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Psychologische Untersuchung zum Erleben von Atomenergie

©2000 Diplomarbeit 115 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die Betrachtung der Geschichten, die bei der Konfrontation mit der Atomenergie erzählt wurden, führte zur Herausarbeitung einer polaren Grundspannung zwischen zwei miteinander konkurrierenden Bildern. Das Atom versetzt in diffuse und undurchschaubare Verhältnisse. Da wird geklagt über gesellschaftliche Missstände und eigene Orientierungslosigkeiten. Gefangen in einem diffusen Nebel ist man einer ungeheuren, unheimlichen und zersetzenden Macht ausgesetzt, die man aber selbst geschaffen hat. Man erleidet Ohnmacht an unbestimmbaren Verhältnissen. Als alternative Umgangsweise bietet es sich an, es einmal darauf ankommen zu lassen und die `Bombe zu zünden` und sich der Verwandlungsmächte zu bedienen, die im Atom angelegt sind. Dann will man selbstbestimmt durcheinanderwirbeln und neu ordnen und traut sich zu, sich der ungeheuren Macht selbstbewusst zu bedienen.
Die weitere Analyse offenbarte dann die zugrundeliegende Struktur eines doppelten ambivalenten Verhältnisses. Die Atomenergie ist zum einen eine Bedrohung, zum anderen eine Verheißung: Verwandlung kann Fluch, aber auch Segen sein. Gerade diese Unbestimmtheit will man überwinden, aber man möchte sie auch am Leben erhalten, weil man nur in Abgrenzung von einem beweglichen und unscharfen Hintergrund eigene Formen und Fassungen als konturierte Gestalten erlebt. Im Spannungsfeld zwischen diesen Ambivalenzen muss das Seelische eine Lösung für folgendes Problem finden: Wie kann Seelisches das diffuse Unverfügbare und Unbestimmbare von Verwandlung so behandeln, dass es als verfügbare und bestimmbare Form erfahren und erlebt wird ? – Diese Frage wies auf das seelische Grundproblem des Fesselns und Entfesselns von Verwandlungsmächten hin. Dieses Grundparadox erfährt im konkreten Umgang mit dem Atom eine Lösung in einem Gebot der Gleichzeitigkeit unvereinbarer Gegensätze: Beide Spannungspole müssen sich verwirklichen. Seelisches muss sich eine sinnhafte Position geben zwischen einem Sich-Einlassen auf die unkontrollierbaren aber auch erregend-faszinierenden Erlebensqualitäten unbestimmbarer Verwandlungen und der Notendwigkeit, das Unbestimmte bestimmt zu machen und die Verwandlungsangebote in eine kontrollierte Fassung einzubinden. In diesem grundlegenden Spannungsfeld ließen sich 5 voneinander abgrenzbare Umgangstypen erkennen: Seelisches will Verwandlungsmächte radikal fesseln.
- Seelisches will Verwandlungsmächte entfesseln, um daran eigene Formen und Fassung und […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 4192
Weißenbruch, Christian: Psychologische Untersuchung zum Erleben von Atomenergie:
(Interviews sind aus datenschutzrechtlichen Gründen herausgenommen) / Christian
Weißenbruch - Hamburg: Diplomica GmbH, 2001
Zugl.: Köln, Universität, Diplom, 2000
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1
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung...2
2. Psychologische Literatur zum Thema Atomenergie...6
3. Theorie und Methode...16
4. Vereinheitlichende Beschreibung...30
Hauptbild: Verloren im diffusen Nebel des bedrohlichen Unbestimmten
Zug 1: Stillstand im unheimlichen Nirgendwo
Zug 2: Im Sog der dunklen Mächte und auf der Suche nach Schuldigen
Zug 3: Der Drache erwacht
Zug 4: Eigene Schuld und Selbsterfahrung des modernen Prometheus
Nebenbild: Die Bombe zünden und alles verwandeln...60
Zug 1: Exorbitanter Größenwahn
Zug 2: Existenzielle Demut
Zug 3: Reset und kreative Neuordnung
5. Psychologisierende Fragestellung...73
6. Konstruktion...83
7. Typisierung...92
Gar nicht erst hinsehen: Entschiedenes Begrenzen von Verwandlung
Das Duell mit dem Atom: Die gezügelte Verwandlung als kräftemessender Selbstbeweis
Die Atom-Satire: Distanzierte (Ent-)fesselungsspiele
Energiewende-Utopie: allmähliche Entfesselung wohlüberlegter Verwandlungen
Katastrophensehnsucht und Revolutionsdrang: Verzweifeltes Entfesseln
8. Zusammenfassung...104
9. Schlußbetrachtung...105
Literaturverzeichnis...108
Überblick über die Interviews...110

2
Kapitel 1: Einleitung
Die Atomkraft hat alles verändert, außer unsere Art zu denken.
So treiben wir in eine beispiellose Katastrophe. Wir benötigen
eine grundsätzlich neue Art zu denken, wenn die Menschheit
überleben soll.
Albert Einstein (1953): Mein Weltbild. Zürich.
Für Albert Einstein, den genialen Physiker, der mit der Relativitätstheorie die
Grundlagen für die Entwicklung der Atomenergie entwickelt hatte, war das Verhältnis
zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft eine untrennbare Einheit. Es gibt
eine Fülle von Schriften, in denen er sich mit den gesellschaftlichen, ethischen,
psychologischen und religiösen Bedingungen und Konsequenzen wissenschaftlichen
Forschens beschäftigt. In dem oben genannten Zitat drückt sich ein Kernproblem aus,
das am Phänomen der Atomenergie eine besonders zugespitzte Form erfährt: Inwieweit
ist der Mensch seelisch in der Lage, seine naturwissenschaftlichen und technischen
Fähigkeiten zu verkraften und verantwortungsvoll damit umzugehen ?
Im Rückblick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts kann man Einsteins Aussage zur
historischen Bedeutung des Phänomens Atomenergie durchaus zustimmen: Seitdem
Otto Hahn im Jahre 1938 die erste Atomspaltung durchgeführt hat, war die
Atomenergie verantwortlich für die ebenso plötzliche wie grausame Beendigung des 2.
Weltkrieges, für den kalten Krieg und in ihm erlebte Weltuntergangsängste, für große
Schäden an Umwelt und Strahlenverseuchungen an Menschen durch Atomtests und für
eine der größten Umweltkatastrophen der Geschichte. Hiroshima, Kuba-Krise, Bikini-
Atoll und Tschernobyl sind Schlagworte, die in jedem geschichtlichen Rückblick einen
bedeutenden Raum einnehmen; aber die Atomenergie hat auch die technischen
Möglichkeiten des Menschens enorm erweitert - in Form von Energieproduktionen in
scheinbar unbegrenztem Ausmaß, die eine Schonung fossiler Brennstoffe erlauben.
Albert Einstein behauptet nun, dass der Geisteszustand des Menschen sich nicht an
diesen Sprung in der naturwissenschaftlich-technischen Entwicklung angepaßt hat. Die
Veränderungen, die durch die Atomenergie bewirkt wurden, sind zu groß, als dass der
Mensch damit umgehen könnte. Was er fordert ist eine ,,neue Art des Denkens". Auf
irgendeine Weise soll der Mensch sich seelisch verändern, auf dass er eine
,,Katastrophe" abwenden vermag.

