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Systemische Ansätze für die Arbeit mit alkoholabhängigen Menschen

©2001 Diplomarbeit 101 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Angesichts der wachsenden Beachtung ökosozialer Perspektiven und systemisch orientierter Handlungsansätze in der Sozialarbeit geht die vorliegende Arbeit der Frage nach, inwiefern sich der systemische Ansatz für die Arbeit mit Alkoholabhängigen als wirksam erweisen kann und welche Handlungskonzepte sich daraus für die Soziale Arbeit ergeben. Nach einem kurzen Überblick über deren theoretischen Grundlagen wird gezeigt, dass im Gegensatz zum linearen Ursache-Wirkungsdenken die systemische Betrachtungsweise die Chance einer mehrperspektivischen Sicht auf die zu lösenden Aufgaben eröffnet. So lassen sich Krankheitssymptome nicht nur als Ausdruck individueller Störungen verstehen, welche mittels einer möglichst kausal orientierten Therapie zu beseitigen sind, sondern z. B. als Ergebnis bestimmter Beziehungs- und Kommunikationsprozesse im sozialen Umfeld, ohne damit die Bedeutung anderer Einflussfaktoren und Abläufe auszuschließen. Anstelle der Suche nach der Kausalkette tritt das Verständnis von einem komplexen Bedingungsgefüge. Als eine Konsequenz dieses Verständnisses wird das Umfeld der Klienten in die Hilfeprozesse einbezogen.
Angesichts der Bedeutung, welche die Familie bei der Entstehung und Aufrechterhaltung stoffgebundener Abhängigkeit hat, sucht die systemische Familientherapie die jeweiligen Regeln, Rollen und Interaktionsmuster der Familie zu hinterfragen und Veränderungen anzuregen. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen dabei nicht die Symptome der Abhängigkeit, sondern die gestörten Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern. Über die für die meisten Klienten nicht mehr existente Familie hinaus wird nach der systemischen Perspektive der gesamte soziale Kontext des Klienten in den Hilfeprozess einbezogen. Systemisch-konstruktivistische Konzepte legen zudem der intervenierenden Sozialarbeiterin ein Rollenverständnis nahe, nach dem die Klienten als autonome Systeme verstanden werden, die in ihrer jeweiligen Lebenswelt zu verstehen und dementsprechend begrenzt beeinflussbar sind. Die dialogisch ausgehandelten Hilfeziele beinhalten dann nicht zwingend die Abstinenz vom Alkohol als prioritäre Aufgabe. Die Arbeit mit Suchtkranken erhält so eine flexiblere Arbeitsgrundlage, die sich u. a. bei der Arbeit mit „chronisch mehrfachgeschädigten Abhängigkeitskranken“ als überlegen erweist. An die Stelle einseitig abstinenzorientierter Therapiekonzepte tritt die Orientierung auf den Alltag der Klienten und deren Probleme, diesen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Theorieelemente
1.1 Unterschiedliche Betrachtungsweisen in der modernen Wissenschaft
1.2 Die mechanistische Denkweise
1.3 Die Entwicklung einer ganzheitlich systemischen Denkweise
1.4 Was ist ein System?
1.4.1 Zum Begriff des Systems
1.4.2 Lebende Systeme
1.4.3 Soziale Systeme
1.5 Übertragung der systemischen Denkweise auf Handlungskonzepte
1.5.1 Kybernetik
1.5.2 Kommunikationstheorie
1.5.3 Das Autopoiese-Konzept
1.5.4 Konstruktivismus
1.6 Der systemische Ansatz in der Sozialarbeit

2. Das Problemfeld Alkoholabhängigkeit
2.1 Alkoholabhängigkeit als persönliches und soziales Problem
2.1.1 Sucht
2.1.2 Alkoholiker und Alkoholmissbrauch
2.1.3 Alkoholabhängigkeit
2.2 Die Ursache der Alkoholabhängigkeit?
2.3 Neue Wege in der Suchtkrankenhilfe

3. Familiendynamik und Alkoholabhängigkeit
3.1 Systemische Familientherapie
3.2 Alkoholabhängigkeit als Familienkrankheit
3.3 Die Suchtspirale in Familien Alkoholabhängiger
3.4 Regeln in Familien Alkoholabhängiger
3.5 Co-Abhängigkeit in Familien Alkoholabhängiger
3.6 Rollen in Familien Alkoholabhängiger
3.6.1 Die Zuhelferin (Enabler)
3.6.2 Der Held
3.6.3 Der Sündenbock
3.6.4 Das stille Kind
3.6.5 Der Clown
3.7 Handlungskonsequenzen für den systemischen Familientherapeuten
3.8 Kritik an der systemischen Familientherapie

4. Systemische Therapie mit Alkoholabhängigen
4.1 Ansätze in der systemischen Therapie
4.2 Konsequenzen für den Therapeuten
4.3 Die lösungsorientierte Kurzzeittherapie mit Alkoholabhängigen
4.4 Abstinenz als Therapieziel?

5. Konzepte der Alltags- und Lebensweltorientierung
5.1 Versorgungsrealität alkoholabhängiger Menschen
5.2 Das Konzept der Alltagsorientierung
5.3 Das Konzept der Lebensweltorientierung
5.4 Anwendung im Rahmen der Arbeit mit chronisch mehrfachgeschädigten Abhängigkeitskranken

Fazit

Literaturverzeichnis

Erklärung

Einleitung

Die Soziale Arbeit hat es zumeist mit komplexen Problemlagen auf verschiedenen Ebenen (sozial, materiell, psychisch, physisch, etc.) ihrer Klienten zu tun, die in einer Wechselwirkung zueinander stehen und sich gegenseitig bedingen. Deswegen sollte sich die Soziale Arbeit nicht ausschließlich auf die Betrachtung einzelner, voneinander isolierter Probleme beschränken, sondern einen Ansatz verfolgen, der sämtliche dieser Faktoren berücksichtigt und zu einer ganzheitlichen Arbeit integriert.

