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Der Welt ein Zeichen geben

Das Schwundgeldexperiment von Wörgl/Tirol 1932/33

©2001 Diplomarbeit 107 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Am Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise fand im Zeitraum zwischen Sommer 1932 und Sommer 1933 in der Marktgemeinde Wörgl in Tirol etwas statt, das als „das Wörgler Schwundgeldexperiment“ in die Wirtschaftsgeschichte einging. Diese Arbeit will dieses Experiment umfassend dokumentieren, das lokale sozio-ökonomische Umfeld beleuchten und neue Aspekte aufzeigen. Das Thema ist wegen seiner Bedeutung schon gut analysiert und dokumentiert worden, weshalb sich die Frage stellt, was die vorliegende Arbeit zur Erforschung des Themas beitragen kann?
Beim Studieren der bisherigen Publikationen stellte ich fest, dass die Forschung bisher der Analyse der finanz- und währungstechnischen Seite des Experiments sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet hat. Deshalb legt diese Arbeit ihren Schwerpunkt mehr auf die politische als die technische Umsetzung der Nothilfe-Aktion und beschäftigt sich infolge primär mit der Frage, wie und warum die lokalen Entscheidungsträger und die betroffene Bevölkerung von Wörgl und Umgebung das Experiment in so starkem Maße mittrugen. Sie will weiters die internationale Ausstrahlung der Wörgler Aktion beleuchten, die bis heute anhält. Bgm. Unterguggenberger wollte „der Welt ein Zeichen geben“. Dies ist ihm gelungen. Diese Arbeit widmet sich der Frage nach dem „Wie“.
Gang der Untersuchung:
Im Kapitel fünf wird zunächst versucht, die Wirtschaftssituation Anfang der Dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts von einer globalen Betrachtung auf die lokalen Gegebenheiten im Unteren Inntal herunterzubrechen. Die folgenden Kapitel sechs und sieben behandeln den Werdegang und die Ideen des praktischen (Michael Unterguggenberger) und des theoretischen Protagonisten (Silvio Gesell) des Wörgler Schwundgeldexperiments. Im Anschluss daran folgt das Kapitel acht, in dem Vorlauf, Ablauf, Ergebnis und Nachspiel beschrieben werden. Hier wurde versucht, besonders auf die lokalen Umstände sowie die Internationale Ausstrahlung der Schwundgeldausgabe einzugehen. Die Kapitel neun, zehn und elf widmen sich einer abschließenden Bewertung und Zusammenfassung der Ergebnisse.
Die Arbeit verzichtet aufgrund der Lesbarkeit darauf, bei Gruppenbezeichnungen das -Innen anzufügen. Die Begriffe sind also - obwohl grammatikalisch meist männlich – als geschlechtsneutral zu verstehen und schließen sowohl Frauen als auch Männer ein. Die Arbeit wurde gemäß der von Karmasin/Ribing vorgeschlagenen Layout-Richtlinien erstellt. Die Rechtschreibung orientiert sich […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


INHALTSVERZEICHNIS

1 Vorwort

2 Abkürzungsverzeichnis

3 Abbildungsverzeichnis

4 Einleitung

5 Situationsbeschreibung
5.1 Weltwirtschaft
5.2 Österreichs Wirtschaftslage 1932/33
5.3 Situation in der Marktgemeinde Wörgl

6 Michael Unterguggenberger – Hintergrund und Idee
6.1 Biographisches
6.2 Die Persönlichkeit Unterguggenberger
6.3 Unterguggenberger als Sozialdemokrat

7 Silvio Gesell und die Freiwirtschaftslehre
7.1 Biographisches
7.2 Die Theorie von Freigeld, Freiland und Festwährung
7.3 Praktische Umsetzung der Freiwirtschaftstheorie

8 Chronologie eines Experiments
8.1 VORLAUF
8.1.1 Propagierung der Idee
8.1.1.1 Politische Umsetzung
8.1.1.2 Gründung der freiwirtschaftlichen Ortsgruppe Wörgl
8.1.1.3 Die Wörgler Nachrichten
8.1.2 Das Programm
8.2 ABLAUF
8.2.1 Technische Umsetzung
8.2.1.1 Deckung
8.2.1.2 Kreislauf
8.2.2 Das Arbeitsbeschaffungsprogramm
8.2.3 Akzeptanz bei der Bevölkerung
8.2.4 Nationale und Internationale Perzeption und Resonanz
8.2.4.1 Presseberichte
8.2.4.2 Film und Radio
8.2.4.3 Anfragen an die Gemeinde Wörgl
8.2.4.4 Verbreitung der Aktion
8.2.4.5 Internationaler Besuch und Freigeldtourismus
8.2.5 Ende der Aktion
8.2.5.1 Untersagung
8.2.5.2 Berufung
8.2.5.3 Verfahren und Urteil
8.2.5.4 Unterguggenbergers Resümee
8.3 ERGEBNIS UND NACHSPIEL
8.3.1 Auswirkungen auf den Gemeindehaushalt
8.3.2 Auswirkungen auf die Beschäftigung
8.3.3 Auswirkungen auf die Privatwirtschaft
8.3.4 Auswirkungen auf die Bevölkerung
8.3.5 Internationale Epigonen
8.3.6 Umgang Wörgls mit seinem Erbe

9 Versuch einer Bewertung

10 Zusammenfassung

11 Abstract

12 Literatur
12.1 Monographien, Aufsätze und Zeitschriftenartikel
12.2 Zeitungsartikel
12.3 Ungedruckte Quellen

13 Anhang
13.1 Anhang A: Fotos
13.2 Anhang B: Dokumente
13.2.1 Unterguggenbergers Programm
13.2.2 Ankündigung eines Vortrags von Bgm. Unterguggenberger
13.2.3 Postkarte mit Freiwirtschaftsemblem
13.2.4 Unterguggenbergers 12-Punkte-Programm
13.3 Anhang C: Curriculum Vitae Gebhard Ottacher

1 Vorwort

Ich möchte am Anfang dieser Arbeit all jenen danken, die mein Studium und damit auch diese Arbeit ermöglicht haben. Zuallererst seien hier meine Eltern genannt, die meine Wahl eines geisteswissenschaftlichen Studiums von Anfang an unterstützten. Ich hatte das Glück, in einer Zeit ohne Studiengebühren und mit etlichen Ermäßigungen für Studierende zu studieren, was meine Studienzeit sehr erleichterte. Das Erasmus-Progamm ermöglichte mir einen einjährigen Studienaufenthalt in Italien und ich hatte auch Gelegenheit, einen Sommer lang das US-amerikanische Universitätssystem kennen zu lernen. Für die finanzielle Unterstützung möchte ich auch der Erich-Lackner-Stiftung/Bremen, der Julius-Raab-Stiftung, der geisteswissenschaftlichen Fakultät und schließlich dem Senat der Universität Wien danken.