3
Diese Aussage Einsteins wirft einige interessante psychologische Fragen auf: Wie ist
die `alte Art des Denkens´ beschaffen und worin besteht da eine Überforderung ? Vor
allem: Wird Einsteins Behauptung dem Erleben der Menschen überhaupt gerecht ?
Empfindet sich der Durchschnittsbürger dem Phänomen Atomenergie ausgeliefert und
sieht auch er, der keinen unmittelbaren Kontakt zum Atom hat, weil er keinen
Nobelpreis in Physik und keine Verfügungsgewalt über Atombomben sein eigen nennt,
die Notwendigkeit eines radikalen Umdenkens, damit ,,die Menschheit überleben" kann
? ­ Kurz gesagt: Wie ist denn die ,,Art des Denkens" im Zusammenhang mit der
Atomenergie überhaupt beschaffen ?
In der vorliegenden Arbeit soll es nun darum gehen, diese Frage zu beantworten, indem
ein Einblick vorgenommen wird in die seelischen Strukturen und Phänomene, die mit
der Atomenergie im Zusammenhang stehen. Was geht im seelischen Erleben vor, wenn
es mit dem Phänomen konfrontiert wird ? Woran denkt man ? Welche Erinnerungen,
Meinungen, Geschichten, Hoffnungen und Ängste werden da zum Leben erweckt und
wie lassen sie sich sinnvoll auf dahinter liegende und verbindende seelische
Grundmuster analysieren und deuten. Die Grundlage für die Untersuchung bilden 10
Tiefeninterviews, die zum Thema durchgeführt werden. Wichtig festzuhalten ist aber an
dieser Stelle: Die Fragestellung der Untersuchung ist offen und orientiert sich nicht an
der Überprüfung einer Hypothese. Die oben zitierte Behauptung Einsteins gab einen
Hinweis auf die Bedeutung des Phänomens der Atomenergie, soll aber nicht als zu
überprüfende These verstanden werden. Diese Untersuchung geht einen Schritt zurück
und hinterfragt die Prämissen der Einstein´schen Behauptung grundsätzlich: Was
bewegt das Seelische, wenn es sich mit dem Atom auseinandersetzt und welche
Qualitäten hat dieses Erleben ? Gibt es da eine spezielle ,,Art des Denkens" ?
Zunächst soll hier einleitend eine Art Standortbestimmung vorgenommen werden:
Welchen Stellenwert hat das Thema in der Gegenwartskultur und wo begegnet es uns
im Alltag der Bundesrepublik Deutschland ?
Die Anti-Atomkraftbewegungen, die in den siebziger und achtziger Jahren noch die
täglichen Nachrichten mitbestimmten, verloren in den neunziger Jahren an Bedeutung.
Demonstrationen und Auseinandersetzungen zwischen Atomkraftgegnern und
Polizisten standen nicht mehr auf der Tagesordnung. Das Thema erlangte aber wieder

4
eine Aktualität, als im September 1998 die Koalition aus SPD und Die Grünen als
Bundesregierung gewählt wurde und den Ausstieg aus der Atomenergie im
Regierungsprogramm hatte. Seitdem gibt es eine Auseinandersetzung zwischen der
Regierung und der Energiewirtschaft und innerhalb der Regierung hinsichtlich Faktoren
wie Restlaufzeiten, Entsorgung, Wiederaufbereitung und Entschädigungen. Diese
Auseinandersetzung ist in den Medien in den letzten zwei Jahren sehr regelmäßig
vermittelt worden. Wie einen Fortsetzungsroman konnte man die Verhandlungen und
die Begleitumstände verfolgen. Im folgenden seien einige Schlagzeilen zitiert, die einen
Einblick in die Art und Weise der Vermittlung geben können: ,,Notopfer für den
Atomausstieg" (NRZ 22.11.1998), ,,Unnachgiebige Härte" (Der Spiegel 11/1998), ,,Der
Rot-Grüne Atomkrieg" (Spiegel-Titel 25.11.1999), ,,Trittin: Ich bin da störrisch"
(Spiegel 12.12.1998), ,,Böses Spiel" (Die Welt 13.1.1999), ,,Schröder will Atomstreit
entschärfen" (RP 20.1.1999), ,,Trügerische Drohkulisse", ,,Der Castor zwickt die
Grünen", ,,Wir haben keinen Spielraum mehr" (Spiegel 25.1.1999), ,,Trittins teure
Tritte" (NRZ 23.1.1999), ,,Frankreich kämpft gegen Trittins Ausstiegs-Pläne" (RP
23.3.1999), ,,Grüne erklären Atomkrieg" (taz 20.10.1999), ,,Strom-Manager drohen mit
Ende" (RP 25.11.1999), ,,Bin ich der bad guy ?" (Spiegel 30.11.1999), ,,Atomwirtschaft
droht mit Verfassungsklage" (RP 13.11.1998). ,,Zoff um den Bombenstoff" (Der
Spiegel 2.11.1998), ,,Jetzt geht es der Kernenergie an den Kragen" (RP 15.12.1998),
,,Spaltpilz Atompolitik" (NRZ 5.5.1999), ,,Zum Konsens verdammt" (Der Spiegel
22.11.1999). ­ Schon an der Betrachtung dieser Schlagzeilen, insbesondere aber bei der
Lektüre der Artikel gewinnt man den Eindruck, dass es in der Berichterstattung zum
Thema Besonderheiten gibt: Das Vokabular erinnert an Kriegsbeschreibungen und
teilweise an Comics (,,Zoff", ,,Bad Guy"). Der Atomkonflikt scheint die üblichen
Grenzen der Streitkultur zu sprengen, wenn es einerseits brutal und kriegerisch zugeht
und andererseits zynisch und satirisch. Ständig geht es in der Berichterstattung um die
Ausstiegsverhandlungen um ein verkrampftes Zusammenfinden und ein oft sofort
anschließendes Auseinander-Sprengen und Alles-wieder-Umwerfen. Mit großer
sprachlicher Experimentierfreudigkeit hat die mediale Behandlung der Atomenergie
also den Hang dazu, die explosible Qualitäten des Phänomens zu übernehmen.
Ein weiterer Anhaltspunkt zur Standortbestimmung des Themas sind
Meinungsumfragen. Hier offenbaren sich interessante Widersprüchlichkeiten. So stellt
eine Erhebung des Instituts für praxisorientierte Sozialforschung (ipos) in Mannheim
vom Oktober 1999 heraus, dass 77 % aller Befragten einen Verbleib in der Kernenergie

