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Interkulturelle Lernprozesse in bikulturellen Partnerschaften am Beispiel muslimisch-christlicher Ehen

©2001 Diplomarbeit 173 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Diese Arbeit befasst sich mit bikulturellen Partnerschaften, ein Thema, das in weiten Teilen dieser Welt aktuell ist, im deutschen Sprachraum allerdings erst seit zwei Jahrzehnten erforscht wird. Als spezielle Thematik wurde die muslimisch-christliche Partnerschaft ausgewählt, wobei als besonders brisant die gegenseitige Wahrnehmung von Islam und Christentum erscheint.
Historische Hintergründe, sowie die aktuelle politische Situation werden beschrieben. Desweiteren wird auf die Problematik der bikulturellen Ehen im allgemeinen, sowie im speziellen eingegangen.
Als wesentliches Element allerdings wird herausgearbeitet, ob auch interkulturelles Lernen möglich ist und welcher Voraussetzungen es bedarf. Vorgestellt werden sechs Biographien, die im Anhang vollständig transkribiert sind. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den Reaktionen von Familie, peers und Behörden auf die Partnerschaften.
Insgesamt bietet die Arbeit die Möglichkeit weiterer Forschung auf diesem Gebiet.

Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
Einleitung5
I.Theoretischer Teil
1.Islam - Christentum7
1.1Kulturell-historische Hintergründe7
1.1.1Die Entstehung des Orientalismus12
1.1.2Deutscher Orientalismus15
1.2Die islamische Welt und der Westen18
1.3Aktuelle Situation im Westen22
1.4Aktuelle Situation im Osten27
1.5Zusammenfassung31
2.Bikulturelle Ehe31
2.1Situation bikultureller Ehe31
21.1Gesetzliche Bestimmungen34
2.2Forschungsstand35
2.2.1Deutschsprachige Literatur36
2.2.2Thode-Arora41
2.3Zusammenfassung46
3.Interkulturelles Lernen46
3.1Einführung46
3.2Phasen Interkulturellen Lernens48
3.2.1Voraussetzungen51
3.3Interkulturelle Kompetenz53
3.3.1Transkulturelle Kompetenz53
3.4Zusammenfassung54
Zielsetzung der empirischen Arbeit55
II.Empirischer Teil
1.Methodendarlegung57
1.1Auswahl der Methode57
1.1.1Grenzen58
1.2Kriterien zur Durchführung59
1.2.1Durchführung61
1.3Auswertungsverfahren61
1.3.1Grenzen62
1.4Interviewauswertung62
2.Ergebnisse63
2.1Diana63
2.1.1Exkurs: Islam und Christentum als Institution67
2.2Joanna67
2.3Regina72
2.4Fereshte75
2.5Bülben79
2.6Sabine82
3.Auswertung & Diskussion85
3.1Situation vor der Partnerwahl85
3.2Reaktionen von Familie und peers87
3.2.1Reaktionen der Familie und der Interviewten auf die islamische Situation88
3.3 Behörden89
3.4Selbstdefinition90
3.5Davis-Merton-Hypothese des kompensatorischen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit interkulturellen Lernprozessen in bikulturellen Partnerschaften, und zwar am Beispiel der muslimisch-christlichen Ehe.

In der gängigen Literatur über bikulturelle Partnerschaften werden fast ausschließlich Konflikte behandelt. Die ForscherInnen kommen meist zu dem Schluss, dass diese Beziehungen sehr problematisch sind. Damit stimmen sie mit der öffentlichen Meinung überein.

Hier soll aufgezeigt werden, dass es zwar Konflikte gibt, aber auch die Chance, interkulturell zu lernen.

Die Partner in einer bikulturellen Beziehung haben keinen gemeinsamen historischen Erfahrungsschatz, auf den sie zurückgreifen können, aber ihre Beziehung hat eine historische Vergangenheit, sowie auch eine aktuelle politische Brisanz.

Das Beispiel in dieser Arbeit greift die muslimisch-christliche Partnerschaft auf, die hier als Ehe in Betracht kommt.

Wenn in der Arbeit der Begriff Ehe gewählt wurde, so soll damit die Dauerhaftigkeit der Verbindung betont werden. Die Überlegung dabei ist, dass Lernen ein Prozess ist, der Zeit in Anspruch nimmt und deswegen nur in langjährigen Beziehungen nachgewiesen werden kann. Eine weitere Überlegung bestand darin, dass bei einer Heirat die Umwelt im besonderen Maße gefordert ist, zu reagieren.

Der Begriff muslimisch beinhaltet folgenden Gedankenschritt: Da in islamischen Ländern Staat und Religion nicht getrennt sind, hat dies Auswirkungen sowohl auf die Gesellschaft, als auch auf das Privatleben. Auch wenn nicht jede/r ein/e gläubige/r Moslem ist, ist er/sie von islamischen Wertvorstellungen geprägt.

Auch die westlichen Länder sind noch stark vom christlichen Vorstellungen geprägt. Als Beispiel sei hier die Zeitrechnung erwähnt, die sich auf Christi Geburt bezieht, sowie gebräuchliche Feste. Besonders das deutsche Recht lehnt sich an die Bibel an, beispielsweise das Adoptionsrecht. Weiterhin basieren viele caritative Einrichtungen auf christlichen Vorstellungen.

Einschränkend muss gesagt werden, dass sich christlich auf den/die deutschen PartnerIn bezieht, während muslimisch sich auf Partner aus islamischen Ländern des asiatischen Raums bezieht, inbegriffen der Türkei.

Das erste Kapitel befasst sich mit den historischen Hintergründen der muslimisch-christlichen Beziehung. Dazu erschien es angebracht, sowohl die christlich-westliche Sicht, als auch die östlich-islamische Sicht zu veranschaulichen.

In einem weiteren Schritt wird das Konzept des Orientalismus, das aus den Auseinandersetzungen der Beziehung entstand, vorgestellt.