Neben den finanziellen wollen aber auch all die geistigen Förderer meines studentischen Fortkommens erwähnt werden. Stellvertretend für die vielen erbaulichen Gespräche, die ich mit Kommilitonen, Professoren, Freunden und Bekannten führen durfte, möchte ich meinem Bruder Friedbert und meinem langjährigen Wohnungskollegen Walter Steiner für den anregenden Diskurs, die Ausgelassenheit und die seelische Unterstützung danken.

Am Zustandekommen dieser Arbeit haben der Stadtarchivar von Wörgl, Herr Hans Gwiggner und Frau Veronika Spielbichler, die sich speziell der Erforschung des Schwundgeldes angenommen hat, besonderen Anteil. Es sei den beiden hier herzlich für ihre fachliche Unterstützung und ihre Gastfreundschaft gedankt. Mein Betreuer Prof. Dr. Dieter Stiefel unterstützte mich auf unkomplizierte Weise bei der Themenwahl und während der Abfassung der Arbeit. Auch meinem Zweitprüfer Ao. Univ. Prof Peter Eigner gilt mein Dank. Er nahm sich viel Zeit, um mir den Prozess der "Magisterwerdung" zu erklären und die Arbeit zu diskutieren.

2 Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3 Abbildungsverzeichnis

Abbildungen:

Abbildung 1: Gesamtzahl der Arbeitslosen in Österreich (1919 – 1937)

Abbildung 2: Durchschnittliches Jahreseinkommen eines Arbeiterhaushalts

Abbildung 3: Foto von Michael Unterguggenberger

Abbildung 4: Foto von Silvio Gesell

Abbildung 5: Logo der deutschen Freiwirtschaftsbewegung (Zwischenkriegszeit)

Abbildung 6: Das Wirtschaftsleben frei nach Silvio Gesell

Abbildung 7: Deutscher Wära-Schein, Vorderseite.

Abbildung 8: Deutscher Wära-Schein, Rückseite.

Abbildung 9: Bgm. Unterguggenberger und die Treuhänder der Aktion

Abbildung 10: Die Freiwirtschaftsgruppe Wörgl

Abbildung 11: Arbeitswert-bestätigung, Vorder- und Rückseite

Abbildung 12: Schema des Schwundgeld-Kreislaufes

Tabellen:

Tabelle 1: Index der Verbraucherpreise

Tabelle 2: Steuerrückstände bei der Gemeinde Wörgl 1927 – 1931

Tabelle 3: Schwundgeldausgabe in Österreichischen Gemeinden 1932/1933

Tabelle 4: Gemeindeeinnahmen unmittelbar durch den Schwundgeldumlauf

4 Einleitung

Am Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise fand im Zeitraum zwischen Sommer 1932 und Sommer 1933 in der Marktgemeinde Wörgl in Tirol etwas statt, das als "das Wörgler Schwundgeldexperiment" in die Wirtschaftsgeschichte einging. Diese Arbeit will dieses Experiment umfassend dokumentieren, das lokale sozio-ökonomische Umfeld beleuchten und neue Aspekte aufzeigen. Das Thema ist wegen seiner Bedeutung schon gut analysiert und dokumentiert worden, weshalb sich die Frage stellt, was die vorliegende Arbeit zur Erforschung des Themas beitragen kann? Beim Studieren der bisherigen Publikationen stellte ich fest, dass die Forschung bisher der Analyse der finanz- und währungstechnischen Seite des Experiments sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet hat. Deshalb legt diese Arbeit ihren Schwerpunkt mehr auf die politische als die technische Umsetzung der Nothilfe-Aktion und beschäftigt sich infolge primär mit der Frage, wie und warum die lokalen Entscheidungsträger und die betroffene Bevölkerung von Wörgl und Umgebung das Experiment in so starkem Maße mittrugen. Sie will weiters die internationale Ausstrahlung der Wörgler Aktion beleuchten, die bis heute anhält. Bgm. Unterguggenberger wollte "der Welt ein Zeichen geben". Dies ist ihm gelungen. Diese Arbeit widmet sich der Frage nach dem "Wie".

Im Kapitel fünf wird zunächst versucht, die Wirtschaftssituation Anfang der Dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts von einer globalen Betrachtung auf die lokalen Gegebenheiten im Unteren Inntal herunterzubrechen. Die folgenden Kapitel sechs und sieben behandeln den Werdegang und die Ideen des praktischen (Michael Unterguggenberger) und des theoretischen Protagonisten (Silvio Gesell) des Wörgler Schwundgeldexperiments. Im Anschluss daran folgt das Kapitel acht, in dem Vorlauf, Ablauf, Ergebnis und Nachspiel beschrieben werden. Hier wurde versucht, besonders auf die lokalen Umstände sowie die Internationale Ausstrahlung der Schwundgeldausgabe einzugehen. Die Kapitel neun, zehn und elf widmen sich einer abschließenden Bewertung und Zusammenfassung der Ergebnisse.

Die Arbeit verzichtet aufgrund der Lesbarkeit darauf, bei Gruppenbezeichnungen das –Innen anzufügen. Die Begriffe sind also - obwohl grammatikalisch meist männlich – als geschlechtsneutral zu verstehen und schließen sowohl Frauen als auch Männer ein. Die Arbeit wurde gemäß der von Karmasin/Ribing[1] vorgeschlagenen Layout-Richtlinien erstellt. Die Rechtschreibung orientiert sich an den Grundsätzen der Neuen Deutschen Rechtschreibung. In Zitaten, die in Kursivschrift abgedruckt sind, wurde die alte Rechtschreibung beibehalten.

5 Situationsbeschreibung

5.1 Weltwirtschaft

Nach dem "Schwarzen Freitag" im Oktober 1929 kündigten die US-amerikanischen Banken ihre Auslandskredite, was besonders die österreichische und deutsche Wirtschaft in Schwierigkeiten brachte. Dort waren nämlich kurzfristige Kredite langfristig veranlagt worden. Das Geld wurde knapp, die Preise fielen und die Zinsen stiegen. Der hohe Zinssatz hielt die Unternehmen davon ab, Geld zu leihen und Investitionen zu tätigen, was die Nachfrage nach Investitionsgütern reduzierte und den Geldmangel verschärfte. In manchen Ländern kam es zu Deflation [2], d.h. das Geld wurde von Tag zu Tag mehr wert. Daher schoben die Konsumenten ihre Käufe auf und begannen, das Geld zu horten, wodurch immer weniger Geld im Umlauf war. Nach dem Zusammenbrechen einiger Banken hatten die Konsumenten auch das Vertrauen in die Banken verloren und behielten ihr Geld lieber zu Hause. So konnten die Banken keine Kredite mehr ausgeben und der Zinsfuß stieg weiter an. Trotz des großen Bedarfs wurden immer weniger Güter abgesetzt, was die Unternehmen veranlasste, die Produktion herunterzufahren, Mitarbeiter zu entlassen oder den Betrieb ganz stillzulegen.