Angesichts der breit angelegten Erkenntnisse und der Fächervielfalt der Sozialen Arbeit und der Möglichkeit aus verschiedenen Perspektiven einen Fall zu betrachten, eignet sie sich besonders, einen systemischen Ansatz zu verfolgen.

Auch in der Arbeit mit alkoholabhängigen Menschen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, den Blick nicht ausschließlich auf den Betroffenen zu richten, sondern auch sein Lebensfeld in die Arbeit mit einzubeziehen. Zum Lebensfeld gehören sowohl die Familie, als auch sonstige Personen aus dem sozialen Nahraum des Klienten (vgl. Pantucek, 1998). Ebenso, im Sinne einer ganzheitlichen Arbeit, wird der Fokus nicht ausschließlich auf das Problem „Alkoholismus“ gerichtet, sondern genauso auf die damit in Verbindung stehenden bzw. daraus resultierenden komplexen Problemlagen auf unterschiedlichen Ebenen.

Dieser Gedanke beruht auf der Tatsache, dass Alkoholabhängigkeit ein komplexes Bedingungsgefüge darstellt, an dem auch die Umwelt des Betroffenen teilhat. Die Suche nach der Ursache, wie sie in der Behandlung mit alkoholabhängigen Menschen lange Zeit praktiziert wurde und die damit einer linear-kausalen Denkweise folgt, hat sich zunehmend als unzureichend erwiesen.

Der Frage, inwiefern sich der systemische Ansatz in der Arbeit mit alkoholabhängigen Menschen als wirksam erweist und welche Handlungskonzepte sich daraus für die Soziale Arbeit ergeben, werde ich in der vorliegenden Arbeit nachgehen.

Der systemische Ansatz ermöglicht verschiedene Arbeitsformen, um eine adäquate Hilfe für alkoholabhängige Menschen zu bieten. Zum einen sind insbesondere die Familien- und die systemische Therapie zu erwähnen, als auch Konzepte der Alltags- und Lebenswelt- orientierung.

In der vorliegenden Arbeit werde ich zunächst den theoretischen Bezugsrahmen erläutern. Dabei mache ich einen kurzen Exkurs in die Ursprünge der in der Physik entstandenen mechanistischen Denkweise, woraus sich insbesondere in der Entwicklung der Atomphysik die systemische Denkweise herausgebildet hat.

Weiter erkläre ich die verschiedenen Theorieelemente Kybernetik, Kommunikationstheorie, Systemtheorie und Konstruktivismus, die die Grundlage des systemischen Ansatzes bilden. Damit leite ich über zu Kapitel 2., in dem ich das Problemfeld der Alkoholabhängigkeit mit seiner sozialen und persönlichen Dimension erläutere. Dabei komme ich zu dem Schluss, dass bei einer systemischen Betrachtung von Alkoholabhängigkeit insbesondere die Familie eine wesentliche Rolle bei der Aufrechterhaltung und Unterstützung der Sucht spielt. Gleichzeitig ist sie aber auch von der Abhängigkeit betroffen und leidet darunter. Diese Entwicklungen in der Familie werde ich in Kapitel 3. darstellen. Mit der Erkenntnis, dass die gesamte Familie von der Abhängigkeit betroffen ist, lege ich einen Schwerpunkt auf die systemische Familientherapie. Diese bezieht in ihre Arbeit die gesamte Familie mit ein und sieht das Symptom der Abhängigkeit als funktional für das Familiensystem, sofern es der Aufrechterhaltung der Familienhomöostase dient.

Da jedoch die Arbeit mit vollständigen Familien nicht unbedingt die Regel ist, stelle ich in Kapitel 4. die systemisch-konstruktivistische Therapie vor. Diese stellt eine Weiterentwicklung der Familientherapie dar, mit dem Ziel, die auf Familien angewandten Prinzipien auch auf andere soziale Systeme zu übertragen. Dabei wird davon ausgegangen, dass jeder seine Wirklichkeit selbst schafft. Aufgrund dessen wird der Fokus darauf gerichtet, welche Bedeutung dem Symptom Alkoholabhängigkeit in dem jeweiligen System beigemessen wird. Der Therapeut kann den Klient nicht dahingehend beeinflussen, dass er ihm sagt, was er zu tun hat, vielmehr werden in einem dialogischen Prozess mögliche Therapieziele gemeinsam ausgehandelt. Der Therapeut hat die Aufgabe, mittels verschiedener Methoden die Wirklichkeit des Betroffenen zu verstören und ihn somit zu neuen Sichtweisen anzuregen. Dieser Blickwinkel ist insbesondere bei der Zielformulierung wesentlich.

So geht die klassische Suchtkrankenhilfe davon aus, Abstinenz sollte das Hauptziel der Therapie sein. Dies wird im Rahmen der systemischen Therapie jedoch nicht angedacht, da der Betroffene es selbst sein sollte, der seine eigenen Ziele formuliert. Davon hängt wesentlich der Erfolg der Behandlung ab. Der Therapeut hat demnach lediglich die Aufgabe, dem Betroffenem bei der Umsetzung dieser Ziele behilflich zu sein und ihm mittels therapeutischer Interventionen wieder zu mehr Lebensqualität zu verhelfen. Dies kann auch bedeuten, den Betroffenen soviel an Unterstützung und Hilfe zu geben, dass sie lernen, mit ihrer Suchtkrankheit zu leben.

Wie besonders vor dem Hintergrund der Versorgungsrealität Alkoholabhängiger, die ich in Kapitel 5. erläutere, deutlich wird, erreicht die Suchtkrankenhilfe nur einen Teil der Alkoholabhängigen. Besonders die als „chronisch mehrfachgeschädigte Abhängigkeitskranke“ bezeichneten Alkoholabhängigen haben meist keine Anbindung an das Suchthilfesystem vor allem aufgrund zu hoher Zugangsschwellen. Für dieses Klientel ist eine Suchttherapie nicht immer ein geeignetes Mittel. Um in diesen Fällen überhaupt eine Anbindung an die Suchtkrankenhilfe zu ermöglichen, greifen weniger therapeutisch konzipierte Hilfen wie die der Alltags- und Lebensweltorientierung.

