fielen viele der kleineren Hollywood-Studios dem "Blockbuster-Syndrom" zum Opfer40 (Merritt, 2000: 260ff.).

3.1.5. Entstehung einer Independent-Filmszene

Seit 1975 begann sich langsam eine Independent-Szene zu entwickeln, doch es gab nur wenige spezialisierte Verleihe und Festivals auf dem Non-Studio-Sektor, sowie ein paar hundert Kunsthäuser. Während Hollywood immer höhere Budgets bereitstellte, baute sich ein Unterstützungsnetz für Talente und kleinere Filme abseits des Mainstream auf, es wurden einige wichtige Festivals gegründet, so z.B. 1975 in Toronto und Seattle und 1977 in Montreal. Zwischen 1971 und 1986 war das Filmex in Los Angeles ein "key showcase of the era" (Merritt, 2000: 261). Auch die Festivals in New York City und San Francisco wurden immer bedeutender. So war es gegen Ende der 70er Jahre bereits möglich, innerhalb der USA ein Forum für den Off-Hollywood-Film zu etablieren, obwohl die weltweiten Festivals in Cannes und Venedig weiter führend blieben. 1978 eröffnete schließlich das US Film Festival, das aber erst seit der Übernahme 1984 durch Robert Redfords Sundance Institute und der entsprechenden Namensänderung einige Jahre später neben Cannes zu einem der wichtigsten Festivals der Welt wurde (Merritt, 2000: 261).

In dieser Zeit wurden auch die Underground-Filme nicht mehr nur in Avantgarde-Kreisen gezeigt, sondern erreichten inzwischen auch ein breiteres Publikum. So wurde Jim Sharmans The Rocky Horror Picture Show (1975) nach anfänglichen Schwierigkeiten ein Jahr nach seiner Premiere zum größten Kulterfolg aller Zeiten, produziert von Twentieth-Century-Fox: "The underground was a big business" (Merritt, 2000: 297). Andy Warhol war mittlerweile übergegangen zu kommerzielleren Filmen wie u.a. Andy Warhol's Frankenstein (1974), den er zusammen mit seinem Regisseur Morrissey in Europa produzierte (Merritt, 2000: 253). Nach derartigen Erfolgen drehte Warhol mit größeren Budgets Filme wie Andy Warhol's Bad (1977), den er aus eigener Tasche bezahlte und für den er sich bei John Waters41 Ideen auslieh (Merritt, 2000: 297). Vertrieben von Cormans New World, ging es in dem Film vor allem um blutige Gewalt. Warhol wollte mit dem Film Geld machen, doch als Corman gegen seinen Willen die Splatter-Szenen nicht herausschnitt, wurde der Film zensiert, so daß er viel Geld verlor (Merritt, 2000: 298). Warhol hatte sich zu dieser Zeit bereits selbst weitgehend angepaßt. Er überwachte und vermarktete nur noch die in seiner Factory entstehende Kunst. Obwohl er einzig mit Frankenstein ein größeres Publikum erreicht hatte, blieb Warhol eine "crucial figure in independent cinema" (Merritt, 2000: 298), da er seit den 60er Jahren eine bedeutende Entwicklung durchgemacht hatte: Angefangen mit statischen, langen Alltagsszenen addierte er nach und nach Ton, Musik, Handlungsverläufe, Farbe, 3-D, Kamerabewegungen und drehte seinen letzten Film Bad sogar mit einem Millionen-Dollar-Budget (Merritt, 2000: 298). Wie bereits erwähnt, hatte Andy Warhol großen Einfluß auf die New Yorker Underground-Szene der späten 70er Jahre, die daraufhin Erfolge wie Mitchells Underground USA oder Scott und Beth B.'s Vortex (1982) hervorbringen konnte (Merritt, 2000: 302):

"He brought the underground sensibility aboveground and sold it to an ever-widening fan base" (Merritt, 2000: 298).

Nachdem in diesem Zusammenhang zu Beginn der 80er Jahre unabhängige Regisseure wie neben Jim Jarmusch auch John Sayles42 auf der Bildfläche erschienen waren, konnten andere, die zuvor kompromißbereiter gewesen waren, sich von gemachten Zugeständnissen an Produktionsfirmen wieder lösen (Andrew, 1999a: 37). Dazu gehörte z.B. David Lynch: Er hatte mit dem sehr persönlichen Eraserhead (1976) begonnen, der nicht genrespezifisch klassifiziert werden konnte. Finanziert vom American Film Institute (AFI), wirkt er "eigentümlich, surreal und alptraumhaft" (Andrew, 1999a: 36). Doch Lynch wurden von Produktionsfirmen wie Dino DeLaurentiis konventionelle Angebote gemacht, deren Vorstellungen er sich dann unterzuordnen hatte, so in The Elephant Man (1980) und Dune (1984). Erst seit Blue Velvet (1986) fand er zu seinem mit Eraserhead begonnenen eigenwilligen Stil zurück, ermutigt durch die bereits eingesetzte Independent-"Bewegung" (Andrew, 1999a: 36f.). Diese entstand, wie eingangs beschrieben, vor dem Hintergrund der aufkommenden Wohlstandsgesellschaft in den USA, weshalb erst zu diesem Zeitpunkt die nötigen finanziellen Möglichkeiten für einen sich von Hollywood abgrenzenden Filmmarkt in der Gesellschaft vorhanden waren. So etablierte sich während der 80er und 90er Jahre ein regelrechter Markt für unabhängige Produktionen, die sich mittlerweile ebenfalls, nicht zuletzt durch die Vorgaben von Firmen wie Miramax und Sundance, an bestimmte Konventionen angepaßt haben und sich so ihrerseits weitgehend am Mainstream orientieren (Merritt, 2000: 353). Daher verkaufte sich der amerikanische Independent-Film im Verlauf der 90er Jahre immer besser und "the term 'independent' became fuzzier than ever" (Merritt, 2000: 357).