Die Krise nahm nicht zufällig in den USA ihren Ausgang. Die USA standen 1929 für 42 Prozent der Weltproduktion und waren der größte Gläubiger der Welt.[3] Die USA wurden auch vom Rückgang des Welthandels besonders stark getroffen. Dieser brach in den Jahren 1929 – 1933 um 60 Prozent ein.[4] Dafür waren einerseits der allgemeine Preisverfall und andererseits der Rückgang der Warenmenge verantwortlich.[5] Um sich vor den Stürmen der Weltwirtschaft zu schützen, gaben die meisten Staaten das Freihandelskonzept auf und suchten ihr Glück in Devisenbewirtschaftung[6] und dem Aufbau von Zollmauern. Dazu kamen zusätzliche Handelshemmnisse in Form von Einfuhrkontingenten oder Einfuhrverboten. Meistbegünstigtenklauseln[7] gehörten der Vergangenheit an. Ziel all dieser Maßnahmen war es, den Import zu drosseln und gleichzeitig den Export zu fördern. Der Zusammenbruch der Österreichischen Creditanstalt 1931 löste dann zusätzlich zur internationalen Industriekrise eine internationale Finanzkrise aus. Die Panikstimmung unter den Gläubigern übertrug sich von Österreich auf die ganze Welt. Trotz der Hartwährungspolitik musste die österreichische Nationalbank im März 1933 nach dem Abfließen von großen Devisen- und Goldbeständen als Folge des CA-Krachs den Schilling um 22 Prozent abwerten.[8] Durch die internationale Finanzkrise ging auch der internationale Fluss an Finanzkapital drastisch zurück – zwischen 1927 und 1933 um über 90 Prozent.[9]

Die Regierungen antworteten zumeist mit Fatalismus auf die Krise. Der Goldstandard blieb sakrosankt, die Währungsstabilität war vielen Regierungen wichtiger als der Geldbedarf ihrer Nationalökonomien. Besonders in den Ländern, die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg eine Phase der Hyperinflation erfahren hatten (z. B. Polen, Ungarn, Deutschland, Österreich), war man besonders auf die Stabilität der Währung bedacht und verfolgte deshalb eine deflationistische Geldpolitik. Diese vertiefte die Krise jedoch noch zusätzlich.[10] Weder sozialdemokratische noch klassisch-liberale Ökonomen fanden Antworten auf die wirtschaftliche Depression. Allein die sozialdemokratische Regierung Schwedens bildete eine Ausnahme. Durch frühe Abwertung der Krone und die Verwirklichung einer reflationären Währungspolitik[11] fand Schweden schneller den Weg aus der Krise als andere Länder. Die Weltwirtschaftskrise erreichte von Amerika ausgehend dramatische Ausmaße: Die US-amerikanische Industrieproduktion sank zwischen 1929 und 1931 um ein Drittel, die Tee- und Weizenpreise fielen um zwei Drittel, in Brasilien wurden die Dampfloks anstatt mit Kohle mit Kaffeebohnen beheizt, um den Preisverfall zu dämpfen.[12] Die am meisten spürbare Konsequenz der Weltwirtschaftskrise aber war die Massenarbeitslosigkeit.[13]

5.2 Österreichs Wirtschaftslage 1932/33

Nach dem Ersten Weltkrieg war der neuentstandene Kleinstaat Österreich mit etlichen wirtschaftlichen Problemen konfrontiert. Unmittelbar nach Kriegsende musste die Wirtschaft von Kriegs- auf Friedensproduktion umgestellt werden. Die zurückkommenden Soldaten wollten beschäftigt werden, selbiges galt für die Tausenden Wiener Beamten, die kürzlich noch ein Gebiet von 55 Millionen Menschen verwaltet hatten. Dazu kamen die im Frieden von St. Germain von den Siegermächten beschlossenen Reparationszahlungen und das Verkraften des Zerfalls des historisch gewachsenen Wirtschaftsgebietes der Donaumonarchie. Der Desintegrationsprozess des Habsburger-Reiches war für die kleine österreichische Volkswirtschaft kaum zu verkraften. Ende 1921 deckten die Staatseinnahmen nur mehr 35 Prozent der Staatsausgaben und im Jahr darauf stand die Republik Österreich vor dem Staatsbankrott.[14] Die Regierung setzte die Notenpresse in Gang und entledigte sich auf diese Weise der Staatsschulden auf Kosten der Sparer, Hausbesitzer, Importeure und Beamten. In der Zeit der Hyperinflation wurden Privateinlagen der österreichischen Sparer fast wertlos, was die in Folge auftretende Abhängigkeit der Österreichischen Wirtschaft von Auslandskrediten erklärt. Die Nachkriegsinflation zeitigte aber auch positive Effekte. Sie half, die anfängliche Wirtschaftslähmung zu überwinden und begünstigte die Entwicklung der österreichischen Exportwirtschaft.[15]

1924 wurde infolge der "Genfer Sanierung" mit der Einführung der Schillingwährung die schwer inflationäre Kronenwährung abgelöst. Die Staatsausgaben wurden gekürzt (z.B. Beamtenabbau) und die Steuern erhöht. Das finanzpolitische Ziel hieß nunmehr: ausbalancierter Staatshaushalt. Die Geldpolitik verschrieb sich den Zielen Aufrechterhaltung eines hohen Zinsniveaus und Aufbau von möglichst hohen Gold- und Devisenreserven. Beides zielte darauf ab, die österreichische Kreditfähigkeit im Ausland zu erhöhen und Auslandskapital ins Land zu bringen. Der vom Völkerbund bestellte holländische Kommissar Alfred Zimmermann überwachte die Einhaltung der an die Auslandsanleihen geknüpften Bedingungen. Er spielte aber auch eine große innenpolitische Rolle, was Österreich den Ruf einer "Völkerbundkolonie" einbrachte.[16] Die zentralen wirtschaftspolitischen Entscheidungen waren stark von den Interessen der Kapitalgeber und Großbanken geleitet, folgten also der Politik eines "dogmatischen Wirtschaftliberalismus". Diese hatte eine Sanierung der Wirtschaft gar nicht zum Ziel. Vielmehr wurde davon ausgegangen, dass der Staat eine stabile Währung und geordnete Staatshaushalten schaffen müsse, der Rest aber von der Wirtschaft im "freien Spiel des Marktes" erledigt würde.[17] Diese Politik wurde auch nach Aufhebung der Völkerbundkontrolle konsequent weiterverfolgt: die Budgets waren ausgeglichen und die Nationalbank konnte zwischen 1924 und 1930 das Deckungsverhältnis des Notenumlaufs um 24 Prozent erhöhen.[18]