Auch bei diesen Konzepten stellt die systemische Denkweise eine Voraussetzung dar, um diese Konzepte in die Arbeit umzusetzen.

Zunächst werde ich die Konzepte der Alltags- und Lebenswelt- orientierung darstellen, um sie in der Folge auf die Arbeit mit chronisch mehrfachgeschädigten Abhängigkeitskranken anzuwenden. Dabei orientiere ich mich an einem Bochumer Modellprojekt.

Da es in der Realität weit mehr männliche als weibliche Alkoholabhängige gibt, werde ich hinsichtlich des sprachlichen Gebrauchs aus Gründen der Vereinfachung ausschließlich die männliche Form verwenden.

1. Theorieelemente

1.1 Unterschiedliche Betrachtungsweisen in der modernen Wissenschaft

In der modernen Wissenschaft gibt es zwei konträre Betrachtungs- weisen, die mechanistische und die systemische. Beide haben nach wie vor ihre Daseinsberechtigung und sind auch von Nutzen, um unterschiedliche Problemlagen zu erklären.

Mit der mechanistischen Betrachtungsweise werden einfache Ursache-Wirkungszusammenhänge beschrieben. Sie reduziert komplexe Vorgänge auf eine Folge von beobachtbaren Faktoren, wobei sie als unwesentlich erachtete Aspekte weglässt. Da bestimmte Ursachen vorhersehbare Folgeerscheinungen bewirken, wird sie auch als „linear“ bezeichnet.

Der systemische Ansatz hingegen geht von mehreren sich wechselseitig beeinflussenden Faktoren aus, die in einer Beziehung zueinander stehen. Probleme werden hier aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Deshalb wird dieser Ansatz auch als „ganzheitlich“ bezeichnet.

Derzeit befinden wir uns in einer Übergangsphase, in der langsam in sämtlichen wissenschaftlichen Disziplinen eine Abkehr von der linear-kausalen Betrachtungsweise stattfindet. Dieser Wandel wird in der Literatur immer wieder als „Paradigmenwechsel“ bezeichnet, wobei mit Paradigma ein Grundkonzept des Denkens gemeint ist.

Um diese basalen Denkrichtungen näher zu erläutern, bedarf es eines Exkurses in die Ursprünge der mechanistischen und systemischen Denkweise.

Dabei erhebe ich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit.

1.2 Die mechanistische Denkweise

Im 17. Jahrhundert bereiteten Wissenschaftler wie Galilei und Newton einem mechanistischen Weltbild den Weg durch die folgenden Jahrhunderte (vgl. Capra, 1998).

Galilei war mit seiner Begabung der wissenschaftlichen Beobachtung in der Lage, wissenschaftliche Experimente mit der Anwendung von Mathematik zu verknüpfen, um daraus die Naturgesetze zu formulieren. Wesentlich war dabei für ihn, die Natur mathematisch beschreiben zu können, indem er sich auf das Studium der charakteristischen Eigenschaften materieller Körper beschränkte. Das heißt, auf Formen, Zahlen und Bewegungen. Er reduzierte komplexe Vorgänge auf eine Reihe von beobachtbaren Phänomenen. Als unwesentlich erachtete Aspekte, wie Farben, Klang oder Geschmack wurden weggelassen, da sie für ihn lediglich subjektive Projektionen darstellten. Aus diesen Experimenten wurde versucht, allgemein gültige Schlussfolgerungen zu ziehen. Ziel war dabei eine möglichst objektive Beschreibung der Natur (vgl. Capra, S. 52 ff).

Auch Newton verfolgte eine reduktionistische Denkweise wie Galilei, da auch er sich in seinen Beobachtungen auf wesentliche Faktoren beschränkte.

Grundlage des Newtonschen Weltbildes war die Vorstellung vom absoluten Raum und der Zeit, die immer gleich und unbeweglich bleiben. Die Elemente, das heißt, jegliche Materie, die sich in diesem Raum bewegt, sind Masseteilchen, die aus derselben Substanz bestehen und von einer unterschiedlich starken Kräftewirkung zusammengehalten werden. Die Bewegung der Teile wird durch die Schwerkraft bestimmt.

Newton ging davon aus, dass Gott am Anfang diese Masseteilchen geschaffen hat, die Kräftewirkung zwischen ihnen und die Bewegung. Auf diese Art wurde das Universum in Gang gesetzt, welches seitdem wie eine Maschine läuft. Damit griff Newton die Idee des Philosophen Descartes, die Welt und alle Materie sei eine Maschine, die nach exakten mathematischen Gesetzen arbeitet, auf.

Somit ist die Weltanschauung verbunden mit einem Determinismus, mit der Auffassung einer kausalen und völlig determinierten kosmischen Maschine. „Alles, was geschieht, hat nach dieser Auffassung eine definitive Ursache und eine definitive Wirkung [...].“ (Capra, 1998, S. 66)

Newton reduzierte danach alle physikalischen Erscheinungen auf die Bewegung von materiellen Teilchen im absoluten Raum und formulierte in der Folge allgemeine Gesetze der Bewegung (Mechanik). Auf der Grundlage der Annahme, dass man komplexe Phänomene dann verstehen kann, wenn man sie auf ihre Grundbausteine reduziert und nach einem Mechanismus sucht, der als Ursache definiert wird, wurde es möglich, mit Hilfe der Mechanik relativ genaue Vorhersagungen über Folgeerscheinungen zu machen. Das Denken vollzog sich demnach in Ursache-Wirkungs-Kategorien. Im Mittelpunkt der Wissenschaft stand dabei das Teil, welches auf seine Eigenschaften untersucht wurde, um daraus bestimmte Schlussfolgerungen zu ziehen.

Auf die Maschinenvorstellung bezogen heißt dies, dass man sämtliche Materie in ihre Teile zerlegen kann, und sie dementsprechend auch wieder zu reparieren oder zu verbessern vermag, und sie so wieder zu einem funktionstüchtigen Ganzen zusammensetzen kann. Wie sich aus dieser Vorstellung ergibt, sind Ereignisse grundsätzlich kontrollierbar und vorhersehbar.