Jarmusch weist jedoch wie dargelegt einen sehr hohen Grad an "echter" Unabhängigkeit auf und bleibt auch von den Vorgaben des Independent-Filmmarkts weitgehend unberührt, obwohl seine frühen Erfolge, besonders mit Stranger Than Paradise, dem Independent-Film in den USA in den 80er Jahren zu einer größeren Popularität verhalfen:

"(...) Jarmusch remains resolutely autonomous. Even the current indie system has little effect on his creative decisions. Jim Jarmusch has been able to do something few directors can do: craft his own distinct style - a cinematic language of slow rhythms, minimalist camerawork, and deadpan dialogue" (Merritt, 2000: 360).

Einige der genannten Mavericks, wie Nicholas Ray, John Cassavetes und Terrence Malick, hatten jedoch einen ästhetischen und thematischen Einfluß auf Jarmusch, was in der Analyse in Kapitel 5. deutlich wird. Andy Warhol beeinflußte insgesamt die New Yorker Underground-Szene eher in "politischer" Hinsicht, indem er dieser zu einem größeren Ansehen bzw. Publikum verhalf. Jarmusch erhielt wie viele andere zu jener Zeit die Chance, auch mit geringen finanziellen Mitteln Filme zu machen, die ein größeres Publikum erreichten.

3.2. European Art Cinema

"Jarmusch erzählt typisch amerikanische Geschichten mit einer Ästhetik, die in ihren besonderen Merkmalen größtenteils vom europäischen und japanischen Kino herrührt und damit für amerikanische Sehgewohnheiten Neuland ist" (Mundt, 1991: 50f.).

In den 50er und 60er Jahren zeichneten sich in mehreren europäischen Ländern kinematographische Strömungen ab, die auf die politische Situation bzw. sozialen Veränderungen reagierten, besonders seit Verbreitung des Fernsehens, sowie im Zuge einer starken Konkurrenz aus Hollywood. Am Beispiel Cassavetes wurde bereits angedeutet, daß die notwendig gewordene Entstehung eines von Hollywood unabhängigen "Filmmarkts" in enger Verbindung zu den Entwicklungen im europäischen Kino nach dem Zweiten Weltkrieg stand (Merritt, 2000: 152). Die folgend aufgeführten kinematographischen "Bewegungen" Europas bzw. die einzelnen Filmemacher prägten vor allem die heute von Bordwell als sog. "Art Cinema Narration" bezeichneten Erzählstrukturen (Bordwell, 1985: 205ff.). Sie werden daher im folgenden Abschnitt beleuchtet, um zu sehen, welcher auf eine europäische Kinotradition zurückgehender Verfahren sich Jarmusch bedient. Diese sollen in der Analyse eine Hilfe für das Verständnis seiner Filme darstellen.

3.2.1. Der italienische Neorealismus

3.2.1.1. Der "neue Realismus" in den 40er Jahren

In Italien entstand aus ökonomischen und kulturellen Zwängen heraus bereits während der faschistischen Zeit in den frühen 40er Jahren der sog. Neorealismus43 (Bordwell/Thompson, 1993: 479): Mit Filmen wie Luchino Viscontis Ossessione (1942), Roberto Rossellinis Roma, città aperta (1945) bzw. Paisá (1946) oder Vittorio de Sicas Ladri di biciclette (1945) u.a. wollten diese Regisseure die soziale Wirklichkeit abbilden und plädierten für ein "anthropomorphes Kino"44, dessen Geschichten von "echten lebenden" Menschen handeln sollten (Meder, 1993: 54). Die Neorealisten wandten sich daher gegen Studioprodutionen und Postsynchronisation45, da sie den Filmen von vornherein jeden Realitätsbezug nahmen und so eine Darstellung bzw. Kritik an der "sozialen Wirklichkeit" unmöglich machten (Meder, 1993: 57f.). Die Filmemacher drehten daher an Originalschauplätzen, in der Regel mit flexibler, dokumentarisch wirkender Kamera, und verwendeten natürliche Lichtstrukturen, was zwar in erster Linie mit ihren eingeschränkten Produktionsbedingungen zusammenhing, aber ihrer Motivation entgegenkam (Bordwell/Thompson, 1993: 478). Sie favorisierten den Einsatz von Laiendarstellern, die zusätzlich eine große Freiheit zur Improvisation erhielten und lockerten die konventionellen narrativen Strukturen auf, indem sie wie z.B. in de Sicas Ladri di biciclette nicht kausal motivierte Details als dramaturgische Elemente einsetzten (Bordwell/Thompson, 1993: 478f.). Ihre Geschichten blieben meist offen oder wurden in einer episodischen Weise erzählt, wie z.B. Rossellinis Paisá (1946), der aus sechs Anekdoten des italienischen Lebens besteht, in denen einige Vorkommnisse ungeklärt bzw. ohne Folgen bleiben. Anstelle einer konventionellen Ursache-Wirkungs-Dramaturgie zeigte der Neorealismus somit auch triviale Momente des Lebens in einer "slice-of-life plot construction" (Bordwell/Thompson, 1993: 479).