Anschließend wird die aktuelle Situation, wie sie sich in der Gesellschaft darstellt, beleuchtet, und zwar wieder aus beiden Perspektiven. Verdeutlicht werden soll damit, wie alte Konzepte aktuelle Brisanz erhalten und welchen Zweck sie erfüllen.

Im nächsten Kapitel wird auf die Situation bikultureller Ehen in der Bundesrepublik eingegangen. Weiterhin soll auch ein Einblick über die Besonderheiten der gesetzlichen Bestimmungen gegeben werden, da die Vermutung war, dass sie einen Einfluss auf die Ehe haben.

Danach werden einige Forschungsarbeiten der deutschsprachigen Literatur zum Thema bikultureller Partnerschaften vorgestellt und kritisch beleuchtet. Dabei wird die Arbeit von Hilke Thode-Arora etwas ausführlicher behandelt, da sie umfassenden Einblick in die Thematik bietet.

Das dritte Kapitel führt in das Interkulturelle Lernen ein, das im Rahmen von Migration und gesellschaftlicher Multikulturalität zu Beginn der achtziger Jahre entstand. Einige Lernkonzepte, die von Forschern entwickelt wurden, sollen ansatzweise vorgestellt werden, aber auch kritisch hinterfragt werden.

Im empirischen Teil der Arbeit werden sechs eigene Interviews vorgestellt und ausgewertet.

Im ersten Kapitel wird die Methode dargelegt, auf der die Interviews basieren. Auch eine kritische Reflexion, sowie deren Grenzen werden aufgezeigt.

Anschließend werden die Interviewergebnisse als Biographien vorgestellt. Auf die Gründe für dieses Vorgehen wird noch eingegangen,

Im Abschlusskapitel wurden die Ergebnisse systematisch nach Kategorien geordnet und ausgewertet. Dabei musste eine Verknüpfung mit dem theoretischen Teil der Arbeit stattfinden.

Das Resümee gibt noch einmal einen Überblick über das Ziel der Arbeit, sowie eine Stellungnahme zu den Ergebnissen.

I Theoretischer Teil

1. Islam - Christentum

Dieses Kapitel führt in die Anfänge der beiden Religionen ein und beleuchtet die Auseinandersetzungen, sowie daraus entstandene Konzepte. Es soll aufgezeigt werden, wie Bilder über Fremde historische Ursprünge haben und welche Bedeutung ihnen auch in der Gegenwart zugemessen wird. Anhand von Beispielen werden Konstruktionen verdeutlicht.

1.1. Kulturell-historische Hintergründe

Das Christentum beginnt mit Jesus, einem Juden aus Nazareth. Er wanderte mit seinen Anhängern, den Jüngern durch seine Heimat und verkündete das nahende Reich Gottes. Jesus ermahnte die Menschen, ihr Denken und Handeln zu ändern, indem sie Nächstenliebe üben sollten und damit der Gerechtigkeit Gottes teilhaftig werden konnten. Nach dem Tod Jesus sammelten sich seine Anhänger und bildeten die urchristliche Gemeinde, die mit dem Judentum noch eng verbunden war. Durch Paulus trennten sich die Christen von der jüdischen Religion und sorgten für die Verbreitung des Christentums. Der Name der Christen kommt von dem Wort christos, der griechischen Übersetzung von Messias (hebr.), was soviel wie der Gesalbte heißt. Die Christen glauben an Jesus Christus als den Sohn Gottes, der von den Toten auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist. Am Jüngsten Tag wird er wiederkommen, um Gericht über die Welt zu halten.

In den römischen Provinzen wurden die Christen zuerst verfolgt und zwar aufgrund ihrer Ablehnung der Kaiserverehrung. Sie wurden als Staatsfeinde betrachtet. Trotz ihrer Verfolgung stieg die Zahl der Christen an und 313 n.Chr. ließ Kaiser Konstantin das Christentum als Religion im Römischen Reich zu. Viele Römer wurden Christen und bald darauf wurde jede nichtchristliche Religionsausübung verboten, Tempel wurden zerstört oder in Kirchen verwandelt. Das Christentum wurde Staatsreligion.

Nach dem Zerfall des Weströmischen Reiches begann eine Welle der Christianisierung in Europa. Bald darauf spaltete sich das Christentum in ein Lateinisches im Westen

und ein Orthodoxes im Osten. Rom war damit die alte Hauptstadt des Westens und Byzanz, bzw. Konstantinopel wurde die neue Hauptstadt des Ostens (Neu-Rom).[1]

Im 5. Jahrhundert wurde die weströmische Hälfte von Germanenstämmen eingenommen. Sie errichteten Herrschaftsgebiete, die sich aber nicht lange hielten. Vom 7. Jahrhundert an reisten christliche Missionare durch das Land und versuchten, die Germanen zu christianisieren. Immer mehr Germanen ließen sich taufen und wurden Christen.

So gehörte Anfang des 7. Jhds. die gesamte Welt des Mittelmeeres zur Christenheit einschließlich des byzantischen Reiches (Syrien, Palästina, Ägypten, Kleinasien, Nordafrika).[2]

In der Zwischenzeit hatten sich die beiden Weltreiche Byzanz und Persien im Kampf gegeneinander erschöpft und große Verluste erlitten. Auf beiden Seiten kämpften Araber als Söldner. Auch sie erlitten große Verluste, erlernten aber auch die Kriegskunst. Untereinander allerdings waren sich die Stämme uneinig. Erst Mohammed, 570 n. Chr. in Mekka geboren, gelang es, die arabischen Stämme zu vereinigen. Er war sowohl Politiker als auch Gesetzgeber und Organisator. In seinem vierzigsten Lebensjahr wurde er zum Propheten berufen und verkündigte die neue Religion, den Islam. Dieser war damit die dritte monotheistische Religion und stand für eine Erweiterung der beiden vorangegangenen, Juden- und Christentum.