Im heutigen Alltag ziehen wir oftmals noch unseren Nutzen aus dem mechanistischen Weltbild. Geht beispielsweise das Auto kaputt, ist es notwendig, dass der Mechaniker die Ursache des Defektes erkennen kann, um daraufhin seine Reparatur auszurichten.

Das Newtonsche Weltbild stieß jedoch bald an seine Grenzen. Die Physik drang in neue Bereiche vor, in denen sich die Ideen vom absoluten Raum, den festen elementaren Masseteilchen, der strikt kausalen Natur physikalischer Vorgänge und der objektiven Beschreibung der Natur als unzureichend erwiesen (vgl. Capra, 1998, S. 75 f).

Welche Entwicklungen sich in der modernen Physik vollzogen haben und wie sich daraus eine ganzheitlich systemische Denkweise entwickelt hat, möchte ich im folgenden Abschnitt darstellen.

1.3 Die Entwicklung einer ganzheitlich systemischen Denkweise

Mit Einsteins Relativitätstheorie wurden Veränderungen von Raum und Zeit eingeführt, die damit die Newtonsche Weltanschauung untergruben (vgl. Capra, 1998, S. 77).

Eine andere wesentliche Entwicklung in der Physik des 20. Jahrhunderts ergab sich aus der Erforschung der Atome. Die Physiker Heisenberg und Einstein u.a. gelangten an ihre Grenzen, als sie versuchten, atomare Vorgänge mit traditionellen Begriffen der Physik zu beschreiben. Daraus entwickelte sich die Quantentheorie, bzw. Quantenmechanik, die tiefgreifende Veränderungen von Raum, Materie, Gegenstand, Zeit, Ursache und Wirkung erforderte.

So wurde die klassische Weltsicht von objektiv Fassbarem umgekehrt. Man ging fortan nicht mehr von festen Teilchen aus, sondern von Wellen, die in einer Beziehung zu ihrer Umwelt stehen. Nach Heisenbergs Unschärferelation konnte es eine objektive Beobachtung von einzelnen Teilchen nicht mehr geben, da jeweils noch weitere Faktoren mit berücksichtigt werden mussten, die wiederum in Wechselwirkung zueinander standen. Da jede Beobachtung mit einem Energieaufwand verbunden ist, steht sie ebenfalls in einem Beziehungszusammenhang mit dem Objekt (vgl. Weiss / Haertel-Weiss, 1995, S. 20).

So setzte sich die Erkenntnis durch, dass alles in Bewegung ist und es keine Festkörper mehr im Sinne der klassischen Physik gibt, sondern vielmehr alles aus Verknüpfungen und Wechselbeziehungen besteht. Demzufolge kann man auch keine isolierten Grundbausteine mehr ausmachen, sondern nunmehr ein „Gewebe von Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen eines einheitlichen Ganzen.“ (Capra, 1998, S. 84) Die wichtigste Erkenntnis war, dass diese Teilchen ihre Bedeutung nur in der Beziehung zueinander haben. „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ (Bertalanffy, 1972, S. 18) Der Beobachter ist nun Teil dieser Einheit, ein Teil vom Ganzen (vgl. v. Schlippe, 1995, S. 18).

Alles hängt in einer dynamischen Einheit zusammen. Wird ein Teil verändert, so betrifft diese Änderung das Ganze.

Nach Capra (1998) wird diese aus der modernen Physik hervorgehende Weltanschauung mit Worten wie organisch, ganzheitlich oder ökologisch bezeichnet. Aber auch als Systembild, im Sinne der allgemeinen Systemtheorie.

„Das Universum wird nicht mehr als Maschine betrachtet, die aus einer Vielzahl von Objekten besteht, sondern muß als ein unteilbares, dynamisches Ganzes beschrieben werden, dessen Teile auf ganz wesentliche Weise in Wechselbeziehung stehen [...].“ (ebd., S. 80)

Diese systemische Sichtweise hat sich auf sämtliche Wissenschafts-

bereiche ausgedehnt, die zunächst ihren Niederschlag in der Auffassung fand, dass auch lebende Organismen nicht mehr als Maschinen zu sehen sind, sondern als systemische Ganzheiten.

Als Hauptbegründer der Systemtheorie gilt der Biologe Bertalanffy, mit seiner aufgestellten „General Systems Theory“. Dabei baut er auf Ergebnissen der Thermodynamik einerseits und der Biologie als Theorie des Organismus andererseits auf (vgl. Hollstein-Brinkmann, 1993, S. 22). Die Theorie ist der Versuch, umfassend die inneren Zusammenhänge der Natur zu beschreiben. Als Metatheorie versucht sie, sämtliche Wissenschaftsbereiche zu integrieren (vgl. v. Schlippe, 1995, S. 21).

Norbert Wiener trug mit der Kybernetik ebenso zur Entwicklung der modernen Systemtheorie bei. Talcott Parsons versuchte in den 30er bis 50er Jahren die von Bertalanffy aufgestellte Theorie auf Gesellschaftssysteme anwendbar zu machen. Diese Arbeit wurde im deutschsprachigen Raum von Niklas Luhmann fortgesetzt (vgl. Pfeifer-Schaupp, 1995, S. 22 f).

Heute kann man nicht von einer einheitlichen Systemtheorie sprechen, da sie sich tatsächlich in sämtliche Wissenschaftsbereiche ausgedehnt und dort wiederum weiterentwickelt hat. Als gemeinsame Grundaspekte gelten, so Hollstein-Brinkmann (2000, S. 49), „die innere Organisation des Systems einerseits und das Verhältnis zu seiner Umwelt andererseits.“

1.4 Was ist ein System?

1.4.1 Zum Begriff des Systems

Der Begriff „System“ kommt aus dem Griechischen (= systema) und bedeutet Zusammenhang oder Zusammengehöriges.