3.2.1.2. Die Weiterentwicklung neorealistischer Tendenzen im italienischen Film

Auch nach Ende der neorealistischen "Bewegung"46 blieben im italienischen Film deren Elemente sichtbar, so besonders in frühen Filmen Federico Fellinis wie I Vitteloni (1954) oder bei Michelangelo Antonioni47. Dieser hatte schon in Cronaca di un amore (1951) mit diesen Elementen gearbeitet und entwickelte neorealistische Tendenzen weiter (Bordwell/Thompson, 1993: 479), indem er z.B. das Ursache-Wirkungs-Modell völlig auflöste, wie in L'Avventura (1959). Die Geschichte des Films, die Suche nach Anna, weist zunächst in eine bestimmte Richtung, um sich dann in einer anderen zu verlieren: der Liebesbeziehung zwischen Sandro und Claudia (Bordwell, 1985: 206f.). Wie L'Avventura hat auch Fellinis La Strada (1954) eine episodisch angelehnte Struktur: Durch den Verzicht auf Ultimaten ("deadlines") in der Dramaturgie entziehen sich diese Filme einer Hypothesenbildung über ihren weiteren Handlungsverlauf. Derartige Verfahren verwendete z.B. später auch Wim Wenders in Alice in den Städten (1974). Aufgrund ihrer Konzentration auf die innere Entwicklung der Charaktere bleibt das Ende solcher Filme sehr häufig offen (Bordwell, 1985: 207).

Michelangelo Antonionis analytischer Ansatz war, daß die Landschaft die Personen im Film spiegeln solle, da sie einen größeren Eindruck beim Zuschauer hinterlasse als die Schauspieler selbst (Meder, 1993: 61). Daher begann Antonioni, in seinen Filmen sog. "Ist-Zustände" zu beleuchten (Meder, 1993: 20), in denen die Szenen zu Metaphern wurden und so Aussagen über das Innenleben seiner Figuren treffen sollten.

Er thematisierte Identitätswechsel, wie im späteren Zabriskie Point (1969), behielt aber eine distanzierte Position zum Bildgeschehen bei, einen indifferenten "amoralischen Realismus" (Schaub, 1984: 9ff.).

Am Beispiel Antonionis erklärt Bordwell den ambivalenten Einsatz von "Realität" in der Art Cinema Narration, da er anders als in der klassischen Hollywood-Narration zwischen "objektiver" und "subjektiver" Realität in der filmischen Darstellung unterschied und die psychologische Motivation seiner Charaktere hervorhob (Bordwell, 1985: 206f.). Die Art Cinema Narration dramatisiert wie bei Antonioni durch einen "expressiven, subjektiven Realismus" in Bild oder Ton vor allem mentale Prozesse der Personen, wie z.B. Erinnerungen, Phantasien oder einfach Zustände (Bordwell, 1985: 208). In L'Avventura sowie auch in La Notte (1960) werden die Figuren häufig in Totalen gezeigt, in denen sie verloren und einsam wirken. Diese Form der "Realität" ist somit "subjektiv", während die "objektive" sich auf die äußeren Geschehnisse bezieht:

"The art film's 'reality' is multifacet. The film will deal with 'real' subject matter, current psychological problems such as contemporary 'alienation' and 'lack of communication.' The mise-en-scène may emphasize verisimilitude of behaviour as well as verisimilitude of space (e.g. location shooting, non-Hollywood lightning schemes) or time (e.g. the temps mort in a conversation)" (Bordwell, 1985: 206).

Die "subjektiven" Verfahren der Art Cinema Narration können sich sowohl im Style eines Films spiegeln als auch in dessen Syuzhet, z.B. durch zeitliche Verzögerungen, die Verwendung von Flashbacks, Einstellungswiederholungen oder andere Parallelen wie etwa zwei synchrone Erzählstränge (Bordwell, 1985: 209).