1929 brach die zweitgrößte Österreichische Bank, die Boden-Creditanstalt zusammen, woraufhin sie mit der Creditanstalt für Handel und Gewerbe zwangsfusioniert wurde. Zwei Jahre später, am 11. Mai 1931 kollabierte auch diese Großbank und löste mit ihren Zusammenbruch eine internationale Bankenkrise aus. Es kam zum Abziehen ausländischer Kredite und zu einer großen Kapitalflucht, d.h. der Umwandlung inländischer Guthaben in ausländische. Der völlige Zusammenbruch der CA konnte nur durch die Übernahme der Verbindlichkeiten durch den Staat verhindert werden. Es gab verschiedene Ursachen für die Bankenkrise: Missglückte Spekulationen, enttäuschende Geschäfte mit den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie und fehlende Kapitalkraft nach der Inflationszeit. Dazu kam der Umstand, dass die Banken kurzfristige Auslandsdarlehen in langfristigen Investitionen veranlagten. Als nun nach 1929 die überseeischen Gläubiger ihre Gelder einforderten, ging den Banken, banal gesagt, "das Geld aus". Die Währungsreserven der Österreichischen Nationalbank gingen von ATS 513 Millionen auf ATS 41 Millionen zurück.[19] Die Gesamtgeldmenge in Österreich ging zurück und auch die Geschwindigkeit des Notenumlaufs nahm ab. Der Rückgang der Geldumlaufgeschwindigkeit lässt sich am Nachlassen der Giroumsätze der wichtigsten Bankinstitute feststellen. Die Giroumsätze gingen bis 1935 auf etwa die Hälfte des Jahres 1929 zurück.[20]

Unmittelbar nach dem Bankenkrach erhöhte die Nationalbank den Diskontsatz von sieben auf zehn Prozent, was das Kreditnehmen teuer machte und die Unternehmen von Investitionen abhielt. Das Ergebnis lässt sich in Zahlen ablesen: von den Jahren 1929 bis 1933 fiel das Bruttonationalprodukt in Österreich um 22 Prozent, die Industrieproduktion um 38 Prozent. Die Arbeitsmarktlage war katastrophal, hatte die Arbeitslosenrate 1929 schon 9,8 Prozent betragen, so stieg sie bis 1932 auf 24,7 Prozent, was einer Zahl von 557.000 Arbeitslosen entsprach. Bis zum Jahr darauf (1933) stieg sie noch weiter bis auf 27,2 Prozent, was einer Zahl von 598.000 Arbeitslosen gleichkam.[21] (siehe auch Abbildung 1: Gesamtzahl der Arbeitslosen) 40 Prozent der 598.000 waren entweder in Frühpension oder bereits "ausgesteuert", d. h. sie hatten den Anspruch auf staatliche Unterstützung verloren und waren auf die Fürsorge der Gemeinden angewiesen.[22] Trotzdem begegnete die Regierung der Massenarbeitslosigkeit fatalistisch. Sie wurde mehr als eine "zwangsläufige Begleiterscheinung der handelspolitischen Schwierigkeiten definiert" oder als "unbehebbares Schwächesymptom der österreichischen Kleinstaatlichkeit" abgetan.[23]

Abbildung 1 : Gesamtzahl der Arbeitslosen in Österreich (1919 – 1937) [24]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Am 15. Juli 1932 unterschrieb Bundeskanzler Engelbert Dollfuß in Lausanne einen zweiten Anleihevertrag mit dem Völkerbund. Der Erlös von ATS 308,6 Millionen floss jedoch nicht in Investitionen sondern wurde ausschließlich zur Schuldenrückzahlung verwendet. Die Österreichische Finanzpolitik wurde wieder der Kontrolle des Völkerbundes unterstellt[25], wiederum nahm ein Holländer die Rolle des Völkerbundkommissars in Österreich ein (Rost van Tonningen). Um das Budget weiterhin balanciert zu halten, wurden die Staatsausgaben gesenkt, anstatt sie – keynesianisch gedacht - zu erhöhen.

Abbildung 2: Durchschnittliches Jahreseinkommen eines Arbeiterhaushalts[26]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2 lässt erkennen, wie rapide die Einkommen der Arbeiter in den Jahren 1930 bis 1935 zurückgingen.

Die liberale Krisenstrategie der Regierung bedeutete eine Erhöhung der Verbrauchssteuern, Abbau der Löhne, Abbau der Sozialausgaben und Kürzung der staatlichen Investitionen auf ein Minimum. Diese prozyklische Politik verschärfte die Krise, führte zu einem Zunehmen der Arbeitslosigkeit, zu weiteren Budgetkürzungen und Gehaltsabbau von Staatsangestellten. Dennoch waren auch die Sozialdemokraten teilweise damit einverstanden, selbst Otto Bauer führte aus, dass "man die Forderung nach öffentlichen Investitionen zurückstellen müsse, bis bessere Zeiten kommen".[27]

Das Festhalten der österreichischen Wirtschaftspolitik während der Weltwirtschaftskrise an der liberalen Doktrin ausgeglichener Budgets und stabiler Währungen, hatte auch historische Gründe: Während der Nachkriegsinflation von 1918 – 1922 waren viele Vermögenswerte, besonders des Mittelstandes, vernichtet worden. Diese bittere Erfahrung hatte auch ein psychologisches Moment. Demgemäss war es eine Priorität der Zwischenkriegsregierungen, Erinnerungen an die Inflationszeit nicht aufkommen zu lassen, indem sie ihre Ausgaben balancierte.[28] Dadurch konnte zwar eine wiederholte Inflationskrise vermieden werden, doch führte die Finanzpolitik der Regierung Buresch Österreich stattdessen in eine Deflationskrise mit den dargelegten Folgen.