Der Name der muslimischen Religion Islam ist eine Ableitung aus der Wurzel s-l-m und bedeutet soviel wie heil sein, unversehrt sein. Die islamische Mensch-Gott-Beziehung ist im Gegensatz zum Christentum nicht bestimmt von Sünde und Erlösung. Nur Gott allein hat die Macht, somit gibt es auch keine Trinität. Wichtigstes Element der Religion ist die Verantwortung für die Schöpfung.

In den ersten Jahren seines Wirkens schlossen sich Mohammed nur wenige Gläubige an. Aus diesem Grund wanderte er 622 von Medina nach Mekka aus. Das Jahr des Auszugs wird als Jahr der Hidschra bezeichnet, mit ihm beginnt auch die Zeitrechnung der Moslems.

Als Mohammed 632 starb, herrschte er über die meisten Teile Arabiens. Sein Nachfolger, Abu Bakr, gab den Anstoß zum ersten Feldzug gegen Byzanz. Nach seinem Tod, zwei Jahre später, wurde Omar sein Nachfolger. Unter seiner Führung fand die erste große Eroberungswelle des Islam statt. Syrien, Ägypten, Mesopotamien, Armenien und Persien wurden dem neuen Glauben unterworfen.

Mit den ersten drei Kalifen, die aus der Familie der Bani Umayya stammten, errichteten die Araber Kalifate und bauten innerhalb von nur drei Generationen ein mächtiges Reich auf. Juden und Christen, die in den eroberten Gebieten lebten, konnten ihre Religion frei ausüben, sie mussten lediglich eine Steuer errichten. In dieser Zeit und in den nachfolgenden Jahrhunderten hatten die muslimischen Herrscher den Christen stets erlaubt, zu ihren heiligen Stätten zu pilgern.

Unter dem Kalifat der Abbasiden wurde Bagdad neue Hauptstadt. In den nächsten Jahrhunderten übernahmen die Araber auch eine führende Rolle in den Wissenschaften der Mathematik, Chemie, Astronomie und Medizin. Sie entwickelten das Wissen der ihnen unterworfenen Kulturen, wie der Syrer, Perser, Griechen und Ägypter weiter und übersetzten es ins Arabische. Riesige Bibliotheken wurden eingerichtet.

Anfang des 8. Jahrhunderts fand die zweite Eroberungswelle statt. Im Jahr 711 überquerte ein moslemisches Heer die Straße von Gibraltar und stieß durch Spanien bis nach Südfrankreich vor. In der Schlacht bei Tours und Poitiers wurden die Araber geschlagen und zum Rückzug gezwungen. In Spanien aber herrschten die Araber mehrere Jahrhunderte lang. So konnte der Islam auch nach Europa eindringen.

Spanien wiederum erreichte durch die arabische Herrschaft Bildung und Wohlstand und doch zogen bei der Reconquista katholische Ritter im Namen des Kreuzes gegen die Mauren: Die Bedrohung durch das Schwert der Christen war gekoppelt mit der Verheißung ihres Kreuzes: "Christus macht frei, sein Tod versöhnt die an ihn glauben nicht nur mit dem Gott, sondern auch untereinander."[3]

Das war Anfang der Auseinandersetzungen zwischen Christentum und Islam.

In der Zwischenzeit versuchten die Päpste in Rom ihre Machtstellung in der Christenheit auszubauen.

Nachdem 1090 die Seldschuken Palästina eroberten, war es den Christen verboten, Pilgerfahrten zu unternehmen. Dies war 1095 der Anlass für Papst Urban, die Christenheit zur Rückgewinnung der Gebiete im Vorderen Orient aufzurufen. Viele erklärten sich bereit, in den Krieg zu ziehen, da sie glaubten, dadurch ihre Sünden büßen zu können. Damit begann der erste Kreuzzug. Die Christen drangen bis Jerusalem vor, das sie 1099 einnahmen. 1187 wurde es durch Sultan Saladin zurückerobert und war damit wieder in muslimischer Hand.[4]

Insgesamt dauerten die Kreuzzüge gegen die Moslems fast zwei Jahrhunderte lang. Die Grausamkeit, mit der die Christen vorgingen, unterstellten sie auch den Moslems und so wurde mit Hilfe der Kirche ein Feindbild errichtet, das die Moslems als tyrannisch und barbarisch darstellte.

So galt der Prophet Mohammed als Anti-Christ und Hochstapler, der Gott nur benutzte, um seine Sinnesfreuden zu befriedigen. Es wurde behauptet, dass die von ihm geschaffene Religion Gewalt und Sexualität verkörpere, so dass ihre Anhänger sich dementsprechend verhalten würden.[5] Damit stellte sich die Kirche und somit das Christentum als moralisch höherwertig dar, indem es die Paradiesvorstellung des Islam, in der es im Himmel zur ewigen sinnlichen Befriedigung kommen soll, in einen Gegensatz zur christlichen Paradieserwartung, bei der es zu einem körperlosen und somit geschlechtslosen Seelenzustand kommt, stellte.

Der Grund dieser Diffamierungen war, dass der Islam, da er selbst eine Religion mit Missionsauftrag war, eine gefährliche Konkurrenz für das Christentum darstellte: "... it [Islam, K.S.] was activated by a dynamic zeal for global propagation which directly confronted the same Christian impulse."[6]

Durch die Niederlage der Kreuzzüge, bei denen die Christen nichts gegen die Muslime ausrichten konnten, entwickelte der christliche Westen einen religiösen Fanatismus, der dem Islam den Kampf ansagte. "Dieser Einstellung gesellte sich noch der missionarische Eifer hinzu, den ganzen Islam zur höheren Ehre der Kirche zu überwinden."[7]

Vom 11. Jahrhundert an versuchten die Christen Gebiete, die unter muslimischer Herrschaft standen zurückzuerobern, unter anderem Spanien und Portugal.