3.2.2. Die französische Nouvelle Vague

Beeinflußt u.a. vom italienischen Neorealismus formierte sich Ende der 50er Jahre die französische Bewegung der Nouvelle Vague48. André Bazin gilt als einer ihrer Vorantreiber, da er zusammen mit einer Gruppe von Filmkritikern in seiner Zeitschrift Cahiers du Cinéma ein neues Verständnis für Film prägte. Die Nouvelle Vague griff künstlerisch respektierte Regisseure an und favorisierte einige wenige, die anders mit dem Medium umgingen, wie z.B. Robert Bresson, Jean Renoir, Max Ophüls und Jacques Tati (Lux, 1995: 41). Die Vertreter der Nouvelle Vague verstanden die Bedeutung von Film vor allem dahingehend, was dieser bewirke und nicht, was er sei (Lux, 1995: 18). Somit legten sie größeren Wert auf die Botschaft eines Films als auf dessen Form (Lux, 1995: 28). Sie führten in diesem Zusammenhang den Begriff des filmischen Auteur ein: Der Begriff bezieht sich im Gegensatz zum literarischen Autorenfilm nicht zwangsläufig auf das Schreiben eines Drehbuchs, sondern auf die persönliche Note, die ein Regisseur in seinen Film einbrachte, so untergruben z.B. die Hollywood-Auteurs49 wie etwa Nicholas Ray das dortige, standardisierte System trotz Produktion eines Genre- bzw. Studiofilms (Bordwell/Thompson, 1993: 480). Ein Auteur bestimmt grundsätzlich die Mise-en-scène eines Films durch seine persönliche narrative Vorgehensweise und ist somit voll verantwortlich für sein filmisches Werk (Lux, 1995: 19ff.). Die "politique des auteurs"50 legte also Wert auf die Persönlichkeit des Regisseurs und seine Mise-en-scène bzw. Form, über die er sog. narrative Kommentare in den Film einbrachte (Bordwell/Thompson, 1993: 481):

"Stylistic devices that gain prominence with respect to classical norms - an unusual angle, a stressed bit of cutting, a striking camera movement, an unrealistic shift in lightning or setting, a disjunction on the sound track, or any other breakdown of objective realism which is not motivated as subjectivity - can be taken as the narration's commentary" (Bordwell, 1985: 209).

Der narrative Kommentar, geprägt vor allem durch Godard, gilt nach Bordwell neben den verschiedenen Realitätsebenen als wesentliches Merkmal der Art Cinema Narration (Bordwell, 1985: 205), da durch ihn selbstbewußte Stellen einer Narration, wie Anfang und Ende einer Szene, stark hevorgehoben werden (Bordwell, 1985: 209).

Die Nouvelle Vague-Regisseure favorisierten vor allem den "casual look" der neorealistischen Filme (Bordwell/Thompson, 1993: 480): Sie verwendeten ebenfalls einfache Schnitte, lange Einstellungen, reale Innen- und Außenaufnahmen, sowie eine flexible (Hand)Kamera51 und ersetzten die Studio-Ausleuchtung durch verfügbare und einfache Untermalung (Bordwell/Thompson, 1993: 481). Sie ermutigten ihre in der Regel nicht professionellen Schauspieler, ihr Leben zu improvisieren, um einen höheren Grad an Authentizität in ihrer intendierten Darstellung einer sozialen Wirklichkeit zu erreichen. Daher folgte die Kamera in der Regel den Figuren im Bild, was zu oftmals hektischen Kamerabewegungen und sogar zu 360°-Schwenks führte (Bordwell/Thompson, 1993: 481). Weiterhin experimentierten sie mit der Konstruktion ihrer Plots: Sie lockerten die Handlung durch zufällige Verknüpfungen noch weiter auf, weshalb ihre Geschichten in der Regel am Ende des Films offen blieben (Bordwell/Thompson, 1993: 482).

"The heroes may drift aimlessly" (Bordwell/Thompson, 1993: 482): Ein typisches Charakteristikum des Art Cinema sind die nicht zielorientierten Figuren in den Filmen der Nouvelle Vague. Dies trägt wesentlich zur Auflösung kausaler Plot-Zusammenhänge bei (Bordwell/Thompson, 1993: 482). In Godards A bout de souffle führt z.B. Michels komischer und trivialer Monolog während einer Autofahrt zum brutalen Mord an einem Polizisten. Ebensowenig ist Michels Verhalten erklärbar, sein Autodiebstahl bzw. die Flucht bleibt ungeklärt (Bordwell/Thompson, 1993: 482). Wie der Neorealismus setzte auch die Nouvelle Vague einen spontanen Humor52 ein, so auch im eben genannten Beispiel, um dem Film bzw. seiner eventuell kritischen Aussage die "Feierlichkeit" zu nehmen, die in perfektionistischen Studioproduktionen oft lanciert wurde (Bordwell/Thompson, 1993: 481). Durch den Verzicht auf z.B. Continuity Editing und den statt dessen häufigen Einsatz extremer Jump Cuts brachen die Regisseure der Nouvelle Vague radikal die Kontinuität ihrer Erzählungen auf (Bordwell/Thompson, 1993: 482). Beispielsweise verwendeten sie Zeitverlängerungen, um narrative Wendepunkte zu unterstreichen, wie in Truffauts Jules et Jim (1962). Godard hingegen verwirrte den Zuschauer oft durch nicht-diegetische Inserts, die neben der Unterbrechung der Handlung selbstbewußt narrative Kommentare beinhalteten (Bordwell/Thompson, 1993: 482), wie etwa in Deux ou trois choses que je sais d'elle (1966) oder Week-End (1967).

[...]