5
befürworten, während es 1997 nur 70 % waren. Dieser Behauptung entsprechen die
Forderungen eines Initiativkreises von 570 Professoren verschiedener Fachrichtungen,
welcher am 29.9.1999 die Bundesregierung dazu aufgefordert hat, den Atomausstieg
rückgängig zu machem, da der größte Teil der Bevölkerung mittlerweile für eine
Nutzung der Atomenergie sei und die Technik in puncto Sicherheit enorme Fortschritte
gemacht habe. (Information aus: ,,Atomenergie neu bewerten", RP vom 30.9.1999).
Dem gegenüber aber steht z.B. eine Umfrage des Institutes emnid, die zur
Jahrtausenwende nach den größten Ängsten für die Zukunft fragte. Hier rangiert der
Atomkrieg auf Platz 1 (49 %) und das Reaktorunglück auf Platz 4 (35 %).
Ein interessantes Phänomen bei der fiktionalen Auseinandersetzung mit dem Thema ist
die wachsende Popularität von Atomterrorismus als Stoff für Spielfilme im Verlauf der
neunziger Jahre. Während die Actionhelden der siebziger und achtziger Jahre es noch
vor allem mit Drogenmafia und kaltem Krieg zu tun hatten, scheint die Möglichkeit,
dass z.B. islamische Terroristen Atombomben aus ehemaligen russischen Beständen
stehlen, um damit Terroranschläge zu verüben ein willkommenes neues Feindbild nach
dem Zusammenbruch des Kommunismus zu sein. So werden in Hollywoodfilmen
überaus häufig Bomben gezündet oder in letzter Sekunde entschärft. Als Beispiele seien
der Schwarzenegger-Film ,,True Lies" (USA 1994), die Spielberg-Produktion ,,Projekt
Peacemaker" (1997), oder der James-Bond-Film ,,Die Welt ist nicht genug" (GB 1999)
genannt. Interessant erscheint hier vor allem der kommerzielle Erfolg, der dem Thema
Atomterrorismus beschieden ist.
Die Behandlung des Themas Atomenergie in den Medien und quantitative
Meinungsumfragen lassen also vermuten, dass das Phänomen auf einer sehr bewegte
Weise sehr stark polarisierende und zum Teil widersprüchliche seelische Bewegungen
evoziert. Aufgabe der vorliegenden Arbeit soll es sein, eine Struktur innerhalb dieser
Bewegungen aufzuspüren. Bevor dies in Kapitel 4 bis 7 anhand einer Analyse der
durchgeführten Interviews geschehen soll, wird in Kapitel 2 ein Überblick über
bisherige wissenschaftliche Untersuchungen und in Kapitel 3 ein Einblick in die
verwendete Methode der psychologischen Morphologie gegeben.

6
Kapitel 2: Psychologische Literatur zum Thema Atomenergie
In den letzten 50 Jahren entstand eine Fülle von Literatur, die sich mit den politischen,
geschichtlichen und natürlich auch mit den physikalischen Aspekten der Atomenergie
beschäftigt. Der Anbruch des `Atomzeitalters´ in der Mitte des Jahrhunderts führte
schon früh zu der Tendenz, über die unerwartet plötzlich hereingebrochene Befähigung,
so gewaltige Energiemengen zu entfesseln, zu reflektieren und das Neuartige in
geschichtliche, politische und philosophische Weltbilder einzuordnen. Insbesondere die
verantwortlichen Wissenschaftler wie Einstein, Oppenheimer und Hahn verfaßten in
den Nachkriegsjahren zahlreiche Schriften, in denen sie Politiker und die gesamte
Menschheit zu einem verantwortungsvollen Umgang mit den neuen Möglichkeiten
ermahnten. Auf der anderen Seite schlug sich auch schon früh die Euphorie nieder, und
zwar in schriftlichen Forderungen nach einer zügigen Weiterentwicklung. Diese
Debatten blieben bis in die späten 80er Jahre hinein ein Politikum, das sich auch in der
Literatur ausdrückte. So entstanden Titel wie Von Dahlem nach Hiroshima ­ Die
Geschichte der Atombombe (Auer 1995), Die Atomkraft ist die Auslöschung der Zukunft
(Anders 1986), Wie die Wissenschaft ihre Unschuld verlor (Hermann 1980) oder Atom,
Symbolik und Bewußtsein ­ Geistige Ansteckung oder Risikobewußtsein ? (Pretre
1980). In solchen Werken geht es um konfliktträchtige Fragen wie die, ob die atomare
Abschreckung Kriege verhindern kann, ob der Mensch der Verantwortung einer so
großen Energiequelle gewachsen ist und immer wieder auch im politischen und
technischen Sinne um das Problem, ob die Gefahren der friedlichen Nutzung der
Atomenergie kontrollierbar sind oder nicht. Bei der quantitativen Betrachtung von
Buchtiteln ist erkennbar, dass solche Literatur nach der Reaktorkatastrophe von
Tschernobyl im April 1986 enorm zugenommen hat. Zusätzlich zu den politischen
Schriften finden sich für diese Zeit auch viele konkrete Ratgeber mit Titeln wie Die
Strahlenschutzfibel (Aigner et al. 1986).
An dieser Fülle wird deutlich, dass Atomenergie sich nicht nur hinsichtlich der
technischen Komplexität von anderen wissenschaftlichen Fortschritten unterscheidet.
Das Phänomen polarisierte von Anfang an und schien aufgrund seiner Tragweite eine
Einordnung in gesamtgesellschaftliche Normen und Werte zu verlangen.
Dieser Tendenz entsprechen die vielen Meinungsumfragen zum Thema, die bis heute ­
insbesondere im Zuge der Atom-Ausstiegsdebatte in der BRD - fortgeführt werden, und

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die weiterhin regelmäßige Präsenz des Themas in den Medien (Siehe Einleitung).
Zudem lassen sich im Internet einige Homepages von Institutionen finden, die sich mit
der Atomenergie auseinandersetzen und meistens eine deutliche Position `dafür oder
dagegen´ einnehmen, so z.B. Die Schweizer Vereinigung für Atomenergie (SVA), das
Deutsche Atomforum oder die Ärzte gegen die Atomenergie (IPPNW).
Die explizit psychologische Beschäftigung mit dem Thema nimmt hingegen sehr wenig
Raum ein. Obwohl das Thema sehr ausgiebig mit moralischen und weltbildlichen
Blickwinkeln betrachtet wird, finden sich wenig Titel, die diese Perspektiven auf ihre
psychologischen Durchgliederungen hin befragen. Es finden sich Titel, die sich mit
Ängsten im Zusammenhang mit atomaren Kriegsgefahren beschäftigen, so z.B. Zur
Psychoanalyse der nuklearen Bedrohung (Nedelmann 1985), Nukleare Bedrohung.
Psychologische Dimensionen atomarer Katastrophen (Thompson 1986) oder Die Angst
unserer Kinder im Atomzeitalter (Biermann und Biermann 1988). Letzterem Titel sei im
folgenden etwas mehr Aufmerksamkeit gewidmet, da er sich auf eine sehr umfangreiche
quantitative Studie bezieht und in seiner Fragestellung der vorliegenden Untersuchung
verwandt ist, da sich das Augenmerk hier ebenfalls auf das unmittelbare Erleben des
Phänomens Atomenergie richtet.
Renate und Gerd Biermann sehen die Notwendigkeit ihrer Studie in der Forderung, dass
eine ,,politische und psychologische Wende" nötig sei. ,,Die Wolke aus der Ukraine hat
gezeigt, dass wir alle in einem Boot sitzen" (Biermann/Biermann 1988, S. 7.). In der
Studie wurden insgesamt 4214 Jugendliche in 17 Ländern Europas mittels Fragebögen
befragt. Diese Fragebögen enthielten Items wie ,,Glaubst Du, dass es nach einem
Atomkrieg Überlebende gibt ?" oder ,,Bist Du der Meinung, dass Du von Lehrern und
Eltern ausreichend über die Gefahren der Atomenergie aufgeklärt wirst?" (Ebd.). Bei
den Datenerhebungen stießen die Untersucher auf Widerstände bei Lehrern und
sonstigen Multiplikatoren, von denen man sich eigentlich Kooperation erhofft hatte.
Biermann/Biermann interpretieren diese Widerstände als Ausdrucksformen einer
unvollkommenen Vergangenheitsbewältigung und als eine Unfähigkeit der
Erwachsenen, sich mit den moralischen und psychologischen Dimensionen des Themas
auseinanderzusetzen ­ bedingt durch mangelnde Aufklärung und durch die ,,Hektik
einer sich übersteigernden Entwicklung unserer technisierten Welt" (Ebd., S. 9.).