Im 13. Jahrhundert wiederum wurden die Moslems von den Mongolen unter der Führung Dschingis-Khans angegriffen. Nachdem diese Bagdad zur Hauptstadt machten, eroberten sie auch Iran, Georgien, Armenien und drangen über Russland bis Polen und Ungarn vor. In den osteuropäischen Steppen machten sie türkische Stämme zu Untertanen. Nach Zusammenbruch des Mongolenstaates bekehrten sie sich zum Islam und sprachen Türkisch. 1299 entstand der erste osmanische Staat in Anatolien.

Die Osmanen, durchdrungen von der Idee des heiligen Krieges, versuchten Europa zu erobern. 1453 nahmen sie unter der Herrschaft von Sultan Mehmet II Konstantinopel ein.[8]

Durch das weitere Vorrücken der osmanischen Armeen stellte der Islam eine erneute Bedrohung für das Christentum dar und so entstanden in Europa Klage- und Kampflieder. Der Türke wurde zum erklärten Feindbild und Inbegriff des Bösen. "Seine ideologische Überhöhung fand dieser 'Erbfeind' im Bild des Anti-Christ in der katholischen wie in der lutherischen Auffassung."[9]

Nach der Schlacht bei Wien 1683, bei der die Türken besiegt wurden, verwandelte sich die anfängliche Feindseligkeit gegenüber dem Orient in Faszination. Da die Bedrohung durch das Osmanische Reich abgenommen hatte, kam plötzlich alles Türkische in Mode.

In Pariser Cafes trugen die Kellner Pumphosen. Haschischrauchen und Müßiggang waren schick. Die Oper "Die Entführung aus dem Serail" (1782 von Mozart) passte genau in diese Wende.

Der wirtschaftliche Aufschwung Europas begann, nachdem es sich dem Orient wieder öffnete und viele technische Errungenschaften der Orientalen übernahm.

Auch Gedichte und Musik flossen ins europäische Leben ein. Der französische Mediavist Michelet schrieb begeistert:

Von Asien her, das man vernichtet zu haben glaubte, steigt eine Morgenröte auf von unvergleichlichem Glanz, ihre Strahlen reichen so weit, daß sie sogar die dichten Nebel des Westens durchdringen. Unwissenheit hatte diese Welt der Natur und Kunst verdammt, doch nun rückt sie vor ... Mit vollen Händen kommt Asien zu uns. Die sanfte Weichheit der Stoffe, Tücher und Teppiche ... all das läßt uns unserer eigenen Barbarei inne werden ...[10]

Das Interesse an den östlichen Ländern wuchs und der Begriff des "Orient" wurde geprägt.

Innerhalb der nächsten Jahrhunderte wurde damit bestimmte Vorstellungen verbunden, die dem Europäer halfen, seine Sehnsüchte auszuleben und auf der anderen Seite auch, sich abzugrenzen und Höherwertigkeitsvorstellungen gegenüber den Orientalen zu entwickeln.

1.1.1. Die Entstehung des Orientalismus

Im 18. Jahrhundert begann in Europa der Aufstieg der Orientalistik. Zuerst war damit das Studium des Nahen und Fernen Ostens gemeint. 1795 wurde beispielsweise in Paris die "Ecole speciale des langues orientales vivantes" eingerichtet, an der Arabisch, Persisch und Türkisch unterrichtet wurde. Sie sollte natürlich den Erfordernissen von Wirtschaft und Diplomatie dienen.

Die Engländer errichteten 1784 in Calcutta die "Asiatic Society of Bengal", die unter anderem auch das Studium der islamischen Kultur in Indien förderte.[11]

Der Begriff des "Orients" entstand, der sich aber weder geographisch, noch kulturell-ethnisch oder religiös einordnen ließ. Er war eine Erfindung des Westens und "fast beliebig auslegbar".[12]

Die Märchensammlung "1001 Nacht" fand reißenden Absatz. Ursprünglich wurden diese Märchen von Mund zu Mund weitergegeben und stammten aus Persien.

Der Erste, der diese Märchen für ein europäisches Publikum aufbereitete, war Francois Petis de la Croix. Während einer Orientreise kam er über Bagdad nach Isfahan, um Persisch zu studieren. Von seinem Freund, dem Derwisch Mokles erhielt er das persische Originalmanuskript, das allerdings in türkischer Handschrift vorlag.[13] Weitere Dichter wie Alain-Rene Lesage und Antoine Galland übernahmen die Märchen. "Diese 'wunderschönen Geschichten' kamen der in der vornehmen Gesellschaft Europas herrschenden Vorliebe für turqueries sehr entgegen. Der Orient, wie er sich in jener importierten Literatur darstellte, war eine dekorative Kulisse, ein unterhaltsamer Gegensatz zum Rationalismus dieser Epoche."[14]

Europa zeigte immer mehr ein schonungsloses Interesse am Orient und "mit dem Ende des 18. Jahrhunderts kündigte sich der Beginn der kolonialistischen Präsenz in diesen Regionen an."[15]

Nach dem Krieg zwischen England und Frankreich in Indien und nachdem England Oberhand über Indien gewann, versuchte Napoleon, Ägypten zu erobern, zum einen,

um sich an England zu rächen, zum anderen, um Ruhm zu erwerben und weil er seit seiner Kindheit vom Orient fasziniert war.[16] Nach seiner Ankunft in Alexandria versuchte er taktisch die Menschen dort zu überzeugen, dass er für den Islam kämpfte und so sagte er in seiner Rede: "Nous sommes les vraies musulmans."[17]