1 Vgl. v.a. amerikanische Filmkritiker wie Ben Thompson über Dead Man (1995) (Thompson, 1996: 42), Mark Nash (Nash, 1989: 373) und John Pym über Mystery Train (1989) (Pym, 1989: 64) sowie auch deutsche Kritiker wie Hans-Jörg Marsilius über Dead Man (Marsilius, 1996: 19) sowie Merten Worthman, der Down By Law (1986) die Intention eines metaphorischen "Schwergewichts" unterstellt, um ihn dann mit "nichtssagend" zu bewerten (Worthman, 1989: 12).

2 Schon nach der Premiere zu Dead Man in Cannes 1995 schrieb McCarthy, der Film würde nichts verlieren, kürze man ihn um ca 30-40 Minuten, da er keinen narrativen Wert habe und sich für ihn nur ein sehr kleines Publikum interessiere (McCarthy, 1995: 43).

3 In seiner Arbeit weist Schindler anhand der Filme Jarmuschs aus den 80er Jahren dessen Autorenschaft als Filmemacher mit besonderem Anliegen nach, für eine Zusammenfassung siehe vor allem sein Fazit (Schindler, 2000: 82ff.)

4 Vgl. Wolfgang Mundt (Mundt, 1991: 43) und Merten Worthman (Worthman, 1989: 12f.) zu Down By Law, sowie Andrea Dittgen in Film Dienst zu Ghost Dog: "Allzu oft gleitet die Geschichte ins Groteske ab und verspielt ihre guten gesellschaftlichen Ansätze" (Dittgen, 2000: 25).

5 Vgl. Bennet Schaber in Cohan und Harks The Road Movie Book (Schaber, 1997: 32ff.), Jeremy Clarke in Films And Filmmaking (Clarke, 1989: 30f.), sowie den Film Dienst (Marsilius, 1996: 19). Jarmusch wehrt sich jedoch gegen einen solchen Vergleich, z.B. bei Jeremy Clarke oder bei Ralph Eue, der sich in Bezug auf Stranger Than Paradise (1984) gegen eine derart vergleichende Festlegung wandte (Eue, 1985: 42).

6 Genau genommen ist Jarmuschs Dokumentarfilm Year Of The Horse (1997) über eine Tournee Neil Youngs mit seiner Band Crazy Horse auch ein Film über eine Reise. Er bleibt jedoch in der Analyse dieser Arbeit unbeachtet, da er nicht fiktiv ist und außerdem hauptsächlich Konzertaufnahmen zeigt.

7 Aus Gründen der Chronologie steht dieses Kapitel direkt vor der Analyse der Filme, obwohl einige der von Bordwell und Thompson in diesem Zusammenhang geprägten Begriffe bereits zuvor im Verlauf der Arbeit Anwendung finden. Entsprechend sind sie in Kapitel 5.1. nachzulesen, falls sie nicht an den betreffenden Stellen erläutert werden.

8 Der Begriff bezeichnet eine Gruppe amerikanischer Schriftsteller, für die der Erste Weltkrieg zum Symbol ihrer persönlichen Desillusionierung wurde und die daher dem realistischen Roman eine neue Illusionslosigkeit hinzufügten. Zu den wichtigsten Vertretern der Lost Generation zählen Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald, E. E. Cummings sowie John Dos Passos (Brockhaus, 1986c: 419).

9 Lurie wurde bekannt als Komponist und Bandleader der Avantgarde-Jazzband The Lounge Lizards.

10 Nicholas Ray (1911-1979) hat als Regisseur die Konventionen Hollywoods mit geprägt und ist beispielsweise von den Kritikern der Cahiers du Cinéma wie André Bazin, Jean-Luc Godard und François Truffaut als einer der großen Hollywood-Auteurs gefeiert worden (vgl. u.a. Bordwell/Thompson, 1993: 480).

11 Dieses filmische Porträt über den Regisseur Nicholas Ray begleitet ihn in den letzten Monaten vor seinem Tod. Er starb an einem Krebsleiden, noch bevor der Film fertig geschnitten und uraufgeführt wurde (Grob, 1989: 276).

12 Dies ist dem Abspann des Films zu entnehmen.

13 Alle Produktionsangaben, Produktionskosten sowie Filmpreise der Jarmusch-Filme sind im Anhang aufgeführt und beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf die dort benannten Quellen.

14 Bei dessen Vorführung auf dem Rotterdamer Filmfestival 1980 lernte Jarmusch seinen späteren Kameramann Robby Müller kennen, der durch seine Zusammenarbeit mit Wenders bekannt geworden war (Jarmusch, 1999: www).

15 Der Begriff "independet" bedeutet im eigentlichen Sinn völlige inhaltliche, aber auch finanzielle Unabhängigkeit und Freiheit beim Filmemachen. Das Filmemachen kann in der Regel aufgrund der sehr hohen Kosten des Mediums nicht durch eine Einzelperson finanziell getragen werden. Dabei vergibt jedes Filmbüro seine Mittel selektiv und knüpft daran üblicherweise Bedingungen. Um sich gegenüber den meist dogmatischen Produktionsbedingungen der großen Hollywood-Konzerne abzugrenzen, hat sich der Begriff "Independent-Film" in den USA sinngemäß für "unabhängig von Hollywood" etabliert (Mundt, 1991: 51).

16 Sara Driver, die Jarmusch aus der Filmschule kannte, leitete bereits die Produktion seines Erstlings und drehte selbst Filme, so z.B. You Are Not I (1981), bei dem Jarmusch die Kameraführung übernahm (Mundt, 1991: 48).