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Die Studie führte zu folgenden unmittelbaren Ergebnissen: Kinder und Jugendliche
fühlen sich mit ihrer Bitte um Rat und Aufklärung im Stich gelassen, während
gleichzeitig Ängste durch Massenmedien verstärkt werden, die regelmäßig Bilder voller
zerstörerischer Aggressionen liefern. Außerdem denken sie, dass Unfälle schon lange
verheimlicht werden, sowohl in Rußland als auch in Deutschland, und dass ein
Atomkrieg durch einen Computerfehler ausgelöst werden könnte. Ein solcher Krieg
wird von den meisten als nicht überlebbar eingeschätzt.
Biermann/Biermann kommen dann zu folgenden Schlußfolgerungen und Forderungen:
Die Kinder- und Jugendfeindlichkeit der Gesellschaft drückt sich in unzureichender
Aufklärung aus und läßt Kinder somit frühzeitig heimatlos werden. Ängstlich-
aggressives Verhalten bei Kinder ist somit fast schon der Normalfall.
Um diese Gefühle qualitativ zu erfassen, ließen die Untersucher zusätzlich Bilder malen
zum Thema Atom. Ein Bild, gemalt von einem neunjährigen Jungen, stellt ihn selbst in
seinem Bett dar, das rundherum von einem dunklen Schwarz umgeben ist: ,,Ich
träumte, die Erde tut sich auf und die Mutter fällt hinein, tot" (Ebd., S. 126.). ­
Biermann/Biermann sehen in diesen Ängsten der Kinder und Jugendlichen eine
Gefühlslage, die sich im Erwachsenenalter fortsetzt und sich dort als eine
Handlungsunfähigkeit und eine Verdrängung der Gefahren zeigt. Sie sprechen von einer
,,Generation politischer Jasager" (Ebd., S. 128.) führen gleichsam aber den
Geburtenrückgang in der BRD in den 80ern auf die unbewußten oder bewußten Ängste
vor strahlenverseuchten Kindern nach Tschernobyl zurück. Die große Gefahr dieser
Entwicklung sehen sie daran, dass eine resignierte Endzeitstimmung bei Kindern in
Folge mangelnder Aufklärung sie später kritiklos der Stimme von Verführern folgen
läßt, als ,,willige Opfer in den Händen von Machthabern" (Ebd.). Die zentrale
Forderung der Studie ist damit die nach einer intensiven Friedensarbeit im Alltag, die
mit Aufklärung über die Gefahren der Atomenergie und auch mit einer Verbannung von
Kriegsspielzeug und Kriegsfilmen einhergehen muß. ,,Welche Überlebenschancen
haben wir ? Weizenbaum, der Computerwissenschaftler, gibt den Menschen noch 20
Jahre bis zur Endzeitkatastrophe. Tschernobyl und die Blindheit der Politiker scheinen
diesen Termin näher rücken zu lassen. Sehen Jugendliche noch die Möglichkeit eines
lebenswerten Lebens? Nach unseren Untersuchungen nur bedingt, und das in allen
Ländern" (Ebd.).

9
Das zuletzt genannte Zitat bringt noch einmal auf den Punkt, dass die Studie zwar nach
dem Erleben im Zusammenhang mit dem Atom fragt, sich aber hierbei auf die
quantitative Ausprägung von Ängsten und auf die Inhalte der mit diesen
einhergehenden Angstvorstellungen beschränkt. Es geht hier also um eine sehr
spezifische erziehungspsychologische Fragestellung. Im Sinne einer Bestandsaufnahme
von pädagogischen Defiziten und Aufklärungsnotwendigkeiten ist das oben
beschriebene Vorgehen sicherlich sehr sinnvoll, ein Einblick in die komplexen
tiefenpsychologischen Strukturen, die mit dem Erleben der Atomenergie einhergehen,
werden damit aber nicht erzielt. So greift es sicherlich zu kurz, das Atom-Erleben der
Erwachsenen im Rückgriff auf die Ergebnisse mit Kindern und Jugendlichen als
Handlungsunfähigkeit infolge von mangelnder Aufklärung und verdrängten Gefahren
zu betrachten.
Weitere psychologische Literatur, die sich auf eine bestimmte funktionale Fragestellung
beschränkt, findet sich im Bereich der ABO-Psychologie. Hier finden sich ­ vor allem
über die Internetforen zur Förderung der Atomenergie - einige wenige Titel, die die
besonderen menschlichen Belastungen und Arbeitsanforderungen beschreiben, die im
konkreten Umgang mit der Atomenergie auftreten, so z.B. Der menschliche Faktor im
Kernkraftwerk-Betrieb (1986), herausgegeben von der Schweizer Vereinigung für
Atomenergie (SVA).
Anhand dieses Überblickes läßt sich bereits vermuten: Atomenergie bedarf besonderer
psychologischer Betreuung, sowohl im Bereich pädagogischer Aufklärung als auch im
Bereich betrieblicher Arbeitsfelder. Das Phänomen präsentiert sich also als etwas, dem
das menschliche Fassungsvermögen von Natur aus nicht gewachsen zu sein scheint, so
dass spezielle und zu erarbeitende Umgangsformen nötig werden. Dieser Eindruck
anhand eines Literaturüberblicks findet eine Bestätigung in zwei psycho-
morphologischen Studien, die den Umgang mit Radioaktivität nach der
Reaktorkatastrophe von Tschernobyl untersucht haben: Untersuchungen über Formen
der Bewältigung des Problems der Radioaktivität (Novy 1987) und Das obskure Objekt
der Beunruhigung (Salber, L. 1986). Im folgenden sollen die Ergebnisse dieser Studien
im Überblick wiedergegeben werden.