Die österreichische Währungspolitik setzte in der Krise deflationistische Maßnahmen, um die Goldparität des Schillings aufrecht zu erhalten. Dazu wurden der Notenumlauf reduziert und die Kredite eingeschränkt, was die österreichische Industrie besonders hart traf. Der Schilling musste 1933 dennoch um 22 Prozent abwerten[29], was aber Dr. Buresch nicht daran hinderte 1934 bei einer Industriellentagung auszuführen: "Schilling unantastbar! Der österreichische Schilling hat sich in den Zeiten der schwersten Bedrängnis, die vor zwei Jahren begann, wie ein Held gehalten."[30] Am Index der Verbraucherpreise (Tabelle 1) der Jahre 1930 – 1934 lässt sich die Deflation des Österreichischen Schillings ablesen. In den Jahren 1931 und 1933 fiel der Index um 4,5 Prozent bzw. 2,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Index der Verbraucherpreise[31]

5.3 Situation in der Marktgemeinde Wörgl

Wörgl liegt im unteren Inntal ca. 40 km östlich von Innsbruck an der Schnittstelle zwischen dem Inntal und dem Brixental. Wörgl ist durch seine Lage in zweifacher Hinsicht Verkehrsknotenpunkt: Es treffen sich hier zwei wichtige Eisenbahnlinien (Triest – München, Innsbruck – Wien). Dasselbe galt damals wie heute für die Straßenverbindungen. Die günstige Verkehrslage führte zu einer schnellen Industrialisierung der Gemeinde Anfang des 20. Jahrhunderts. 1911 wurde Wörgl Marktgemeinde. Es siedelten sich eine Zellulosefabrik, eine Zementfabrik, eine Sandziegelfabrik, eine Bierbrauerei und zwei Sägewerke an. Von 1900 bis 1910 stieg die Einwohnerzahl von 648 auf 4.427 Einwohner an. 1934 zählte Wörgl ca. 4.200 Gemeindebürger.[32] [33] Die arbeitende Bevölkerung war zu ca. einem Drittel in der Landwirtschaft und zu zwei Drittel als Arbeiter, Angestellte und Kleingewerbetreibende beschäftigt.[34] Mit dem Übergreifen der Weltwirtschaftskrise auf Österreich mussten auch die großen Arbeitgeber in der Gemeinde Wörgl beginnen, Arbeitskräfte abzubauen. Schon 1929 waren infolge der Elektrifizierung der Inntalstrecke das Wörgler Heizhaus der Bundesbahn stillgelegt und etliche Eisenbahner entlassen worden. Von 1930 bis 1933 sank die Zahl der Bundesbahnangestellten in Wörgl von 310 auf 190. Im Zementwerk Kirchbichl wurde die Beschäftigtenzahl gar von ca. 50 (1930) auf 2 (1933) reduziert. Die Brauerei baute im selben Zeitraum ein Drittel der Arbeitskräfte ab. Die Zellulosefabrik, die 1930 noch ca. 400 Menschen Arbeit gegeben hatte, musste den Betrieb zur Gänze einstellen und unterhielt 1933 nur noch vier Arbeiter zur Bewachung der stillgelegten Maschinen. Der Wegfall der Wirtschaftsleistung der großen Betriebe traf die gesamte Region, die Gewerbetreibenden litten unter den Konsumeinschränkungen der Bevölkerung, die örtliche Wirtschaft erlahmte zunehmend, die Warenpreise sanken. Die Situation spiegelte sich auch in den Gemeindekassen – immer mehr Leute konnten ihre Steuern nicht bezahlen. Der Fremdenverkehr spielte in Wörgl damals wie heute eine untergeordnete Rolle.[35]

Die Investitionen der Vorjahre (Bau der Bürgerschule, Kanal- und Straßenarbeiten, Legen neuer Wasserleitungen) hatten die Gemeindeschulden bei der Sparkasse der Stadt Innsbruck auf ATS 1,3 Millionen ansteigen lassen. Seitdem die Nationalbank nach dem Zusammenbruch der Creditanstalt 1931 den Diskontsatz von 7% auf 10 % erhöht hatte, konnte die Gemeinde den Zinszahlungen für die Millionenschuld nicht mehr nachkommen.[36] 1931 war ein Rückstand an Zinszahlung von ATS 50.000,--entstanden.[37] Gleichzeitig waren die Steuerrückstände ständig gewachsen und betrugen 1932 ATS 118.000,--.

Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Entwicklung der Steuerrückstände in Wörgl. Die Steuerkraft der Bevölkerung machte keine Anzeichen, sich zu erholen. Im Gegenteil: Wörgl zählte 400 Arbeitslose (inkl. der näheren Umgebung waren es sogar 1500). Von den 400 Arbeitslosen waren über 200 bereits "ausgesteuert", d.h. sie bekamen keine Arbeitslosenunterstützung mehr vom Staat. Für ihre Fürsorge musste allein die Gemeinde aufkommen. Dazu war sie aber immer weniger imstande.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: Steuerrückstände bei der Gemeinde Wörgl 1927 – 1931.[38]

Wörgl war beim Land Tirol und beim Bund verschuldet, weshalb die der Gemeinde gebührenden Anteile an den Landessteuern und den Bundes-Ertragsanteilen von Bund und Land kurzerhand einbehalten wurden, d.h. als Kompensation für die Rückstände verrechnet wurden. Somit musste die Gemeinde auch auf diese Einkommensquelle verzichten. Gleichzeitig wurden immer mehr Gemeindebürger zahlungsunfähig und die Steuerrückstände illiquide. Die Gemeinde stand vor der Zahlungsunfähigkeit.[39]

Im Juli 1932 richteten die Gemeinden Häring, Kirchbichl, Langkampfen und Wörgl einen Hilferuf an das Bundesministerium für Handel und Verkehr. Dort wurde die katastrophale Wirtschaftslage der Region beschrieben. Am Ende des Schreibens sind folgende Sätze zu lesen: "Möge das verehrliche Bundesministerium schließlich noch zur Kenntnis nehmen, dass unser vorstehendes Ansuchen ein Notschrei um Hilfe in letzter Stunde ist. (...) Nunmehr sind wir am Ende unserer Kräfte, wir können aus eigenem nicht mehr und sind unrettbar dem Untergange verfallen, wenn nicht rasche Hilfe von höherer Stelle kommt."[40]

Doch von höherer Stelle kam keine Hilfe. Der Gemeinderat von Wörgl hatte an die Tiroler Landesregierung die Bitte um Gewährung einer mit vier Prozent verzinsten Kaufkraftanleihe in der Höhe von ATS zwei Millionen gestellt, um die Zinsenlast von nunmehr zehn Prozent auf vier Prozent zu verringern. Die Landesregierung verwies die Gemeinde weiter an das Bundesministerium für Finanzen. Aber auch dort fand das Ansuchen kein Gehör.[41] Die Gemeinde bekam nur einen Notstandskredit im Betrag von ATS 12.000,-- vom Land bewilligt. Die Regierung setzte keine effektiven Maßnahmen zur Linderung der Arbeitslosigkeit oder zum Ausbrechen aus der Unterkonsumptionskrise. Sie verfolgte weiterhin eine deflationäre Geldpolitik und kürzte die Staatsausgaben. Der Bürgermeister der Gemeinde Wörgl war einer der ersten, der erkannte, dass von der Regierung nichts zu erwarten war und nach Wegen zu suchen begann, um auf kommunaler Ebene die Krise zu überwinden.