17 Die ungarische Schauspielerin war im Ensemble des New Yorker Squad Theaters an der Lower East Side engagiert (Hille, 1985: 1).

18 Im Vergleich zu amerikanischen Mainstream-Produktionen waren diese jedoch immer noch sehr niedrig: Sein bisher teuerster Film, Dead Man, kostete $9.000.000.

19 Zum Teil waren diese Mitte der 80er Jahre selbst noch unbekannte Künstler der New Yorker Underground-Szene, wie z.B. Ellen Barkin oder Steve Buscemi (Andrew, 1999a: 121f.), andere wie z.B. Tom Waits waren hingegen bereits bekannt und verhalfen, so auch Screamin' Jay Hawkins in Mystery Train, den Filmen z.T. zu ihren Erfolgen (Cohen, 1990: www).

20 Die 1979 von Max und Harvey Weinstein gegründete unabhängige Produktionsfirma gehört seit Ende der 80er Jahre zu den wichtigsten weltweiten Independent-Verleihen (Merritt, 2000: 262).

21 Bereits vor Drehbeginn hatte Weinstein aus kommerziellen Gründen gedrängt, Dead Man in Farbe zu drehen, so daß Jarmusch auf seiner Unabhängigkeit in einer solchen Entscheidung bestehen mußte. Er erhielt daher von Miramax weniger finanzielle Unterstützung, als wenn er den Film in Farbe realisiert hätte (Merigeau, 1996: www). Nachdem Jarmusch Dead Man 1995 in Cannes gezeigt hatte, kürzte er allerdings in eigener Regie weitere 14 Minuten heraus. Weinstein hätte jedoch noch mehr Kürzungen bevorzugt, damit der Film, gemäß den Sehgewohnheiten eines amerikanischen Publikums, erfolgversprechender würde. Da Jarmusch sich nicht an die Vorgaben Weinsteins hielt, kam Dead Man in den USA erst in die Kinos, nachdem er weltweit bereits einige Zeit lief, sogar in Australien und der Türkei (Rosenbaum, 2000: 16f.).

22 Lee beschreibt die Initiation seines eigenen Filmschaffens mit den weltweiten Erfolgen von Stranger Than Paradise (Lee und Jarmusch waren Klassenkameraden an der NYU). Der Film gab ihm und anderen Regisseuren den Mut, trotz Nichtanpassung an Hollywood-Konventionen die Hoffnung auf ein breiteres Publikum nicht aufzugeben (Schindler, 2000: 72).

23 In den 70er Jahren konnte Präsident Carter trotz einiger Versuche nur wenig soziale Konflikte lösen (Meyers, 1987d: 210). In den 80er Jahren versuchte dann Präsident Reagan, die amerikanische Gesellschaft durch z.B. Einsparungen im sozialen Bereich und seine sog. "Hochzinspolitik" auf ein "stabilitätsorientiertes Geldmengenwachstum" auszurichten (Brockhaus, 1986d: 356). In der aufkommenden Wohlstandsgesellschaft waren die USA geprägt von "Konformismus und Konservatismus" (Andrew, 1999a: 37).

24 Da die Bezeichnung "Underground" Ende der 70er Jahre u.a. durch Warhols Factory bereits "vermarktet" war, rückte während der 80er Jahre der Begriff "Independent" an dessen Stelle (Merritt, 2000: 303).

25 Der Begriff wurde 1948 von Jack Kerouac eingeführt und umfaßt eine literarische und gesellschaftliche Protestbewegung um ihn herum. Zu ihr gehörten enge Freunde wie Alan Ginsberg und William S. Burroughs, die sich an der New Yorker Columbia University kennenlernten. Sie unterstützten sich gegenseitig bei der Entstehung und Veröffentlichung ihrer sehr individuellen schriftstellerischen Werke, bis sie erst gegen Ende der 50er Jahre von Verlegern ernst genommen wurden (Asher, o. J.: www). Ein wichtiges Merkmal der Beat Generation war die von Jack Kerouac entwickelte sog. "spontane Prosa" (Sampas, o. J.: www), die sich besonders in seinem Hauptwerk On The Road (1957) spiegelte.

26 Fluxus bezeichnet eine neodadaistische, experimentelle Kunstrichtung der 60er Jahre. Wichtige Vertreter waren neben Andy Warhol Künstler wie Nam June Paik, John Cage und Joseph Beuys. Durch die Mischung von Kunstformen wie Musik, Film, Theater und bildende Kunst wandte der Fluxus sich gegen Kunstprofessionalismus und wollte die Grenzen zwischen Publikum und Künstler aufheben (Brockhaus, 1986b: 204).

27 Bereits in der frühen Filmgeschichte dominierten die Major Studios derart, daß viele Regisseure ihre Filme nicht nach eigenen Vorstellungen realisieren konnten und sich anpaßten: Schon früh büßten daher auch Stars ihre Unabhängigkeit ein, wie etwa Buster Keaton, dessen Karriere rückläufig war, nachdem er 1928 zu MGM gegangen war und sein eigenes Studio aufgegeben hatte (Bordwell/Thompson, 1993: 458).