10
Linde Salber betrachtet die Katastrophe von Tschernobyl als ein Synonym für einen
,,unsichtbaren Angriff", der seelische Schwachstellen in den Blick gerückt hat. Das
Ereignis wird als ,,Katastrophe des Menschlichen" erlebt (Salber, L. 1986, S. 5.): Etwas
Nicht-Kalkulierbares und Nicht-Sichtbares tritt zum esten Mal ins Leben und kann die
erarbeitete Lebenssicherung jederzeit unterlaufen. In diesem Moment werden
Bewältigungsstrategien entwickelt, die unvollkommen bleiben. Salber führte eine
Studie mit Tiefeninterviews durch, in denen Geschichten von einem beklagten
Opfersein, aber auch von beschworener Unverletzlichkeit erzählt wurden. Da gab es
einerseits eine aggressive Gegenwehr gegen das Phänomen, andererseits einen
zynischen Fatalismus. In dem Erlebten zeigte sich ein beunruhigendes Verhältnis von
Sichtbarem und Unsichtbarem und von Nähe und Ferne: Strahlung ist einem einerseits
so unfaßbar und seelisch so fern, kann aber gleichzeitig überall hineindringen und alles
unterwandern. Mitten im Alltag ist der Tod, wenn das Seelische mit etwas völlig
Ungreifbarem konfrontiert wird: ,,Aber man möchte doch genau wissen, worin die
Gefahr liegt" (Ebd., S. 8.). ­ In diesem Zusammenhang werden verschiedene
Sinnkonstruktionen deutlich, die das Problem zu fassen versuchen:
Vermeidungskonstruktionen (Man legt sich vernünftige Verhaltensregeln auf, um der
Radioaktivität aus dem Weg zu gehen.), Strafgerichtkonstruktionen (Die Menschheit
wird für ihren Hochmut bestraft.), Hallo-wach-Konstruktionen (Die Katastrophe stellt
ein Maß wieder her und läßt wieder vernünftig werden.) und Pannenkonstruktion
(Pannen gehören zur Technik eben dazu.). Am Ende bleiben alle diese Lösungen
unvollkommen, weil man sie nicht bewußt kontrollieren kann. Die normale
Bewältigungsmethoden versagen: ,,Du siehst nicht, was geschieht und weißt auch nicht,
wann es geschieht." - ,,Was sieht und weiß man schon von dem, was uns bestimmt ?
Was weiß man von all den verborgenen Wirksamkeiten unserer eigenen
Lebensgeschichte, die meine jeweilige Stimmung mitformen ?" (zitierte Interviews in:
ebd., S. 9.). Eine weitere Strategie ist die Verdinglichung des Ereignisses Tschernobyl:
Man versucht, sich die Strahlen als etwas Materielles vorzustellen: Da gibt es das
,,Mostrich-Modell", das sich Radioaktivität als etwas Klebriges vorstellt, das sich auf
alles niederlegt, und da gibt es das Durchlöcherungsmodell, das sich radioaktive
Strahlen wie Laserstrahlen vorstellt, die durch alles hindurchgehen. Auch diese
Verdinglichungen aber weisen in ihrer Unvollkommenheit letztlich auf nicht-lösbare
seelische Grundprobleme hin: Schwer zu verkraften für das Seelische ist die
,,Verkehrbarkeit des für sicher Gehaltenen": ,,Was wir zu beherrschen glaubten,

11
beherrscht plötzlich uns" (Ebd., S. 10.). ­ Salber stellt dann schließlich ein allen
Bewältigungsstrategien gemeinsames Prinzip heraus: Man versucht, das eigene
Seelische genauso mechanistisch-reparierbar in den Griff zu bekommen, wie man die
technische und greifbare Welt in den Griff bekommen will. Das Seelische muß sich den
technischen Verhältnissen anpassen und irgendwie mit ihnen fertigwerden. ,,Wenn
etwas über unsere Kräfte geht, dann sind wir nur in Panik geraten, hysterisch oder
neurotisch geworden, seelenkrank ­ und dann muß nicht etwa das Ganze unserer
Lebenswelt betrachtet und umgestaltet werden, sondern nur das Seelenleben. Man
spaltet die Wirklichkeit auf in eine reparierbare Technik einerseits und ein nach diesem
Muster zugeschnittenes, ebenfalls reparierbares Seelenleben andererseits. So wird der
Tod zu einem Phänomen heruntergemendelt, das eigentlich nicht in unsere Lebenswelt
gehört, sondern nur Anlaß ist für weitere Forschung, wie er zu vermeiden sei. Der Tod
verkommt zu einer bloß-technischen Panne" (Ebd., S. 12.). Salber beklagt, dass
seelische Bewältigungsmuster in der Konfrontation mit Unvertrautem und obskuren und
unfaßbaren Beunruhigungen sich hartnäckig am Umgang mit der technisch-dinglichen
Realität orientieren anstatt der Komplexität seelischen Geschehens gerecht zu werden.
So operiert man mit einer Aufspaltung in einen ,,technischen Außenteil und einen
seelischen Innenteil nach gleichem Muster" (Ebd.). Immer wieder wird so versucht, die
eigenen Beunruhigungen mit vertrauten Bildgeschichten faßbar zu machen, die dem
technischen kausalistisch-kontrollierbaren Denken nach wie vor verhaftet sind: ,,Dabei
treffen wir Vorkehrungen, die in einer auszubessernden Außenwelt der davon
abgespaltenen seelischen Innenwelt ein Muster der vermeintlich richtigen Behandlung
unter der Devise des unbegrenzten Fortschritts vorgaukelt" (Ebd., S. 12.). Salber fordert
hier ein Umdenken im Sinne einer Akzeptanz ganzheitlicher Verhältnisse und
Zusammenhänge: ,,Das Seelische existiert nicht neben einer dinglichen Realität,
sondern als Weise des Umgangs mit ihr" (Ebd., S. 11.).
Die Diplomarbeit von Mark Novy (1987) knüpft an die von Salber herausgestellten
unvollkommenen Bewältigungsmuster an und nimmt eine weitere Differenzierung vor:
Im ständigen Fassen-Wollen verliert man zunehmends die eigene Fassung. Der Versuch
des Halt-Gewinnens gerät immer wieder neu in Gang angesichts eines bedrohlich
erscheinenden Neuen. Alle Wirksamkeiten bleiben ohne erkennbare Gestalt: ,,Die
Fähigkeiten, das Gestaltlose zu organisieren und zu strukturieren, sind stark beschränkt
bzw. drehen sich in Kreisen, die aktive Veränderungen der Situation ausschließen"

12
(Novy 1987, S. 56.). Das Seelische erlebt das Problem mangelnder
Einwirkungsmöglichkeiten. So beschreibt Novy die fortwährenden Bemühungen, das
Ungreifbare der Radioaktivität einerseits durch Verdinglichungen als abzuwaschendem
Schmutz oder in Form von Einordnungen in naturwissenschaftliche Systeme,
andererseits durch ein radikales Leugnen der Gefahren in den Griff zu bekommen.
Diese nie perfekten Bemühungen verweisen auf ein Mißverhältnis zwischen
technischen und seelischem Fortschritt. Der Mensch fühlt sich eingeschüchtert durch
den eigenen technischen Fortschritt. ,,Sichtbar wird, dass technische Entwicklungen
dem Seelischen vorausgeeilt sind, dass Produkte in die Welt gesetzt wurden, für die uns
seelische Nachbildungsmöglichkeiten (noch?) fehlen" (Ebd., S. 56.). Wie auch Linde
Salber stellt Mark Novy also letztlich heraus, dass Seelisches nicht mithalten kann mit
den technischen Fähigkeiten des Menschen und zitiert in diesem Zusammenhang
Günther Anders: ,,Wir sind uns selbst nicht mehr gewachsen. Wir können mehr
herstellen und anstellen, als wir uns vorstellen können" (Ebd.).
Die betrachteten psycho-morphologischen Studien stellen somit ein Prinzip heraus, dass
den Ansätzen der vorher erwähnten psychologischen Studien aus den Bereichen
Pädagogik und Arbeitspsychologie gemeinsam zu sein scheint: Die Atomenergie
konfrontiert das Seelische mit der als problematisch erlebten Notwendigkeit, neue
Bewältigungsmuster zu entwickeln, da das komplexe Ungreifbare mit den bestehenden
Strategien nicht in den Griff bekommen werden kann, was im Falle der Kinder und
Jugendlichen zu Ängsten und Orientierungslosigkeiten führt (Biermann 1988) und am
Umgang mit der Radioaktivität nach Tschernobyl als ein hartnäckiges, aber immer
weiter beunruhigendes Festhalten an technisierenden Umgangsformen deutlich wurde
(Salber 1986).
Diese vergleichsweise jüngeren Studien beschäftigen sich also vor allem mit den
bedrohlichen Seiten der Atomenergie. Eine Untersuchung, die sich eingehender mit
eventuellen positiven Einstellungen zum Phänomen beschäftigt, ließ sich nicht finden,
obwohl quantitative Meinungsumfragen (Siehe Kapitel 1: Einleitung) und die Tatsache,
dass es ja auch Vereinigungen zur Förderung der Atomenergie gibt, darauf hinweisen,
dass auch Erwartungen und Faszinationen im Spiel sind, wenn es um Atomenergie geht.
Einen ersten interessanten Einblick in die Gleichzeitigkeit beider Seiten gewährt die
linguistische Studie Öffentlichkeit und Sprachwandel: Zur Geschichte des Diskurses
über die Atomenergie von Matthias Jung (1994). Diese Untersuchung analysiert den