Die wohl am weitesten verbreitete Definition des Systembegriffes ist die von Hall und Fagen: „A system is a set of objects together with relationships between the objects and their attributes.“ (Ein System ist ein Aggregat von Objekten zusammen mit den Beziehungen zwischen den Objekten und zwischen ihren Merkmalen) (Hall / Fagen, 1995, S. 22), „wobei unter den Objekten die Bestandteile des Systems, unter Merkmalen die Eigenschaften der Objekte zu verstehen sind und die Beziehungen den Zusammenhalt des Systems gewährleisten.“ (Watzlawick u.a.,1996, S. 116, Hervorhebungen durch die Autoren) Damit ist der strukturale Systemaspekt angesprochen. Hinzutreten sollten nach Hollstein-Brinkmann (1993, S. 22) ein funktionaler Systemaspekt, der sich auf das Verhalten von Systemen bezieht, wie es u.a in der Kommunikationstheorie von Watzlawick aufgegriffen wird, sowie eine hierarchische Dimension, die davon ausgeht, dass es in einem umfassenden System immer auch Subsysteme gibt.

1.4.2 Lebende Systeme

Bertalanffy, als Begründer der allgemeinen Systemtheorie, entwickelte das Konzept der offenen Systeme. Lebende Systeme werden grundsätzlich als offene Systeme betrachtet, das heißt, dass sie im Austausch mit ihrer Umgebung stehen, im Gegensatz zu bestimmten Maschinen, die keine Informationen mit ihrer Umwelt austauschen.

Weiter geht er davon aus, dass offene Systeme sich in einem Fließgleichgewicht befinden, was bedeutet, dass durch den Austausch mit der Umwelt für kurze Zeit ein Ungleichgewichtszustand entsteht, der jedoch durch das Streben nach Gleichgewicht durch systeminterne Parameter wieder ausgeglichen werden kann. Somit sind sie entfernt von einem statischen Gleichgewicht und können Veränderungen zulassen (vgl. Hollstein-Brinkmann, 1993, S. 37).

„Ein soziales System, das äußere Einflüsse abblockt, ist in seiner Existenz gefährdet, zum einen, weil es innere Spannungen nicht nach außen ableiten kann, zum anderen, weil es gegenüber Veränderungen in der Umwelt unflexibel reagiert.“ (Oswald, 1988, S. 17)

1.4.3 Soziale Systeme

Nach Ritscher (1992, S. 111) lässt sich ein System bestimmen durch:

- seine Grenzen nach außen
- Subsysteme und damit Grenzen im Binnenraum
- Interne Beziehungsmuster
- Kontexte (Systemumwelt)
- Rollen, Aufgaben, Funktionen, Positionen, Regeln und Hierarchie

Damit werden die verschiedenen Dimensionen des Systemkonzepts beschrieben. Gleichzeitig wird es so möglich, sie auch auf soziale Systeme zu übertragen.

Kennzeichnend für ein soziales System sind seine ihm eigenen Interaktionsmuster bzw. Beziehungsregeln, die es von anderen sozialen Systemen unterscheidet und abgrenzt. Die Interaktionsmuster zeigen sich in nonverbalem und verbalem Verhalten. So lassen sich soziale Systeme als Rollengefüge beschreiben, in dem jeder eine bestimmte Rolle übernimmt, wenn er sich dem System anschließt. Allerdings ist der Einzelne nur insoweit Teil des Systems, als er von den Wechselbeziehungen erfasst wird. Die Persönlichkeit geht nicht vollständig in einer Gemeinschaft auf (vgl. Oswald, 1988, S. 9 ff).

1.5 Übertragung der systemischen Denkweise auf Handlungskonzepte

Die systemische Denkweise wurde auf verschiedene Handlungs-

konzepte, wie dem der Kybernetik, der Kommunikationstheorie, des Konstruktivismus und dem Autopoiese-Konzept übertragen. Diese bilden die Grundlage für den systemischen Ansatz.

Entscheidend für den systemischen Ansatz ist die Abkehr von dem linearen Ursache-Wirkungs-Denken hin zu einem zirkulären Systemmodell. Für Andolfi (1982, S. 117) bedeutet dies einen epochalen Wandel: Der Systemtheoretiker betrachtet Menschen und Geschehnisse nicht im Blick auf die ihnen innewohnenden Merkmale und Eigenschaften, sondern vor dem Hintergrund ihrer Interaktionen. Demnach wird das Verhalten von Personen nur im jeweiligen Zusammenspiel der für sie wichtigen Beziehungen verstanden.

1.5.1 Kybernetik

In seiner heutigen Verwendung geht der Begriff der Kybernetik auf Norbert Wiener zurück, der als Begründer einer mathematischen Theorie von belebten und unbelebten Systemen angesehen wird. Wesentliche Elemente sind das Regelkreismodell und die Black-Box-Methode.

Das Regelkreismodell geht davon aus, dass lebende Systeme selbstregulierend sind. Ein Beispiel dafür ist die Konstanthaltung der Körpertemperatur des Menschen. Überhitzung infolge Anstrengung wird mit der Verdunstungskälte des Schweißes ausgeglichen. Kennzeichnend ist eine aktive Eigendynamik zur Aufrechterhaltung des Systems (vgl. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, 1997). Das System kehrt aufgrund von internen Mechanismen in einen Gleichgewichtszustand (Equilibrium) zurück.

Die Black-Box-Methode, für die Heinz von Foerster den Begriff der trivialen und nichttrivialen Maschinen prägte, geht davon aus, dass triviale Maschinen für den Beobachter potentiell durchschaubar sind. Aufgrund eines bestimmten äußeren Einflusses (Input) lässt sich eine konkrete Reaktion (Output) vorhersagen.

Lebende Systeme sind nichttrivial. Sie sind im Sinne eines trivialen Systems nicht steuerbar. Das heißt, dass sie sich in ständigem Wandel befinden, eine Eigendynamik aufweisen, die sich der Analyse und Beeinflussung von außen entzieht (vgl. v. Schlippe / Schweitzer, 1998, S. 55). Was das System also aus einem äußeren Einfluss macht, ist nur an seiner Reaktion sichtbar. Verborgen bleibt dem Beobachter, was im Innern des Systems geschieht.

Da lebende Systeme offen sind, das heißt in einem Austausch mit ihrer Umwelt stehen, werden sie zwar von außen beeinflusst, wobei ein bestimmter Reiz nicht zwangsläufig eine bestimmte Reaktion auslöst. Es entscheidet allein das System, wie mit einem äußeren Einfluss umgegangen wird (vgl. Cypra, 2000, S. 5). Demnach sind diese Systeme selbstorganisiert (s. 1.5.3).