28 Dazu gehören vor allem eine lineare, dramatisch angelegte Kompositionsweise, das Continuity Editing, sowie Crosscutting und Schuß-Gegenschußverfahren (Bordwell/Thompson, 1993: 474).

29 Der Begriff bezeichnet amerikanische Regisseure, die ihre Filme nach ihren Vorstellungen umzusetzen versuchen, obwohl sie z.T. auch von den Major Studios in Hollywood finanziert werden (Andrew, 1999a: 8).

30 Der französische Kritiker André Bazin favorisierte später Orson Welles als wichtigen Einfluß auf den Umgang mit den Grenzen der filmischen Illusion, denn er fügte ihr wesentliche Eigenschaften des Realen hinzu, wie die mittlerweile klassische Kontinuität der Montage, in der sich entweder die Realität in Subjektivität auflöst bzw. logische Blickpunkte auf eine Situation angeboten wurden. Er abstrahierte die Realität und führte ihr durch seine Tiefenschärfe ein wesentliches Merkmal hinzu: Der Zuschauer konnte selbst die Bedeutung auswählen, denn er hatte nun alles im Überblick (Bazin, 1975: 143).

31 Welles hatte in Citizen Kane den Medienbaron Hearst kritisiert und wurde nun "entmündigt", damit er nicht noch weitere gesellschaftliche Kritik ausüben konnte (Andrew, 1999a: 13).

32 Die Kritiker der Nouvelle Vague z.B. favorisierten diesen Film als märchenhaft allegorischen Western mit typischen Film noir-Merkmalen (Grob, 1989: 271).

33 Gustav Freytag (1816-1895) definiert den klassischen Ablauf einer Narration nach Aristoteles' Dreiecksprinzip des Drama: Nach einer Exposition mit Einführung in die Ausgangssituation wird, ausgelöst meist durch ein Ereignis, ein Konflikt bzw. eine Handlung in Gang gesetzt (Krisis), die stetig die Spannung steigernd (diese kann z.B. verzögert werden durch unerwartete Wendepunkte wie etwa Hindernisse oder spontane Reaktionen) auf einen Höhepunkt (Klimax) hinarbeitet. Ist dieser erreicht, folgt die Auflösung der Situation und meist eine Klärung bzw. Befreiung des Protago-nisten: "A 'normal' plot is depicted as an inverted V" (Martin, 1986: 81).

34 Für die Zeitschrift schrieben neben Experimentalfilmern wie Stan Brakhage u.a. auch John Cassavetes und Jean-Luc Godard (Merritt, 2000: 183).

35 Der Film behandelt Alltagsepisoden aus dem Leben dreier New Yorker, z.T. Musiker und thematisiert ein damaliges Tabu in Hollywood: Die Rassenproblematik in zwischenmenschlichen Beziehungen. Seine Produktionskosten betrugen $40.000, gemessen an den Filmbudgets in Hollywood eine sehr geringe Summe. Dennoch fand Shadows ein Publikum und gewann verschiedene Preise (Andrew, 1999a: 15).

36 Der Begriff stammt vom Theater und bezeichnet entsprechend den Aufbau eines Filmbildes, auf den der Regisseur am Set eingreift, d.h. Bühnenbild, Kamerabewegungen, Lichtgestaltung, Kostüme, sowie die Anleitung der Schauspieler (Bordwell/Thompson, 1993: 145).

37 Der Film wurde wie eingangs erwähnt vom Filmmaker Magazine 1996 als "most important independent film of all time" (Merritt, 2000: 203) bezeichnet. Bereits zuvor galt Cassavates' zwar für Columbia produzierter Studiofilm Husband (1970) als "most 'independent' studio film of the American New Wave" (Merritt, 2000: 202).

38 1954 hatten Jim Nicholson und Samuel Z. Arkoff die kleine Produktionsfirma gegründet, die später den Namen AIP trug. Die Firma produzierte hauptsächlich Horror- und Monsterfilme, später auch Nonsens- und Hippie-Filme (Merritt, 2000: 125), ging aber 1979 schließlich bankrott (Merritt, 2000: 262).

39 In den 80er Jahren hatte Altman dann allerdings oft Mühe, Hollywood für die Finanzierung seiner Filme zu gewinnen (Andrew, 1999a: 21).

40 Eines der ersten war z.B. United Artists, das 1980 mit MGM fusionierte. Innerhalb der nächsten drei Jahre folgten weitere Studios diesem Schicksal, so auch Fox und Universal (Merritt, 2000: 262).

41 Auch John Waters bewegte sich abseits des Mainstream, doch er wollte mit Low-Budget-Produktionen wie z.B.

Desperate Living (1977) eher "schocken" als einen speziellen filmischen Stil zu wagen (Andrew, 1999a: 27).

42 Sayles' Return Of The Secaucus Seven (1979) gilt als "Meilenstein des Low-Budget-Films" (Andrew, 1999a: 37) und wird in der erwähnten, vom Filmmaker Magazin herausgegeben, Liste der 50 wichtigsten Independent-Filme an fünfter Stelle aufgeführt (vgl. Merritt, 2000: 258).