13
Diskurs über die Atomenergie anhand des Sprachgebrauches im Verlauf des 20.
Jahrhunderts. Analysiert wurden hier alle Arten von offiziellen Dokumenten, aber auch
von Berichterstattungen in den Medien und literarische Publikationen. Besonderes
linguistisches Interesse lag auf dem alltäglichen Sprachgebrauch, um zu analysieren,
wie volkstümliche und wissenschaftliche Wortbildungen miteinander verknäult sind. Da
in dieser Studien deutlich wird, inwieweit Sprachverwendungen zu einem
aufschlußreichen Indikator für psychologische Phänomene werden können, sollen
einige Ergebnisse und Gedanken daraus im folgenden dargestellt werden.
Jung stellt heraus, dass die Debatte um die Kernenergie in der bundesdeutschen
Geschichte eine Sonderrolle gespielt hat, weil sie in den 70er Jahren zu einem Symbol
in der Auseinandersetzung um Wissenschaft, Technik, Mitbestimmung,
Wertorientierung und politisch-sozialem Weltbild generell geworden ist (Jung 1994, S.
14.). In dieser Zeit hat es eine Umorientierung gegeben, indem in der Öffentlichkeit
immer mehr die Gefahren der Atomenergie im Vordergrund standen und nicht vor allem
der technische Fortschritt. Die moderne Erschütterung der klassischen
Technikgläubigkeit bildete sich im Sprachgebrauch ab. So wurde in offiziellen
Dokumenten nach und nach die Vorsilbe ,,Atom" im Zusammenhang mit der friedlichen
Nutzung durch die Vorsilbe ,,Kern" ersetzt, um Assoziationen zu ,,Atombomben" und
,,Atomwaffen" zu vermeiden. Auch wenn in dieser Zeit eine Schwerpunktverlagerung
der konnotierten Wertungen zu beobachten ist, war doch die ,,Schizophrenie des
Wörtchens Atom" von Anfang an präsent: Apokalyptische Visionen entstanden schon
sofort in den Nachkriegsjahren: ,,Das Leiden japanischer Fischer, die 1954 außerhalb
der gesperrten Sicherheitszone in den amerikanischen Bomben-Fallout geraten waren,
Fotos von den Opfern atomarer Verstrahlung und Horrorfilme mit mutierten
Monsterinsekten lieferten die Bilder, die unmittelbar nach 1945 noch gefehlt hatten oder
unterdrückt worden waren" (Ebd., S. 43). Der Strahlentod wurde als ,,die weiße Pest"
bezeichnet und sprachliche Neubildungen wie ,,Atomtod", ,,Atomangst", ,,Atomkrieg"
und ,,Atommord" etablierten sich im alltäglichen Sprachgebrauch: So war es eine
populäre Drohung von Müttern an ungezogene Kinder, ,,dass Dich der Atom hole"
(Ebd., S. 44.). ,,Atomfrei" wurde zum Synonym für ,,ohne heikle Gesichtspunkte" und
,,Atomwetter" bezeichnete unregelmäßiges und unzeitgemäßes Wetter als Folge von
Atomtests, war aber auch ein Synonym für ,,dicke Luft" im Familienklima oder
Betriebsklima. Das ,,Atom" war somit einerseits die Bezeichnung für etwas extrem

14
Verabscheuungswürdiges aber auch für etwas ungemein Attraktives und mit
Geheimnissen Umwittertes: Es gab fanatische Anhänger der zivilen Atomenergie auch
in den Gewerkschaften und der SPD zur Zeit des Wirtschaftswunders. Hier wurde mit
voller Überzeugung und noch ohne Zweifel eine starke Trennung zwischen böser
militärischer Atomkraft und verheißungsvoller friedlicher Nutzung vollzogen. Ein
Sprachwechsel zur ,,Kernenergie" war in dieser frühen Phase noch nicht nötig. Diese
Aufspaltung in ,,gute" und ,,böse" Atomenergie zeigte sich an einfachen Wertbegriffen:
Konrad Adenauer war als Wiederbewaffner der ,,Atomkanzler" (negativ) und F.J.
Strauß als Bundesminister für Atomfragen der ,,Herr über das Atom" (positiv). In einer
Euphorie über die friedliche Nutzung der Atomenergie wurden sogar Vereinigungen
wie die ,,Atomenergie für den Frieden e.V." gegründet, ,,Atomfriedenspreise" verliehen
und Kinder ,,Atomfried" genannt (Ebd., S. 44.). Selbst Otto Hahn, der Entdecker der
Atomspaltung, der entschieden gegen eine nukleare Aufrüstung eintrat, sprach für die
friedliche Nutzung und schrieb ein Buch mit dem Titel Wir werden durch Atome leben
(1956). Jung sieht die Euphorie des Wirtschaftswunders somit in engem
Zusammenhang mit dem Atom: Ein SPD-Abgeordneter empfahl im Zusammenhang mit
der Atomenergie, die BRD schnellstens wissenschaftlich, technisch und kulturell
aufzurüsten (Ebd., S. 45.).
So wird eine extreme Ambivalenz in der Haltung zur Atomenergie am Sprachgebrauch
in der Nachkriegszeit deutlich: Einerseits ein Synonym für Superlative, so wie das Wort
,,Atomkanonier" einen Torschützenkönig bezeichnet oder eine Rosensorte
,,Atombombe" genannt wird, weil sie wie ein scharlachroter Glutball wirkt, ist das
Atom andererseits auch ein Bestandteil von freiwilligem oder unfreiwilligem makabren
Zynismus, wenn von ,,Atombabies" nach Hiroshima, vom ,,Wunder der Atombombe",
von der ,,Ultrawaffe" oder von der ,,Revolution des Krieges an sich" die Rede ist.
Schließlich entstand auch das neue klinische Bild der ,,Atompsychose", um die
psychischen Schäden der überlebenden japanischen Bombenopfer zu bezeichnen.
Eine Zuspitzung findet diese Ambivalenz im Wort ,,Bikini", das die ,,Erotik der
Atombombe" bezeichnet. Jung stellt dar, dass eine Verbindung von Atom und Eros von
Beginn an nahezuliegen schien, so dass z.B. die Hollywood-Schauspielerin Rita
Hayworth als ,,Atomkraftwerk der Erotik" bezeichnet wurde. ,,Atomdiva" war eine
Steigerung von ,,Sexbombe". Auch in den nachfolgenden Jahrzehnten kam es zu
Neologismen wie ,,Atomtitten" oder ,,Atompenis". Als die ersten Atomtests auf dem
Bikini-Atoll durchgeführt wurden, wurde ein gleichzeitig auf den Markt gekommener