1.5.2 Kommunikationstheorie

Watzlawick u.a. (1996) greifen die obige Definition eines Systems von Hall und Fagen auf und beziehen sie auf menschliche Individuen. Diese stellen die Objekte, das heißt die Bestandteile eines Systems, im Sinne der oben genannten Definition dar. Merkmal der Objekte ist ihr kommunikatives Verhalten. Dies geht einher mit dem Axiom, dass man „nicht nicht kommunizieren“ (ebd., S. 50) kann. Deshalb bezeichnen Watzlawick u.a. auch menschliche Systeme nicht als Zahl von Individuen, sondern als „Mit-anderen-Personen-kommunizierende-Personen“ (ebd., S. 116). Dabei ist der Beziehungsaspekt von besonderer Bedeutung. „Zwischenmenschliche Systeme sind demnach zwei oder mehrere Kommunikanten, die die Natur ihrer Beziehung definieren. “ (ebd., Hervorhebung durch die Autoren)

Dieser Prozess ist zirkulär. Auf jede Definition der Beziehung reagiert der Kommunikationspartner wiederum mit seiner eigenen Definition. Erreicht in einer zwischenmenschlichen Beziehung die Definition der Beziehung keine Stabilität, so kann es zu Pathologien innerhalb des Systems kommen, da offensichtlich keine klaren Muster und Strukturen der Beziehung Halt geben oder aber das System bricht auseinander.

Soziale Systeme sind gekennzeichnet durch bestimmte transaktionelle Muster, durch bestimmte Regeln und Interaktionen. Diese können sich sowohl auf Veränderungen innerhalb des Systems als auch außerhalb einstellen. Demzufolge sind lebende Systeme grundsätzlich offen. Innerhalb eines gewissen Toleranzbereiches ist eine Abweichung von den Regeln und Mustern möglich. Weicht jedoch ein Mitglied davon ab, werden im System Mechanismen aktiviert, die es wieder in das System einbinden. Watzlawick u.a. (1996, S. 134) bezeichnen dies als negative Rückkopplung. Als positive Rückkopplung wird wiederum eine Anpassung an den veränderten Zustand bezeichnet.

Verschließen sich zwischenmenschliche Systeme dieser positiven Rückkopplung, die der Systemveränderung (Morphogenese) dient, werden sie zunehmend rigide und geschlossen. Dies führt wahrscheinlich auch zu Symptombildungen.

1.5.3 Das Autopoiese-Konzept

Im letzten Jahrzehnt haben die Neurobiologen Maturana und Varela mit ihrem Autopoiese-Konzept erheblichen Einfluss auf die moderne Systemtheorie genommen. Autopoiese umfasst die Begriffe selbsterzeugend, selbstorganisierend, selbstreferentiell und selbsterhaltend.

Maturana und Varela stimmen mit früheren Theorien über lebende Systeme überein, insofern sie Umwelt-Offenheit und Austausch als Existenzbedingungen lebender Systeme benennen, wonach lebende Systeme Ressourcen aus ihrer Umwelt benötigen, um zu überleben. So seien lebende Systeme materiell und energetisch offen, in ihrer Tiefenstruktur und ihrer Selbststeuerung (Identität) aber geschlossen und insofern unabhängig, also nicht von der Umwelt steuerbar. Das heißt, dass sie zwar autonom sind, aber nicht autark.

Autopoietische Systeme sind operativ geschlossene Systeme. Sie reproduzieren ihre Elemente, aus denen sie bestehen, mit Hilfe der Elemente, aus denen sie bestehen (vgl. Hollstein-Brinkmann, 1993, S. 45 ff).

Niklas Luhmann versuchte die Gedanken Maturanas und Varelas auf soziale Systeme anzuwenden. Dabei begreift er die allgemeine Systemtheorie als sich in einem Wandel befindend, dahingehend, dass sich eine Abkehr von der Vorstellung, Systeme seien plan- und steuerbar, abzeichnet, die nun zu einer Vorstellung von selbst- referentiellen Systemen tendiert.

Dabei geht er von einer relativen Unabhängigkeit der körperlichen, psychischen und sozialen Systeme aus, die jeweils füreinander als Umwelt betrachtet werden, sich aber dennoch gegenseitig beeinflussen. Für Luhmann können diese Elemente nicht zu einem einheitlichen System Mensch zusammengefasst werden, da es sich nicht um gleichartige Elemente handelt, sondern die jeweiligen Elemente autopoietisch operieren. Verdeutlichen lässt sich diese Überlegung daran, dass beispielsweise das Bewusstsein, also das psychische System, nur wenig von dem Leben des körperlichen Systems merkt. Oft ist es schwer, körperliche Ereignisse oder Emotionen bewusst wahrzunehmen (vgl. v. Schlippe / Schweitzer, 1998, S. 71 f). Die gegenseitige Beeinflussung dieser Systeme wird als Interpenetration bezeichnet.

Luhmann versucht, die Systeme aus sich selbst heraus zu erklären, fern von einer externen Erklärung aus der Umwelt. Dabei hebt er die besondere Bedeutung der Systemgrenzen zu ihrer Umwelt hervor, die bestimmen, was ein System ist. Im Gegensatz zur traditionellen Systemtheorie, die annahm, dass Strukturen und Elemente das Wesen eines Systems ausmachen.

Luhmann ist der Ansicht, dass Strukturen und Elemente eines Systems sich grundsätzlich ändern können, obwohl das System als solches erhalten bleibt (vgl. Pfeifer-Schaupp, 1995, S. 72 ff).

Er sieht in dem Autopoiese-Konzept eine grundsätzliche Abkehr von der ontologischen Denktradition, die von dem Prinzip ausging, dass „wahres“ Denken die Wirklichkeit „richtig“ abbildet, hin zu einer erkenntnistheoretischen Position, zum Konstruktivismus (vgl. ebd., S. 78).