6 Michael Unterguggenberger – Hintergrund und Idee

6.1 Biographisches

Michael Unterguggenberger wurde am 15. August 1884 in Hopfgarten/Tirol, einer Nachbargemeinde Wörgls, als Sohn eines Bauern geboren. Schon mit 12 Jahren endete seine nur zweijährige Schullaufbahn und er begann als Hilfsarbeiter in einem Sägewerk zu arbeiten[42]. Mit fünfzehn Jahren bekam er eine Lehrstelle bei einem Mechanikermeister in Imst im oberen Inntal. Das zu bezahlende Lehrgeld musste er selbst aufbringen. Nach Abschluss seiner Lehre ging er auf die Walz, die ihn zunächst zum Bodensee, dann über Wien an die rumänische Grenze und von dort wiederum über Galizien ins Deutsche Reich führte. In Liegnitz in Schlesien lernte er den Gewerkschaftsgedanken kennen und trat dem Metallarbeiterverband bei. Nach seiner Rückkehr nach Tirol 1905 bekam der 21jährige eine Anstellung bei der Bundesbahn in Wörgl, das fortan sein beruflicher und privater Wohnsitz wurde.[43] 1908 heiratete er seine erste Frau, Maria Ender aus Hopfgarten, mit der er zwei Söhne (Johann und Michael) hatte. Maria Ender verstarb 1917 an Lungentuberkulose. Die beiden Söhne wuchsen fortan bei einer Tante auf.[44]

Im Jahre 1912 wurde Unterguggenberger in die Personalkommission der österreichischen Bundesbahnen gewählt. Der Gewerkschaftsverband in Wörgl wuchs unter seiner Führung von ursprünglich 100 auf 800 Mitgliedern an. Schließlich trat er auch der Sozialdemokratischen Partei bei, die ihn schon 1919 in den Gemeinderat entsandte. [45] Im Jahr 1922 heiratete er zum zweiten Mal. Mit seiner zweiten Frau Rosa Schnaiter hatte er drei Kinder (Alois, Rosa Augusta und Silvio). 1928 entstand zwischen den Sozialdemokraten und den bürgerlichen Parteien im Gemeinderat von Wörgl ein Patt (12 gegen 12 Stimmen), weshalb der Bürgermeister per Los bestimmt werden sollte. Unterguggenberger wurde von den Sozialdemokraten als Kandidat aufgestellt, doch entschied das Los für den Bürgerlichen Josef Gollner. Unterguggenberger besetzte den Posten des Vizebürgermeisters, doch drei Jahre später 1931 entschied das Los gegenteilig und er wurde zum Bürgermeister von Wörgl. Er war zu diesem Zeitpunkt 47 Jahre alt.[46] Nach seiner Wahl ließ er sich als Bundesbahnrevident wegen Herz-Lungenschwäche in den Ruhestand versetzen.[47] Seinem Wirken als Bürgermeister von Wörgl ist das Kapitel 8 "Chronologie eines Experiments" gewidmet.

Abbildung 3: Foto von Michael Unterguggenberger

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Wörgler Heimatmuseum

Am 7. Februar 1929 trat Unterguggenberger mitsamt seiner Familie aus der Katholischen Kirche aus. Das auslösende Moment dafür war gewesen, dass der Grazer Bischof dem Freiwirtschafter und Theologen Prof. Johannes Ude aus politschen Gründen öffentliches Redeverbot erteilt hatte. Unterguggenberger war ein persönlicher Freund Udes und wollte mit seinem Kirchenaustritt gegen die Maßnahmen des Bischofs protestieren.[48]

Während der Tage des Februaraufstandes 1934 versuchte Unterguggenberger zur Deeskalation der Lage beizutragen. Er wollte keine Gewaltanwendung, doch gelang es ihm nicht, seine Parteigenossen vom bewaffneten Widerstand abzuhalten. In seinen Lebenserinnerungen an den 13. Februar 1934 zitiert der damalige Kooperator von Wörgl, Franz Wesenauer, Unterguggenberger: "Herr Kooperator, aus ist es; meine Leute folgen mir nicht mehr. Seit einer Stunde wird geschossen".[49] Es gelang ihm aber, eine Verschiebung der Ausrufung des Standrechts um eineinhalb Stunden bei Oberstleutnant Steiner, dem Chef der Tiroler Gendarmerie, zu erwirken. Bei den folgenden Scharmützeln gab es fünf Verletzte. Auf Vermittlung Wesenauers ergaben sich die ca. 90 – 100 Schutzbündler und wurden wegen Aufruhrs angeklagt.[50] Sie erhielten im Vergleich zum Standrecht "milde" Urteile zwischen ein und drei Jahren Zuchthaus.[51] Die Tiroler Landesregierung löste umgehend den Gemeinderat von Wörgl auf und bestellte einen vorläufigen Amtsverwalter.[52] Bgm. Unterguggenberger wurde für zwei Tage unter Hausarrest gestellt. Nach seiner Absetzung fand Bgm. Unterguggenberger in den Wörgler Nachrichten eine kurze Würdigung:

"Nun hat auch Wörgl einen Regierungskommissär. Der bisherige Bürgermeister Maschinenführer Michael Unterguggenberger hat die Geschäfte bereits übergeben. Er war ein ruhiger, objektiver Mann, der mit großer Hingebung seine Pflicht erfüllte. Er war wohl auch vielen seiner Genossen zu wenig radikal und tat beim Aufstand nicht mit, sondern versuchte zu beruhigen."[53]

Nach dem Verbot der Sozialdemokratischen Partei zog Unterguggenberger sich aus dem politischen Leben zurück. Er hielt noch einige Vortragsreisen über das Schwundgeld von Wörgl in die Schweiz und die Tschechoslowakei ab, doch verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zusehends. Kuraufenthalte an der Adria, in Meran und Gleichenberg brachten nur vorübergehend Besserung. Am 19. Dezember 1936 verstarb Michael Unterguggenberger in Wörgl im Alter von 52 Jahren an Lungenembolie. Er hatte schon jahrelang an einem Lungenleiden laboriert und war die letzten drei Monate vor seinem Tod im Koma gelegen.[54] Die Einäscherung erfolgte in Salzburg, wo sich das nächste Krematorium befand. Ein Jahr lang verblieb die Urne im Hause Unterguggenberger, weil sich der Wörgler Ortspfarrer weigerte, den aus der Kirche Ausgetretenen ein Grab in der geweihten Friedhofserde zuzuweisen. Allein die Ecke für Selbstmörder kam für ihn in Frage. Erst als sich Rosa Unterguggenberger bereit erklärte, mit ihren Kindern wieder in die Kirche einzutreten, konnte die Urne am Wörgler Waldfriedhof beigesetzt werden.[55]

6.2 Die Persönlichkeit Unterguggenberger

Unterguggenberger war von kleiner, fast zierlicher Statur. Er wurde von seinen Zeitgenossen für seine Schlichtheit, Aufrichtigkeit und seinen Humor geschätzt.[56] Auch von sehr Freiwirtschafts-kritischen Autoren wurde er als sympathisch, objektiv und sachlich beschrieben.[57] Unterguggenberger war ein musikalischer Mensch. Er spielte Querflöte, Trompete, Harmonium und Zither. Als junger Mann trat er der Arbeitermusikkapelle bei, deren Kapellmeister er später wurde. 1912 komponierte er anlässlich des 10jährigen Jubiläums der Arbeitermusik Wörgl einen Marsch, der später zum Unterguggenberger-Marsch wurde.