43 Der Begriff wurde nachträglich von italienischen Kritikern eingeführt und bezeichnet einen kinematographischen Trend, der in Abgrenzung zur eskapistischen faschistischen Filmindustrie kritisch mit einem neuen Realismus im Film auf deren artifizielle, sentimentale sog. "white telephone dramas" reagierten. Die "Bewegung" wird von Bordwell und Thompson auf die Zeit zwischen 1942 und 1951 eingegrenzt (Bordwell/Thompson, 1993: 477f.).

44 Luchino Visconti veröffentlichte einen Artikel in der Zeitschrift Cinema, in der er dies proklamierte und sich für zukünftig "humanistischere" Filme einsetzte. Diese Deklaration wird heute als ein "Manifest des 'Neorealismus'" gelesen (Meder, 1993: 54).

45 Der italienische Faschismus hatte ein besonderes Interesse für Film, weshalb sie für moderne Studiotechnik mit u.a. Synchronisationsverfahren sorgten. Da sie ein gewisses Maß an künstlerischem Pluralismus zuließen, wurden die neorealistischen Filme zunächst geduldet und nur z.T. zensiert (Bazin, 1975: 131).

46 Dieses wird gemeinhin mit den öffentlichen Angriffen auf de Sicas Umberto D (1951) festgesetzt (Bordwell/Thompson, 1993: 479). Dennoch wurden die von den Neorealisten eingeführten filmischen Ausdrucksmittel seither weiterentwickelt und werden heute von vielen Filmemachern, die sich der Art Cinema Narration bedienen, als flexible Größen variiert, wie z.B. das Zeigen von sowohl Höhepunkten als auch trivialen Momenten im Handlungsverlauf (Bordwell, 1985: 206).

47 Antonioni war selbst zunächst Kritiker, der sich u.a. gegen Synchronisation aufgrund eines Realitätsverlusts aussprach (Meder, 1993: 61).

48 Die Bewegung blühte 1959 auf, als einige dieser Kritiker mit eigenen Filmen beim Festival in Cannes debütierten: Jean-Luc Godards A bout de souffle (1959) gilt heute als ein Inbegriff dieser Bewegung und François Truffaut gewann mit seinem Les quatre cent coups (1959) den ersten Preis des Festivals. Weitere Hauptvertreter waren Claude Chabrol, Eric Rohmer und Jacques Rivette (Lux, 1995: 17). In den folgenden Jahren bis 1966 drehten diese Regisseure eine Vielzahl an Filmen, z.B. Godard und Chabrol jeder elf (Bordwell/Thompson, 1993: 480). Da die Vertreter der Nouvelle Vague ihre Filme mit niedrigen Budgets und schneller als die konventionellen Regisseure realisierten, unterstützte sie die französische Filmindustrie, die seit Verbreitung des Fernsehens 1957 in eine wirtschaftliche Krise geraten war, in der Produktion und Distribution ihrer Filme (Bordwell/Thompson, 1993: 482). Bordwell und Thompson weisen auf die Schwierigkeit hin, das Ende der Bewegung historisch einzugrenzen, da ihre Charakteristika seither von vielen Regisseuren kopiert und adaptiert wurden, setzen es aber bei ca. 1964 an, nachdem die Nouvelle Vague bereits von der Filmindustrie absorbiert worden war (Bordwell/Thompson, 1993: 482). So realisierte z.B. Godard Le mépris (1963) für eine Major Company und Truffaut arbeitete bei Fahrenheit 451 (1966) mit Universal in England zusammen (Bordwell/Thompson, 1993: 482).

49 Die Nouvelle Vague-Kritiker erklärten einige Hollywood-Regisseure, neben Nicholas Ray z.B. auch Alfred Hitchcock und Sam Fuller, zu sog. Hollywood-Auteurs und orientierten sich z.T. an deren Verfahren, da sie ihre Filme in einer selbstbewußten Weise inszenierten (Bordwell/Thompson, 1993: 480), d.h. sie verwendeten bestimmte narrative Verfahren im Bewußtsein über die künstliche Konstruktion ihrer Narration (Bordwell, 1985: 58).

50 Diese Bezeichnung geht zurück auf Truffauts Artikel Une certaine tendance du cinéma français (1957), in dem er die Ablösung von der "tradition de la qualité" der renommierten Studioproduktionen proklamierte (Lux, 1995: 19f.).

51 Dies war wie im Neorealismus bedingt durch die originalen Drehorte, bei denen die Kamera tragbar und beweglich sein mußte (Bordwell/Thompson, 1993: 481).

52 Dieser machte sich häufig durch Referenzen auf andere Filme bemerkbar (Bordwell/Thompson, 1993: 481), so z.B. verweist Godard in Week-End (1967) auf Nicholas Rays Johnny Guitar (1954), der auch von weiteren Filmemachern der Nouvelle Vague häufig zitiert wurde (Bordwell/Thompson, 1993: 481).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2001
ISBN (eBook)
9783832445867
ISBN (Paperback)
9783838645865
DOI
10.3239/9783832445867
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität der Künste Berlin – 2
Erscheinungsdatum
2001 (Oktober)
Note
1,0
Schlagworte
suche flucht identifikation reise heimat veränderung bewegung stillstand
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Titel: Die Filme Jim Jarmuschs
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