„Denn wenn ein autopoietisches System nicht in einen direkten Kontakt zur Umwelt tritt, sondern Einflüsse aus der Umwelt lediglich als „Störungen“ oder – wie Humberto Maturana sagt – „Perturbationen“ aufnimmt und in die jeweils eigene „Sprache“ übersetzt, dann bildet beispielsweise das Gehirn die Umwelt nicht aufgrund von akustischen und optischen Informationen mehr oder weniger genau ab, sondern es „konstruiert“ daraus und damit seine eigene Wirklichkeit.“ (ebd., S. 85)

1.5.4 Konstruktivismus

Der radikale Konstruktivismus besagt, dass wir mit Hilfe unseres Denkens und unserer Sinne die Wirklichkeit erzeugen und konstruieren. Der Ansatz beschäftigt sich mit der Frage, wie menschliche Erfahrung zustande kommt, wie eigentlich das entsteht, was wir gewohnt sind als Realität zu bezeichnen.

Demnach kann die Art, wie ein soziales System seine Realität konstruiert zwar hinterfragt, vielleicht auch verstört werden, aber sie kann nicht zielgerichtet in eine Richtung verändert werden, die ihrerseits wiederum eine andere Art sozialer Konstruktion ist (vgl. v. Schlippe u.a., 1994).

„Da es eine Gewissheit über die Welt nicht geben kann, sondern wir die Welt in Koexistenz mit anderen hervorbringen [...] müssen wir die Sichtweise des anderen als genauso legitim und gültig erachten wie die unsere.“ (Maturana / Varela, 1987, S. 264)

Daraufhin wurden Systeme auch nicht mehr gesehen als objektiv existierend, sondern ihrerseits selbst als eine Art Konstruktion (vgl. v. Schlippe u.a., 1994).

Jensen (1983, S. 13) verstärkt diese Ansicht dahingehend, dass Systeme nur gedankliche Konstrukte seien, mit denen wir unseren Erfahrungen eine Ordnung verleihen. In der Wirklichkeit kämen sie jedoch nicht vor.

Allerdings führt die Theorie des radikalen Konstruktivismus zu einem wesentlichen Selbstwiderlegungsargument: „Wenn alles nur Konstruktion, Erfindung ist, gibt es keine Grundlage zu behaupten, diese Vorstellung sei – als einzige – keine Erfindung.“ (Staub-Bernasconi, 1995, S. 119) Denn eigentlich müsste auch die Idee des Konstruktivismus eine Erfindung oder Konstruktion sein, die nicht unabhängig von einem Beobachter existiert.

Genauso fraglich ist, wie eine offensichtliche Übereinstimmung der Erkenntnis verschiedener Individuen zu erklären ist, wobei jeder seine Wirklichkeit selbst konstruiert. Eine mögliche Antwort wäre, soziale und psychologische Einflüsse seien an der Erkenntnisbildung beteiligt. Dies schließt Luhmann auch nicht aus, wobei er diese Faktoren nicht ausschließlich als Resultat der Erkenntnis sieht, sondern noch andere Faktoren mit einschließt, wie beispielsweise den „Realitätskontakt“ (Pfeifer-Schaupp, 1995, S. 125).

Außerdem könnte man den Überlegungen des sozialen Konstruktionismus zu folgen, der davon ausgeht, dass menschliche Wirklichkeit grundsätzlich in Prozessen menschlicher Kommuni-

kation konstruiert wird. Wirklichkeit entsteht demnach im Dialog (vgl. v. Schlippe / Schweitzer, 1998, S. 78).

1.6 Der systemische Ansatz in der Sozialarbeit

Der systemische Ansatz ist für die Sozialarbeit eigentlich nichts grundlegend Neues. Vielmehr werde er, so Pfeifer-Schaupp (1998a, S. 76 ff) aus den Naturwissenschaften „re-importiert“ und als „Paradigmenwechsel“ gefeiert. Dabei gehörten die Betonung der Bedeutung des Kontexts, die ganzheitliche Sichtweise sozialer Probleme, die Notwendigkeit vernetzten Denkens, der grundlegende Unterschied zwischen trivialen Maschinen und lebenden Systemen bereits zu den Wurzeln Sozialer Arbeit.

So entstanden die zentralen Ideen schon bei den Pionierinnen der Sozialen Arbeit, Mary Richmond und Alice Salomon, die das „case work“ bereits als eine Arbeit mit Menschen in ihrem sozialen Umfeld verstanden. Diese Ideen gerieten jedoch im Zuge einer zunehmenden Orientierung an (individual-) psychologischen Modellen, hauptsächlich nach psychoanalytischer Methode mehr oder minder in Vergessenheit. Das Casework wurde zunehmend linear, auf den Klient konzentriert und therapeutisiert. Dabei wurde davon ausgegangen, dass innere psychische Probleme des Klienten Grund für Schwierigkeiten mit der äußeren Umwelt seien, die wiederum dazu beitrugen, dass sich die psychischen Probleme manifestierten (vgl. Lüssi, 1995, S. 61 ff). Es wurde also eine Diagnose getroffen, ohne Betrachtung des Kontextes. Ausgangspunkt war schlichtweg, „daß das Problem im Individuum zu suchen ist und nicht zwischen den Individuen.“ (Andolfi, 1982, S. 19, Hervorhebung durch den Autor)

Staub-Bernasconi grenzt sich noch radikaler von einer linearen Betrachtungsweise von Problemen ab: „Menschsein ist immer Mensch-in-der-Gesellschaft-sein, ein kontextloses sich aus sich selber heraus entwickelndes Individuum oder eine kontextlose Organisation ist eine Fiktion.“ (Staub-Bernasconi, 1995, S. 135)

Als „neue“ Methode der Sozialarbeit werden beim systemischen Ansatz nicht isolierte Phänomene, wie Symptome, Defizite, sondern Wechselbeziehungen betrachtet. Dadurch verschieben sich individuelle Eigenschaften zu Elementen eines dynamischen und sich wechselseitig beeinflussenden Geschehens. Damit werden nicht mehr einseitige Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge konstruiert, sondern sich gegenseitig bedingende Verhaltensweisen (Zirkularität). Das Individuum wird immer im Verhältnis zu seinem Kontext gesehen (vgl. Pfeifer-Schaupp, 1995, S. 56).