15
Badeanzug als ,,Atombombe vom Typ Bikini" präsentiert: Der Badeanzug, so die
Werbung, übe eine ähnlich explosive Faszination auf das andere Geschlecht aus wie
eine Atombombe. Oder: Mit dem Typ Bikini kann man größte Ausstrahlung erzielen
(Ebd., S. 47). Die Tatsache, dass das Wort Bikini heute zu einem selbstverständlichen
Begriff für diesen Typ Badeanzug geworden ist, zeigt, dass diese Form der Werbung
wohl sehr erfolgreich war und dass die ,,Erotik der Atombombe" in irgendeiner Weise
eine seelische Wirksamkeit angesprochen haben muß.
Jung betont die Komplexität und Widersprüchlichkeit der ablaufenden Prozesse im
Zusammenhang mit dem sprachlichen Umgang mit der Atomenergie. Lineare Faktoren
und einfache Erklärungen lassen sich nicht ausmachen. Im Zusammenhang mit den
Darstellungen der oben beschriebenen psychologischen Untersuchungen wird deutlich,
wie diese Eigendynamik der Sprache ein Indikator ist für eine sehr komplexe
Eigendynamik kultureller und auch seelischer Phänomene. Auch Jung sieht die
Notwendigkeit einer In-Bezug-Setzung sprachlicher Formenbildungen und
Sprachverwendungen einerseits und kultureller Analysen andererseits: ,,Aus der
linguistisch-diskursgeschichtlichen Analyse gesellschaftlich relevanter Debatten
ergeben sich zwangsläufig detaillierte Hinweise zur sprachlichen Seite der öffentlichen
Kommunikation der Karriere bestimmter Themen...(...)...Über die speziell
sprachwissenschaftlich relevanten Ergebnisse hinaus kann die diskurshistorische
Analyse neue Akzente im Rahmen einer interdisziplinären Kultur- und
Gesellschaftsgeschichte setzen" (Ebd., S. 240.).
Die vorliegende Untersuchung versucht dieser Forderung dahingehend gerecht zu
werden, dass der Weg zu psychologischen und kulturellen Zusammenhängen über eine
kleinschrittige Analyse sprachlicher Konstruktionen und Werke in Form von erzählten
Geschichten und Standpunkten vorgenommen wird. Das folgende Kapitel stellt dar,
inwieweit die psychologische Morphologie in dieser Perspektive eine geeignete
Methode ist.

16
Kapitel 3: Theorie und Methode
Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.
(Kurt Lewin)
Jede wissenschaftliche Untersuchung orientiert sich an theoretischen Vorannahmen und
darauf aufbauenden methodischen Setzungen, die die Art und Weise vorgeben, mit der
man sich einem zu untersuchenden Gegenstand nähert. Die vorliegende Untersuchung
folgt dem Bezugssystem der psychologischen Morphologie, die seit den letzten vier
Jahrzehnten am Psychologischen Institut der Universität zu Köln von Professor Dr.
Wilhelm Salber und seinen Mitarbeitern entwickelt wurde und wird. Im folgenden
Kapitel sollen die Grundzüge der psychologischen Morphologie sowie einige für diese
Arbeit wichtige Verfahren und Prinzipien dargestellt werden.
Als Morphologie bezeichnet die lexikalische Definition die ,,Lehre von den Gestalten
und Formen" und die ,,1.) (Biologie) Wissenschaft von Bildung und Umbildung. ­ 2.)
(Geographie) Wissenschaft vom Formenreichtum der Erdoberfläche. ­ 3) (Linguistik)
Lehre von den Wortbildungen" (Brockhaus 1998). Morphologie beschäftigt sich somit
über verschiedene wissenschaftliche Disziplinen hinweg mit den ,,Gestalten" und
,,Formen" und deren Veränderungen. J.W. von Goethe gilt als Gründer der
wissenschaftlichen Morphologie, da er als erster versuchte, ,,seine
naturwissenschaftlichen Arbeiten auf den Gebieten der Botanik, der Knochenlehre, der
Farbenlehre u.a. in einer allgemeinen Morphologie zusammenzufassen, deren
Gestaltbegriff sich von der Tradition dadurch abhob, dass er Formen (...) als natürliche
Entwicklungsgebilde zwischen Gestalt und Verwandlung, Bildung und Umbildung
beschrieb" (Fitzek 1994, S. 8.). Die psychologische Morphologie entwickelte diesen
Ansatz zu einer Methode, mit der sich seelisches Geschehen bzw. psychologische
Phänomene beschreiben und erklären lassen. Seelische Gestalten sind die
,,Recheneinheiten" einer solchen Betrachtungsweise (Salber 1965), die sich als
entschieden und konsequent psychologisch betrachtet und auf alle methodischen
Anleihen aus anderen Disziplinen verzichtet. Es geht im wesentlichen also darum, ,,die
natürlichen Einheiten des Erlebens und Verhaltens als vorneherein gestalthaft
organisiert zu beschreiben und mit naturgemäßen ­ d.h. mit gestalthaften ­
psychologischen Kategorisierungen zu erfassen (Gestalten als erstes und letztes)"

17
(Fitzek 1994, S. 172.). Gestalten werden somit als umfassende Einheiten betrachtet, die
zum einen der Ausgangspunkt einer Untersuchung sind, zum anderen aber auch für die
Erklärung des Seelischen herangezogen werden. Gestalten sind der ,,Grundriß des
Seelischen" (Salber 1989, S. 63.). Gemäß dieser Vorannahme will die psychologische
Morphologie ,,erforschen, was das Seelische Schritt um Schritt zusammenhält und nach
welchen Ordnungen es sich weiterbewegt. Sie sucht das Produktionsgefüge zu erfassen,
das das Funktionieren des Seelischen trägt; eine morphologische Psychologie sucht
dabei vor allem die für uns bedeutsamen Gestalten der Verwandlung herauszuarbeiten,
die unser Tun und Lassen bestimmen" (Salber 1988, S.V.).
In den folgenden Ausführungen geht es zunächst darum, die Besonderheiten des
Gestaltbegriffes der psychologischen Morphologie differenzierter darzustellen, um
anschließend zu verdeutlichen, warum sich dieser Ansatz für die psychologische
Analyse der Phänomene in Alltag und Kultur besonders eignet. Abschließend werden
dann kurz die methodischen Abläufe und Instrumente erläutert, die in der Untersuchung
ihre Anwendung finden.
Grundansätze: Gestaltverwandlung und Bilderwelten
Mit der In-den-Blick-Nahme ganzheitlicher Zusammenhänge knüpft die
psychologische Morphologie an die Prämissen der klassischen Gestaltpsychologie an,
so wie sie von Ehrenfels, Wertheimer, Köhler u.a. entwickelt wurde. Phänomene des
Verhaltens und Erlebens werden nicht isoliert, sondern in ihrem komplexen
Zusammenhang betrachtet. Man wendet sich ab von Erklärungen anhand
mechanistischer Kategorien wie Emotion und Kognition. Eine Aufspaltung der
Wirklichkeit in statische Komponenten wird der Dynamik und der Komplexität der
seelischen Phänomene nicht gerecht. Als gestalthafte Prinzipien verwirklichen sich
seelische Zusammenhänge quer durch Gedanken, Gefühle und Dinge. ,,Statt von
vornherein auf Entitäten ­ wie Wille, Gefühl, Ich ­ zu achten, sollte die Vielfalt der
seelischen Bewegungen, ihre Widersprüchlichkeit und Ordnungen, in den Blick gerückt
und zugleich überschaubar gemacht werden" (Salber 1986, S. 7). ­ Statt der Analyse
vermeintlich elementarer Prozesse werden also seelische Formen als ganzheitliche
Phänomene innerhalb der Wirklichkeit betrachtet.