Napoleon ließ ganze Teams von Historikern, Biologen, Chemikern und Archäologen in Ägypten experimentieren. Dadurch entstanden 23 Bände der "Description de l'Egypte", die zwischen 1809 und 1828 veröffentlicht wurden.[18] Viele spätere Publikationen stammten aus diesen Bänden. So fuhren Schriftsteller nach Kairo, um in den Bibliotheken anhand jener Bände Material zu sammeln und publizierten es später, allerdings ohne sich jemals die Stadt oder das Land anzusehen. Berühmte Beispiele sind die Schriftsteller Edward Lane oder Gerard de Nerval mit seiner "Voyage en Orient". In einem Brief an seinen Vater schrieb er: "... I have adequately informed myself from the books and memoires."[19]

Auch Isabelle Eberhard, 1877 in Genf geboren, war zeitlebens fasziniert vom Orient. Sie lernte Arabisch und trat mit zwanzig Jahren zum Islam über.[20] Viele Jahre hielt sie sich in Marokko auf.. Im Herbst 1903 wurde sie vom Militärkommandanten Hubert Lyautey, der die Annexion Marokkos vorhatte, aufgrund ihrer Sprach- und Gebietskenntnis für seinen Plan als Kundschafterin angestellt. Isabelle blieb trotz ihres Übertrittes zum Islam Gefangene der französischen Gesellschaft, die im Orient nur die Exotik suchte und so schreibt sie:

In Algier erlebte ich verschiedene Augenblicke eines intensiven, ganz und gar orientalischen Lebensgefühls.[21]

Ich,... habe in einer Stunde der Eingebung den gewagten, für mich realisierbaren Plan gefaßt, mich in der Wüste niederzulassen und dort zugleich den Frieden und das Abenteuer zu suchen...“[22]

Auch von den Stereotypen, die der Westen über den Orient gebildet hatte, konnte sie sich nicht befreien. In ihrem Tagebucheintrag sinniert sie:

... wie konnte das arabische Leben und vor allem die arabische Seele in kaum mehr als zehn Jahren derart auf diesen Mann, diesen Franzosen aus Poitiers, abfärben? Ja, Toulat ist arabisch. Er ist düster, er liebt das wilde, harte Wüstenleben; ... sind nicht seine Gewalt, seine Härte selbst arabisch? Auch seine Liebe hat etwas Wildes, etwas Unfranzösisches etwas Unmodernes ...[23]

Zeitlebens quälten Eberhard Selbstmordgedanken, denen sie durch ein Leben in der Wüste zu entrinnen suchte. Die Wüste wurde ihre zweite Heimat und übte einen exotischen Reiz auf sie aus, genauso wie ein algerischer Leutnant, den sie heiratete und der ihr einziger Trost wurde:

„Trotz all meines Leids der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft danke ich Gott und dem Schicksal, mich in das unvergeßliche Land der Sandmeere geführt zu haben, um mich diesem Wesen hinzugeben - meinem einzigen Trost, meiner einzigen Freude auf dieser Welt - wo ich die Ärmste der Armen bin...“[24]

Der Orient übte eine unglaubliche Faszination auf die Europäer aus, gleichzeitig aber diente er ihnen auch als Erfahrungsfeld, in dem sie sich messen und als Held hervorgehen konnten. Dies war allerdings eher den Männern vorbehalten.

1882 besetzte England Ägypten. Bald darauf entstand eine Flut an Reiseliteratur. Viele Reisende, unterstützt durch staatliche Behörden, machten sich im Namen des "Empires" auf, um Reiseberichte über den Orient zu verfassen. Einer dieser bekannten Reisenden war T. E. Lawrence, der 1915 den Aufstand der Araber gegen die Türken organisierte. Seine Schilderungen über den Orient dienten der Glorifizierung seiner eigenen Person, die sich bei jeder Gelegenheit von den Einheimischen abhob und wagemutig schreckliche Prüfungen zu bestehen hatte. "Der Held namens 'Lawrence von Arabien' knüpfte an einen im Westen weit verbreiteten Kult der Heldenverehrung an. Der einmal etablierte Mythos war nur schwer zu zerstören, da er den idealtypischen Eigenschaften des im Ausland lebenden Engländers entsprach."[25]

Bekannte Schriftsteller jener Zeit waren E.W. Lane und Richard Burton. Sie benutzten den Orient als Erfahrungsfeld für die damals tabuisierte Sexualität. Die Fantasien derEuropäer wurden in den Orient verlagert, der alle Bedürfnisse erfüllen sollte, und

sie von den sexuellen Repressionen des "viktorianischen Zeitalters "[26] entlasten sollte." Er brachte die erotischen Sehnsüchte einer ganzen Epoche zum Ausdruck, die sonst unterdrückt geblieben wären."[27]

Ganze Bücher wurden gefüllt mit Berichten aus dem Haremsleben oder dem Türkischen Bad. Doch die Verfasser hatten meist gar keinen Zutritt zu diesen Orten.

Auch viele Maler fühlten sich angeregt, wie zum Beispiel Delacroix, Fromentin, Matisse, Renoir. Das Bild von Delacroix "Le massacre de Scio", in dem der Orient der Romantiker enthalten war, wird von Maxime Rodinson folgendermaßen beschrieben:

"... ein Übermaß an Farbe, Pracht und barbarischer Wildheit, Harems und Serails, abgehackte Köpfe, Frauen, die in Säcken in den Bosporus geworfen werden, Feluken und Brigantinen, die die Flagge des Halbmondes führen, Rundungen azurner Kuppeln und weiß aufragende Minarette, Odalisken, Eunuchen und Wesire, kühle Quellen und Palmen, Giaurs[28] mit aufgeschlitzten Kehlen und gefangene Frauen, die den stürmischen Leidenschaften des Siegers preisgegeben sind."[29]

Auffällig ist die Ambivalenz gegenüber dem Orient, der einerseits ein Ort "lüsterner Sinnlichkeit" und andererseits "seiner Natur nach durch Gewalt" gekennzeichnet war.[30] Der Orient wurde zudem immer mehr in der Malerei, Literatur, Musik und Kunst verklärt, je mehr er Europa zum Opfer wurde.