So passe nach Pfeifer-Schaupp (1998a, S. 78) der systemische Ansatz besonders gut zu einem Selbstverständnis Sozialer Arbeit, da der Sozialarbeiter bereits aufgrund seiner Ausbildung und Breite des Fächerkataloges es gewohnt sei, einen Fall aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Gleichzeitig betont er aber, die systemische Perspektive in der Methodenentwicklung sei nur ein möglicher Zugang.

Inwiefern der systemische Ansatz sich für die Arbeit mit alkoholabhängigen Menschen eignet, werde ich im weiteren Verlauf meiner Arbeit darstellen.

2. Das Problemfeld Alkoholabhängigkeit

2.1 Alkoholabhängigkeit als persönliches und soziales Problem

Mit der Bezeichnung Alkoholabhängigkeit werden verschiedene Begriffe wie Sucht, Alkoholiker oder Alkoholmissbrauch assoziiert. Wie diese Begriffe definiert werden und welche Bedeutung der jeweiligen Definition zukommt, möchte ich im Folgenden kurz darstellen.

Im weiteren Verlauf meiner Arbeit werde ich sie als Synonym verwenden.

2.1.1 Sucht

Der Begriff Sucht kommt von „siech“, was gleichbedeutend mit Krankheit als auch Lasterhaftigkeit ist. Damit wird ein zwanghaft starkes Verlangen nach dem Suchtstoff angesprochen. Im Vordergrund steht die unkontrollierte Abhängigkeit von der Droge, die der Betroffene zur Erlangung eines Lustgefühls konsumiert (vgl. Psoriasisbund, 2001).

Der Begriff kann sich jedoch nicht eines wertenden Charakters freisprechen, denn oftmals wird noch das eigene Verschulden der Sucht aufgrund einer Persönlichkeitsschwäche oder Charaktermangels damit in Verbindung gebracht.

1964 wurde der Begriff „Sucht“ von der WHO (World Health Organization, englisch für: Weltgesundheitsorganisation) durch den der „Abhängigkeit“ ersetzt (vgl. Feuerlein u.a., 1998, S. 6).

2.1.2 Alkoholiker und Alkoholmissbrauch

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Bezeichnung „Alkoholiker“ nicht davon abhängig ist, wieviel eine Person an Alkohol konsumiert, sondern inwiefern das Trinkverhalten den Werten und Normen des sozialen Kontextes entspricht. Verstößt der Betroffene gegen die soziokulturellen Normen, so wird sein Verhalten als deviant bezeichnet, sein Konsum als missbilligend bewertet. Somit ist die Bezeichnung „Alkoholiker“ eine Zuweisung durch die Umwelt, eine Stigmatisierung. Gleichzeitig soll damit der Betroffene auf seine Verletzung der Normen aufmerksam gemacht und zu einer Beachtung derselben veranlasst werden (vgl. Crefeld, 1997).

Feuerlein (1982, S. 1) spricht schon bei geringen Mengen der Alkoholaufnahme von Alkoholmissbrauch. So handele es sich um missbilligten Gebrauch von Alkohol, bestimmt durch soziokulturelle Normen.

Im DSM IV (Diagnostic Statistical Manual for Mental Disorders, englisch für: Diagnostisches und Statistisches Nachschlagewerk der psychischen Störungen) wird unter Alkoholmissbrauch eine Art des Konsums verstanden, die im sozialen Bereich vor allem Beeinträchtigungen oder Schädigungen nach sich zieht (vgl. Kruse u.a. 2000, S. 36).

2.1.3 Alkoholabhängigkeit

Nach den Kriterien der WHO hat jemand dann als alkoholabhängig zu gelten, wenn er über längere Zeit Alkohol konsumiert und nicht ohne weiteres darauf verzichten kann, sowie infolge exzessiven Trinkens körperliche, geistige, soziale und wirtschaftliche Einschränkungen aufzuweisen hat (vgl. Kruse u.a., 2000, S. 35).

Unterschieden wird zwischen physischer und psychischer Abhängigkeit, die das Produkt eines jeweils individuellen und sozialen Bedingungsgefüges darstellen.

Die physische Abhängigkeit ist gekennzeichnet durch die Toleranzentwicklung gegenüber dem Alkohol, sowie durch körperliche Entzugserscheinungen nach Trinkpausen. Die psychische Abhängigkeit durch ein zwingendes Verlangen nach weiterem Alkohol zur Beeinflussung der Stimmung und Zentrierung des Denkens und Strebens nach Alkohol (vgl. ebd.). Entscheidend ist, dass die Betroffenen aufgrund der Einnahme der Droge nicht mehr in der Lage sind, sowohl ihr Verhalten und daraus resultierend ihr Leben selbst zu bestimmen.

Jellinek nennt vier Verlaufsphasen der Alkoholabhängigkeit:

- Voralkoholische Phase
- Prodromalphase
- Kritische Phase
- Chronische Phase

(Feuerlein, 1982, S. 4)

Wesentlich ist, dass diese vier Phasen einen Prozess darstellen, der die Entwicklung zum eigentlichen Suchtkranken, dem Gamma-Trinker (physisch und meist auch psychisch abhängig) aufzeigt.

Die Dauer des Prozesses kann sehr unterschiedlich sein, genauso lässt sich die Frage, warum manche Menschen alle Phasen durchlaufen und manche im Anfangsstadium verhaftet bleiben, nicht beantworten (vgl. Feuerlein, 1982; Crefeld, 1997 a).

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Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2001
ISBN (eBook)
9783832450403
ISBN (Paperback)
9783838650401
DOI
10.3239/9783832450403
Dateigröße
726 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe – Sozialarbeit
Erscheinungsdatum
2002 (Februar)
Note
1,0
Schlagworte
lebensweltorientierung familientherapie alttagsortientierung systemischer ansatz alkoholabhängigkeit
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Titel: Systemische Ansätze für die Arbeit mit alkoholabhängigen Menschen
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