Er war ein bescheidener Mensch. Es war ihm nicht wichtig, selbst im Rampenlicht zu stehen, sondern er wollte eine Idee praktisch umsetzen. In einem Brief an seinen Grazer Amtkollegen, in dem er ihn von den freiwirtschaftlichen Ideen zu überzeugen suchte, schrieb er: "Ich bitte noch, sehr verehrter Genosse Bürgermeister, versichert zu sein, dass es mir nicht etwa um die Herausstreichung einer Sache zu tun ist, die zufällig ich gemacht habe. Mein Name braucht dabei nicht berührt werden. Es ist auch nicht mein Geistesprodukt, sondern mit einer zeitlichen und lokalen Anpassung der Freiwirtschaftslehre Gesells entnommen."[58]

6.3 Unterguggenberger als Sozialdemokrat

Unterguggenbergers Ansichten wichen in manchen Bereichen stark von jenen der österreichischen Sozialdemokraten ab. Dies brachte ihn Kritik in den Parteireihen ein. Sein Schwundgeld-Programm in Wörgl wurde von der Parteileitung in Innsbruck weder gutgeheißen noch unterstützt. Vielmehr rieten die Tiroler Parteigenossen Unterguggenberger, "von der fragwürdigen, im Parteiprogramm nicht vorgesehen Schwundgeldsache abzustehen".[59] Er fand für sein Programm auch keine Resonanz in den Parteimedien. Während die bürgerlichen Zeitungen der Sache große Aufmerksamkeit widmeten, scheint in der Arbeiterzeitung (AZ) jener Jahre kein Artikel zum Thema auf. In der "Volkszeitung, sozialdemokratisches Tagblatt für Tirol" jener Jahre fand das Schwundgeldexperiment wenig Berücksichtigung. In der Berichterstattung der Volkszeitung kommt Unterguggenberger nur als "Bürgermeister von Wörgl" vor, seine Zugehörigkeit zur Sozialdemokratischen Partei wird nicht erwähnt. Der Umstand, dass seine Aktivitäten in Wörgl von der Parteileitung in Innsbruck kein großes Gehör fanden, kommt am besten in dem Umstand zum Ausdruck, dass er in einem Artikel in der Volkszeitung (VZ) "Anton" anstatt "Michael" Unterguggenberger genannt wird.[60] In der Woche nach Unterguggenbergers Ableben findet sich in der Volkszeitung kein Vermerk und kein Nachruf auf ihn.

Unterguggenberger konnte mit der Marxschen Lehre wenig anfangen. Er hatte die Ratlosigkeit der Sozialdemokratie gegenüber der Inflationskrise der Nachkriegszeit und der Deflationskrise nach 1929 erlebt. Die Parteilinie, allein "Bankengaunereien und bürgerliche Misswirtschaft" für die Wirtschaftskrise verantwortlich zu machen, war Unterguggenberger zu einfach.[61] Er wandte sich lieber anderen Theorien zu. Dazu gehörten auch jene des deutschen Sozialreformers Silvio Gesell.

[...]


[1] M. KARMASIN, R. RIBING: Die inhaltliche und formale Gestaltung wissenschaftlicher Arbeiten. Ein Leitfaden für Haus-, Seminar- und Diplomarbeiten sowie Dissertationen (Wien 1999).

[2] Deflation ist eine Wirtschaftslage, in welcher der Wert der Geldeinheit zunimmt, weil die Preise fallen. Der Geldwert kann steigen, wenn die Produktivität stärker zunimmt als das Geldeinkommen, da dann das Angebot größer als die Nachfrage ist. (Vgl.: Horst Claus RECKTENWALD: Wörterbuch der Wirtschaft (Stuttgart 1975), 89.

[3] Eric HOBSBAWM: Age of Extremes. The Short Twentieth Century (1914 – 1991), 97.

[4] HOBSBAWM: Age of Extremes, 94.

[5] Dieter STIEFEL: Die große Krise in einem kleinen Land (= Studien zu Politik und Verwaltung, Band 26), (WienKölnGraz 1988), 376.

[6] Unter Devisenbewirtschaftung werden Maßnahmen zur Regel und des Verkehrs mit ausländischen Zahlungsmitteln verstanden. Das Ziel ist die Aufrechterhaltung der Stabilität des Wechselkurses nach außen. Die Devisenbewirtschaftung arbeitet mit der Kontrolle, Einschränkung oder dem Verbot von Devisentransaktionen.

[7] Meistbegünstigung bedeutet, dass kein anders Land bessergestellt wird als der Vertragspartner. Die vertragsschließenden Staaten erhalten damit die gleiche Stellung wie das bisher meistbegünstigte Land.

[8] Hans KERNBAUER (u.a.): Die wirtschaftliche Entwicklung, In: Erika WEINZIERL, Kurt SKALNIK (Hrsg.): Österreich 1918 – 1938, Geschichte der Ersten Republik Band 1 (GrazWienKöln 1983). 343 – 380, 368.

[9] HOBSBAWM: Age of Extremes, 89.

[10] Mark MAZOWER: Dark Continent, Europe´s twentieth century (London 1998) 114 – 115.

[11] Reflation ist eine Währungspolitik, die den übermäßig geschrumpften Geldumlauf einer Volkswirtschaft wieder erweitern und das zu tiefe Preisniveau anheben will. In diesem Sinne ist Reflation ein Mittel zur Beseitigung von Schäden der Deflation. Der Geldumlauf wird solange erhöht, bis er wieder dem Geldbedarf entspricht. (Vgl.: RECKTENWALD: Wörterbuch, 401).

[12] HOBSBAWM: Age of Extremes, 91 – 92.

[13] Das traumatische Erleben der Massenarbeitslosigkeit durch die Zwischenkriegsgeneration sollte nach dem Krieg dazu führen, dass "Vollbeschäftigung" zu einem weit verbreiteten wirtschaftspolitischen Ziel wurde.