Das 19. Jahrhundert war der Höhepunkt der kolonialen Dominanz Europas. Zwischen 1814 und 1914 hatte Europa 85 % der Welt kolonialisiert.

1.1.2. Deutscher Orientalismus

Während in England und Frankreich die Orientalisten meist im Auftrag des Staates forschten und auch Reisen in den Orient unternahmen, blieb der deutsche Orientalismus auf die Literatur beschränkt, i.e. seine Erforschung fand fast ausschließlich durch Bibliotheksbesuche statt.

Edward Said nennt ihn einen "klassischen Orient".[31] Die Gemeinsamkeit des deutschen Orientalismus mit dem französisch-britischen "... was a kind of intellectual authority over the Orient within Western culture."[32]

Die Schriftsteller waren niemals dort, sondern erschufen sich einen Orient, der bestimmte Erwartungen erfüllen sollte und der Tendenz der Deutschen zur Nostalgie sehr entgegenkam.

Beispiele dafür sind Goethes "West-Östlicher Diwan", eine Anlehnung an den persischen Dichter Hafiz oder Friedrich Rückert, der orientalische Sprachen studierte. Er brachte als erster die persischen Dichter den Deutschen nahe. Rückert übersetzte unter anderem Rumi, Hafiz und Saadi. Der Orientalist J. von Hammer-Purgstall, ausgebildet an der orientalischen Akademie in Wien, überarbeitete zum Beispiel die "Märchen aus 1001 Nacht" und "Rosenöl". Weitere Ausgaben von ihm sind die "Geschichte der schönen Redekünste Persiens" und "Erstes und zweytes Fläschchen. Fläschchen oder Sagen und Kunden des Morgenlandes aus arabischen, persischen und türkischen Quellen gesammelt" (1813 bei Cotta, Stuttgart).[33]

Es gab aber auch immer wieder Beziehungen zwischen Deutschland und der islamischen Welt.

1731 rekrutierte der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I zwanzig türkische Soldaten für seine Garde. Auch sein Nachfolger Friedrich der Große umgab sich mit muslimischen Soldaten. Damit es diesen an nichts fehlte, wurde die erste Moschee in Deutschland gebaut (Potsdam).

Kaiser Wilhelm II ernannte sich sogar zum Beschützer der islamischen Welt und unternahm Reisen nach Istanbul, Tanger, Damaskus und Jerusalem.[34]

Nachdem sich in Deutschland die Industrialisierung anbahnte, beinhaltete dies nicht nur einen wirtschaftlichen Aufschwung, sondern ging auch einher mit dem Verlust von emotionalen Werten.

Ishrak Kamaluldin untersuchte Texte von modernen deutschsprachigen AutorInnen und stellte dabei einen "Sehnsuchtsimpuls"[35] fest. Sowohl bei Hildesheimer, Frischmuth,

Kästner, als auch bei Bachmann, Born und Dürrenmatt erleben die Figuren ihre eigene Kultur als defizitär, sie vermissen "starke emotionale Impulse, intensive Beziehungen zu anderen Menschen, religiöse Erfahrung und Erfahrung von Sinn in anderen Formen."[36]

Kamaluldin stellte weiter fest, dass die Religion des Islam in der von ihr untersuchten Nachkriegsliteratur noch nicht als bedrohlich empfunden wird. So sind es in Borns Libanon-Bild eher die "christlichen Milizen, bei denen sich eine verhängnisvolle Verbindung von Religion und politischer Gewalt zeigt, als die palästinensischen Mohammedaner [sic!] ..."[37] Auch Canetti sieht den Islam nicht als Bedrohung, sondern bemerkt, dass er eine "lebendige Religion" ist.[38]

Allerdings entspricht das Charakterbild der Orientalen noch immer dem in der französisch-britischen Kolonialliteratur entwickelten Stereotyp, beispielsweise an der Figur des despotischen Herrschers bei Born. "Hinterhältigkeit, Verlogenheit und Unzuverlässigkeit bilden das Gegenbild zu den europäischen Tugenden der Ehrlichkeit und Verlässlichkeit. Feigheit, emotionale Wankelmütigkeit und eine unkontrollierbare sexuelle Gier stehen in Opposition zu den westlichen Idealen Mut, emotionale Stabilität und rationale Kontrolle."[39]

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Orient eine Erschaffung des Westens ist und als Gegensatz zum Okzident, geholfen hat, Europa zu definieren. Edward Said definiert dieses folgendermaßen:

... Orient and Occident are man-made. Therefore as much as the West itself, the Orient is an idea that has a history and a tradition of thought, imagery, and vocabulary that have given it reality and presence in and for the West.[40]

... Orientalism aided and was aided by general cultural pressures that tended to make more rigid the sense of difference between the European and Asiatic parts of the of the world.[41]

Auf der anderen Seite war es aber auch möglich, nicht erfüllte Sehnsüchte in den Orient zu verlagern, um so Träume aufrecht erhalten zu können.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich das Bild über die Orientalen. Sie erschienen immer mehr als faul, unzivilisiert, genusssüchtig etc. Dies stand im Gegensatz zu Europa, das sich selbst als arbeitsam und keusch definierte. Überdies wurden in Europa die Gesellschaften säkulär, i.e. Staat und Religion wurden getrennt. So schaffte man neue Gegensätze, um den Westen zu definieren. Rationalität und Aufklärung gegen Irrationalität und Religiosität des Orients; Freiheit und Demokratie gegen Despotie und Willkür; Modernität gegen Geschichtslosigkeit. "Aus der auf Unwissenheit begründeten Furcht war allgemeine Verachtung geworden."[42]

1.2. Die islamische Welt und der Westen aus historischer Perspektive

Die islamische Welt blieb das ganze Mittelalter hindurch eher desinteressiert an Europa und den Christen, da sie diese für rückständig und ungläubig hielten.

Aus diesem Grunde gab es auch nicht sehr viel Literatur über Europa. Lediglich ein paar Reisende schilderten ihre Eindrücke. Unter ihnen war auch Ibrahim ibn Ya’qub al-Isra’ili al-Turtushi, ein moslemischer Arzt jüdischer Herkunft, der aufgrund eines Auftrags 965 Europa bereiste. Dabei kam er durch Frankreich, Niederlande, Norddeutschland und reiste über Italien zurück. In seinen Abhandlungen über die Europäer fiel ihm besonders die mangelnde Hygiene auf:

"... du siehst nichts schmutzigeres als sie... sie reinigen und waschen sich nur ein- oder zweimal im Jahr... ihre Kleider aber waschen sie nicht, seitdem sie sie angezogen haben, bis sie in Lumpen zerfallen.“[43]

Der qadi von Toledo, Sa'id ibn Ahmad, wiederum verfasste 1068 ein Buch, in dem er die Völker in verschiedene Kategorien einteilte. Er unterschied zwischen denen, die zu Bildung und Wissenschaft beigetragen hatten, nämlich Inder, Perser, Chaldäer, Griechen, Römer, Ägypter, Araber und Juden und denen, die er Barbaren nannte, die Europäer. Diese beschrieb er folgendermaßen:

"Ihr Charakter ist ... kühl, ihr Humor primitiv, ihre Bäuche sind fett, ihre Farbe ist bleich ihr Haar lang und strähnig. So mangelt es ihnen an Verstandesschärfe und Klarheit der Intelligenz, und sie werden von Unwissenheit und Apathie, fehlender Urteilskraft und Dummheit überwältigt."[44]

Für die Muslime war klar, dass das Zentrum der Welt die Länder des Islam waren. Viele Kalifen förderten Gelehrte und Künstler. Sie unterstützten die Wissenschaften und förderten damit deren Entfaltung. Oft beschäftigten sie sich auch selbst damit, wie zum Beispiel der Sohn von Harun al Raschid, der Astronom war.

Vom 3. Jahrhundert nach Mohammed an hatten muslimische Gelehrte angefangen, die griechische Philosophie aufzunehmen und weiterzuentwickeln. Die ersten großen medizinischen Lehrbücher entstanden um 1070 (n.Chr.)

Der persische Arzt und Philosoph Ibn Sina (980-1037), auch bekannt als Avicenna, war zur Blütezeit der arabischen Medizin einer der herausragendsten Ärzte. Seine beiden wichtigsten Werke sind das "Buch des Heilens" (kitab ash-shifa), in dem Themen der Psychologie, Astronomie und Musik behandelt werden, sowie der große "Medizinische Kanon". Ibn Sina verband außerdem aristotelische und neuplatonische Vorstellungen. Er setzte sich mit der Religion auseinander, was ihn zu der Einsicht brachte, dass der Qur'an nur eine der Zeit angemessene Form der Wahrheit sei und immer wieder neu interpretiert werden müsse.[45]

Von Ibn Ruschd (1126-1189), lat. Averroes, der auch Mediziner und Philosoph war, stammen die berühmten Kommentare zu Aristoteles.

Beide übten mehrere Jahrhunderte lang einen bedeutenden Einfluss auf das medizinische Denken des Abendlandes aus. So gingen sie dem Westen als Vorbild in der Medizin voran. Unheilbar Kranke gaben sie zum Beispiel niemals auf, sondern bewiesen Humanität. Ganz im Gegensatz dazu wurden im christlichen Mittelalter den Kranken Teufelsbesessenheit nachgesagt, was oft zu Folterungen den Anlass gab.[46]

Die Christen wurden von den Moslems noch bis ins neunzehnte Jahrhundert als zivilisatorisch rückständig bezeichnet. Der wesentliche Unterscheidungsfaktor hing von religiösen Kriterien ab. So bestimmten die zeitliche Reihenfolge, in der die Religionen entstanden und die Propheten wirkten, die Ansicht der Moslems gegenüber den Christen. Der Islam ging davon aus, dass die Wahrheit allen Völkern zu einer bestimmten Zeit ihrer Entwicklung offenbart werde und er somit das letzte Glied in der Kette der großen Religionen sei und demzufolge auch Mohammed der letzte Prophet.

So wurden die Christen, die diese Auffassung nicht teilten, als Ungläubige bezeichnet. Sie gehörten zum "Haus des Krieges" (Dar al-Harb), während die zivilisierte Welt, die Gemeinschaft der Gläubigen zum "Haus des Islam" (Dar al-Islam) gehörten und eine Einheit bildeten.[47]

Demzufolge betrachteten sich moslemische Besucher, die nach Europa reisten in erster Linie als Moslems, unabhängig von ihrer ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit.

Man sah auch keine Notwendigkeit darin, europäische Sprachen zu lernen oder sich mit der Kultur zu beschäftigen, denn "verglichen mit der reichen Vielfalt von Völkern und Kulturen in der islamischen Welt, muss das fränkischen Europa im Mittelalter sehr monoton gewirkt haben."[48]

Trotzdem gab es auch Schriftsteller oder Reisende, die sich mit Europa beschäftigten. So schrieb zum Beispiel der türkische Dichter Fazil Bey, der arabische Vorfahren hatte und auch unter dem Namen Fazil-i-Enderuni bekannt war, Abhandlungen über die Frauen. Darin tadelte er an den Französinnen den ekelhaften Brauch, kleine Hunde zu liebkosen. Die Engländerinnen beschrieb er als rothaarig und keusch und über die Niederländerinnen bekannte er, dass sie bei ihm keinerlei sexuellen Gelüste weckten.[49]

Ein anderer osmanischer Schriftsteller, Evliya Celebi, der viel reiste und auch die europäischen Sprachen studierte, beschrieb seine Eindrücke als Teilnehmer einer Türkischen Mission in Wien 1665 folgendermaßen:

[...]


[1] Vgl. Antes, Peter: Mach’s wie Gott, werde Mensch. Düsseldorf: Patmos-Verlag, 1999, S. 103 ff.