[14] STIEFEL: Die große Krise ,15.

[15] Karl BACHINGER, H. HEMETSBERGER-KOLLER, Herbert MATIS: Grundriss der österreichischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (Wien 1987), 56.

[16] Erich ZÖLLNER: Österreich, sein Werden in der Geschichte (Wien 1961), 500.

[17] BACHINGER: Grundriß, 77.

[18] BACHINGER: Grundriß, 78.

[19] Zit. Nach: Dieter STIEFEL: Konjunkturelle Entwicklung und struktureller Wandel der Österreichischen Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit (= Forschungsberichte des Instituts für Höhere Studien, Nr. 135), (Wien 1978), 59.

[20] STIEFEL: Konjunkturelle Entwicklung, 71.

[21] Felix BUTSCHEK: Statistische Reihen zu Österreichischen Wirtschaftsgeschichte (Wien 1996), ohne Seite, Kapitel 3.3.

[22] KERNBAUER Die wirtschaftliche Entwicklung, 369.

[23] Karl BACHINGER: Anmerkungen zur Wirtschaftspolitik der Ersten Republik. In: Christliche Demokratie (Wien 1/1983). 42 – 53, 48.

[24] Entnommen aus: Dieter STIEFEL: Arbeitslosigkeit. Soziale, politische und wirtschaftliche Auswirkungen – am Beispiel Österreichs 1918 – 1938 (= Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 31), (Wien 1979),,24.

[25] Felix BUTSCHEK: Die österreichische Wirtschaft im 20. Jahrhundert. (WienStuttgart 1985), 50.

[26] Entnommen aus: STIEFEL: Arbeitslosigkeit, 148.

[27] Zit. Nach: BACHINGER: Grundriß, 79.

[28] Erich KAUFFER: Wörgl macht Geschichte, In: Tiroler Tageszeitung: Innsbruck, am 25./26. Mai 1991.

[29] BACHINGER: Grundriß, 79.

[30] Karl BURESCH in Neues Wiener Journal, Wien, am 20. April 1934.

[31] Entnommen aus: BUTSCHEK: Statistische Reihen, ohne Seitenzahl, Kapitel 8.1.

[32] Fritz SCHWARZ: Das Experiment von Wörgl (Bern 1951), 27.

[33] Heute (2001) leben in der Gemeinde Wörgl 12.000 Menschen. Wörgl ist die am schnellsten wachsende Gemeinde Westösterreichs.

[34] Alfred HORNUNG: Das Ergebnis des Wörgler Schwundgeldversuchs. Ist Wörgl ein Freigeldexperiment? (Diss., Innsbruck 1934), 6.

[35] SCHWARZ: Wörgl, 34.

[36] Thomas WENDEL: Gesellschaftspolitische Bedeutung und technische Funktionsweise umlaufgesicherter Zahlungsmittelsysteme: die Schwundgeldexperimente von Wörgl 1932 und Cabricán 1994 im Vergleich (Dipl.-Arb., Berlin 1994), 32.

[37] SCHWARZ: Wörgl, 38.

[38] Entnommen aus: Hans R. L. COHRSSEN: Mayor Unterguggenberger´s Plan. In: New Outlook (o.O., März 1933) 42 – 44, 42.

[39] WENDEL: Gesellschaftspolitische Bedeutung, 32.

[40] o.A.: Gegen die Arbeitslosigkeit, Eine Denkschrift der Gemeinden Häring, Kirchbichl, Langkampfen und Wörgl an das Bundesministerium für Handel und Verkehr. Abgedruckt In: Wörgler Nachrichten: Kitzbühel, am 23. Juli 1932.

[41] Wörgler Nachrichten: Kitzbühel, am 30. Juli 1932

[42] Hans JÜLLIG: Wörgl im Schnee (Manuskript, o.O., o.J.) 5 Seiten, 3.

[43] Hans BRAMBÖCK: Das Experiment von Wörgl. Zum 99. Geburtstag von Altbürgermeister Michael Unterguggenberger, In: ohne Angabe (o.O., 1983), 9 Seiten, 1.

[44] Klaus ROHRBACHER: Freigeld. Michael Unterguggenberger und das "Währungswunder von Wörgl (Paderborn 2001), 32.

[45] SCHWARZ: Experiment von Wörgl (Bern 1951), 27.

[46] Silvio UNTERGUGGENBERGER: Das Freigeldexperiment von Wörgl, In: Josef ZANGERL: Wörgl, ein Heimatbuch (o.O. 1998) 259 – 278, 262.

[47] Thomas WENDEL: Das Wörgeler Schwundgeldexperiment 1932 –1933 http://www.ruhrgas.de/kontext/ , 11 Seiten, <6. April 2001>, 2.

[48] ROHRBACH: Freigeld, 135.

[49] Josef HOFMANN: Prälat Franz Wesenauer – Ein Priesterleben 1904 – 1991, (Salzburg 1998), 79.

[50] HOFMANN: Wesenauer, 81.

[51] Gerhard OBERKOFLER: Die Tiroler Arbeiterbewegung von den Anfängen bis zum 2. Weltkrieg (= Materialien zur Arbeiterbewegung 13) (Wien 1979) 245.

[52] ROHRBACH: Freigeld, 131.

[53] Wörgler Nachrichten: Kitzbühel, o.J., Zit. Nach: ROHRBACH: Freigeld, 132.

[54] WENDEL: Wörgler Schwundgeldexperiment, 9.

[55] ROHRBACH: Freigeld, 134 - 135.

[56] Arbeiter-Zeitung: Basel, am 31. Oktober 1933.

[57] Basler Landwirtschaftliche Zeitung: Basel, am 1. November 1933.

[58] Michael UNTERGUGGENBERGER: Brief an Grazer Bgm. Vinzenz Muchitsch, am 6. Oktober 1932, 2 Seiten, 2.

[59] Alex von MURALT: Der Wörgler Versuch mit Schwundgeld, In: Ständisches Leben am (6, 1933) Nachdruck in : SCHMITT: Silvio Gesell, 275 – 288, 282.

[60] Volkszeitung: Innsbruck, am 20. November 1933, Seite 7.

[61] Volkszeitung: Innsbruck, am 5. Jänner 1933, Seite 1.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2001
ISBN (eBook)
9783832450212
ISBN (Paperback)
9783838650210
DOI
10.3239/9783832450212
Dateigröße
7.6 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Wien – Sozial- und Wirtschaftswissenschaften
Erscheinungsdatum
2002 (Februar)
Note
2,0
Schlagworte
wirtschaftsgeschichte österreich zwischenkriegszeit währungsreform freigeld freiwirtschaft
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