[2] Vgl. Lewis, Bernard: Die Welt der Ungläubigen. Wie der Islam Europa entdeckte. Frankfurt / Main: Propyläen, 1983, S. 15

[3] Kappeler, Manfred: Rassismus. Über die Genese einer europäischen Bewußtseinsform. Frankfurt / Main: IKO-Verlag, 1994, S. 11

[4] Vgl. Möhring, Hannes: "Wie wurden die Kreuzzüge finanziert?" In: Der Islam. Ein historisches Lesebuch / hrsg. von Maria Haarmann. Lim. Sonderauflage. München: Beck, 1995, S. 227

[5] Vgl. Epstein, Norbert: Das Entsetzen als Potential immanenter Kritik der Dominanzkultur. Diss. 1998, S. 89

[6] Sha'ban, Fuad: Islam and Arabs in Early American Thought. The roots of Orientalism in America. Durham: The Acorn Press, 1991, S. ii

[7] Shah, Idries: Die Sufis. Botschaft der Derwische, Weisheit der Magier. 4. Auflage. Köln: Diederichs, 1984, S. 210

[8] Vgl. Lewis, Die Welt der Ungläubigen, a.a.O., S. 28

[9] Schulze, Winfried: "Türkenfurcht im 16. Jahrhundert". In: Der Islam, a.a.O., S. 257

[10] Michelet, Jules: "La Sorciere". Brüssel/Leipzig, 1863, S. 107-109. Zit. in: Shah, Idries, Die Sufis, a.a.O., S. 257

[11] Vgl. Endreß, Gerhard: "Der Aufstieg der Orientalistik". In: Der Islam ..., a.a.O., S. 262

[12] Treppte, Carmen: Das Fremde als Spiegel. Kolportagen zur interkulturellen Entwicklung. Weinheim, Basel: Beltz-Verlag, 1992, S. 90

[13] Vgl. Märchen aus Persien, hrsg. von Inge Hoepfner. Frankfurt/Main: Fischer, 1982, S. 173

[14] Kabbani, Rana: Mythos Morgenland. Wie Vorurteile und Klischees unser Bild vom Orient bis heute prägen. München: Knaur, 1993, S. 51

[15] Ebenda, S. 52

[16] Vgl. Said, Edward W.: Orientalism. London: Routledge, 1978, S. 80

[17] Bonaparte, Napoleon, Proklamation vom 02.07.1798. Zit. in: Said, a.a.O., S. 82

[18] Vgl. Said, a.a.O., S. 84

[19] Mitchell, Timothy: "Orientalism and the Exhibitionary Order". In: Dirks, Nicholas B. (Editor). Colonialism and Culture. The University of Michigan Press, 1992, S. 312

[20] Vgl. Eberhardt, Isabelle: Sandmeere 1. Tagewerke. In heißen Schatten des Islams. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1983, S. 10

[21] Ebenda, S. 79

[22] Ebenda, S. 94

[23] Eberhardt, Isabelle: a.a.O., S. 10

[24] Ebenda, S. 128f.

[25] Kabbani, Rana, a.a.O., 1993, S. 182

[26] Benannt nach der Königin v. Großbritannien, 1819-1901

[27] Kabbani, Rana, a.a.O., 1993, S. 63

[28] Giaurs: Ursprünglich aus dem Türkischen kafir, das zu gavur wurde, Bezeichnung der Christen (Ketzer)

[29] Rodinson, Maxime: "Der Orientale als exotisches Wesen". In: Der Islam. Ein historisches Lesebuch, a.a.O., S. 271

[30] Kabbani, Rana, a.a.O., S. 20

[31] Said, Edward W.: Orientalism. London: Routledge, 1978, S. 19

[32] Ebenda, S. 19

[33] Shah, Idries, a.a.O., S. 292

[34] Vgl. Hofmann, Murad Wilfried: Reise nach Mekka. Ein Deutscher lebt den Islam. München: Diederichs, 1996, S. 159f.

[35] Kamaluldin, Ishrak: Das Bild des Nahen Ostens in der deutschen Prosa seit 1945. Untersuchungen zum Charakter und der Funktion von Orientalismuskonzepten bei modernen deutschsprachigen Autorinnen und Autoren. Frankfurt / Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Peter Lang, 1997, Diss., S. 147

[36] Ebenda, S. 147

[37] Ebenda, S. 157

[38] Ebenda, S. 157

[39] Ebenda, S. 158

[40] Said, Edward, a.a.O., S. 5

[41] Ebenda, S. 204

[42] Kabbani, Rana, a.a.O., 1993, S. 219

[43] Lewis, Bernard: Die Welt der Ungläubigen. Wie der Islam Europa entdeckte. Frankfurt/Main, Berlin, Wien: Propyläen: 1983, S. 221

[44] Presse und Informationsstelle der FU Berlin: Fremde. Zum Umgang mit Fremden in der Geschichte und Gegenwart. Heft 21, Berlin, 1993

[45] Vgl. Daris, Patricia; Aromatherapie von A - Z. München; Knaur: 1990, S. 50f.

[46] Vgl. Hunke, Sigrid: Allahs Sonne über dem Abendland. Unser arabisches Erbe. Frankfurt/ Main: Fischer, 1990, S. 135

[47] Presse- und Informationsstelle der FU Berlin, a.a.O., S. 41

[48] Lewis, Bernard, a.a.O., S. 288

[49] Presse- und Informationsstelle der FU Berlin, a.a.O., S. 45

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2001
ISBN (eBook)
9783832450311
ISBN (Paperback)
9783838650319
Dateigröße
5.5 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Technische Universität Berlin – Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften
Note
1,0
Schlagworte
interkulturelle kompetenz binationale ehen interethnische islam orientalismus
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Titel: Interkulturelle Lernprozesse in bikulturellen Partnerschaften am Beispiel muslimisch-christlicher Ehen
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