18
Die psychologische Morphologie geht sowohl über die o.g. lexikalische Definition von
,,Morphologie" als auch in einigen Punkten über den Gestaltbegriff der klassischen
Gestaltpsychologie hinaus.
Fitzek und Salber (1996) stellen drei Charakteristika des psycho-morphologischen
Gestaltbegriffes heraus: 1. Morphologie betrachtet Entwicklungsprozesse und betont
,,das Geschehen von Gestaltung/Umgestaltung; sie geht aus von Entwicklungen und
Metamorphosen." (Fitzek 1996, S. 112.). 2. Seelisches gestaltet sich als ein
spannungsvoller Produktionsprozeß: Erst in ,,Taten und Leiden" (Ebd.) bilden sich
seelische Gestalten heraus. ,,Wir sind im Alltag ständig dabei, etwas in Gang zu
bringen, passend zu machen, durchzuhalten, abzuschließen. Dabei wird Verschiedenes
und Widersprüchliches einzuordnen gesucht. Wir müssen mit dem zu Rande kommen,
was uns stört, hindert, dazwischenkommt. (...) Wir fühlen uns dabei betroffen, zu etwas
gedrängt ­ diese ganze Organisation ist dramatisch. Und von der Art und Weise, in der
wir sie ausgestalten können, hängt es ab, ob wir etwas als sinnvoll erleben oder nicht"
(Salber 1989, S. 225). Dieser Prozeß findet niemals einen völlig zufriedenstellenden
Abschluß. Was ungelöst bleibt, wird dann zum Antrieb für eine ständige Weiter-
Bewegung und für neue Umgestaltungen: 3. Der zentrale Begriff ist der der
,,Gestaltverwandlung", welche das bewegende Prinzip des Seelischen ist. Was sich
seelisch aktualisiert, ist immer unfertig und begrenzt und will doch trotzdem immer
nach einem ,,Mehr" streben und ,,alles" werden. Dieses grundlegende Paradox ist der
Motor für die immer fortlaufende Bildung und Umbildung von Gestalten und Werken.
Die Wirklichkeit bietet dem Seelischen eine Fülle vom möglichen
Gestaltverwandlungen an. Da sich stets mehrere und teils gegenläufige Bestrebungen
aktualisieren wollen, ist der seelische Entwicklungsprozeß sehr spannungsvoll und
bewegt und in keiner Weise harmonisch oder gradlinig. Verschiedene Bewegungen
greifen in einem ,,indem" ineinander (Salber 1969, S. 24.). Eine bestimmte
Ausdrucksbewegung kann sich für eine begrenzte Zeit dominant aktualisieren und muß
dann wieder in anderes übergehen. Dieses Miteinander, Ineinander und Gegeneinander
bringt ständig Konflikte und Zwickmühlen hervor, deren Überwindung fortlaufende
Gestaltverwandlungen bedeuten.
Ein weiterer zentraler Begriff der psychologischen Morphologie ist der der
,,Bilderwirklichkeit". Das oben beschriebene bewegte und spannungsgeladene

19
Geschehen soll mittels bildhafter Verhältnisse analysiert und greifbar gemacht werden.
Seelisches Geschehen gliedert sich anhand von Bildern, indem sich erlebte
Wirksamkeiten nach den Vorgaben eines Bildes richten. ,,Was aufeinander folgt in
unserem Tun und Lassen, folgt den Entwicklungen eines Bildes und seiner Verhältnisse.
Es wird bestimmt durch die großen Linien eines Bildes, durch seinen Rhythmus, seine
Polaritäten und Kontraste, durch seine Abwandlungen ­ durch die Metamorphosen
seiner Gestalt" (Salber 1993, S. 25.). Solche Bilder sind der verdichtende Ausdruck
einer seelischen Bewegung und geben Aufschluß über unbewußte Bestimmungen. So
lassen sich z.B. Soap-Operas mit der Funktion von Gebetsmühlen beschreiben (Domke
1999) oder bestimmte Formen des Fitneßkultes als Ablaßhandel (Miller 1997; beide
nach Fitzek (Hg.) 1999). In Analogien kann man sich somit dem Kern seelischer
Wirksamkeiten nähern. Der oben beschriebene Produktionsprozeß erfährt durch ein Bild
eine jeweilige Ausrichtung. Umgekehrt verleiht erst der Seelenbetrieb dem
`Bilderansturm´ eine lebbare Form bzw. Fassung: Das Bild aktualisiert sich in einem
spezifischen Werk als einem spezifischen Zusammenhang: ,,In der Auseinandersetzung
zwischen einer verfließenden Wirklichkeit und der Gestalt eines unbewußten
Seelenbetriebes entfaltet sich Seelisches als Produktion. Es ist ein Betrieb, der darauf
wartet, ein zusammenhängendes seelisches Gebilde in dieser Welt am Leben zu halten"
(Salber 1994 nach Fitzek/Salber 1996, S. 138.) - Eine ,,Psychologie in Bildern" (Salber
1983) betrachtet somit ,,banale wie kunstvolle Ausgestaltungen der Dramatik seelischer
Bilder" (Ebd., S.113.). - Die Analyse von Märchen und Metaphern wird deshalb häufig
in morphologischen Untersuchungen verwendet, um dem Bildhaften der seelischen
Wirklichkeit gerecht zu werden.
Entsprechend des fundamentalen Prinzips der Gestaltverwandlung werden diese
gelebten Bilder in ihrer Aktualisierung zugleich auch wieder Ausgangspunkt für
Verwandlungen: ,,Entscheidend dabei sind aber immer die Wucht und das Riskante der
Verwandlungen, die ein Bild eröffnen und entschließen" (Salber 1993, S. 25.). Ein Bild
verändert sich, tritt in Austausch mit anderen Bildern und eröffnet Verwandlungen und
Übergänge: ,,In dem Qualitätenreichtum der Wirklichkeit lebt die Sehnsucht nach
Verwandeln-Können und Verwandelt-Werden. Dem entsprechen die endlosen
Veränderungen in Soap-Opera-Serien von Armut zu Reichtum, von Liebe zu Haß, aus
Schmutzwelten zu Reinigungen, aus Schuld zur Erlösung, durch Tätigwerden zum Sieg,
durch Vision zu neuen Welten. In den Wünschen und Träumereien werden Lebens-
Bilder sichtbar ­ ihre Verhältnisse, ihre Bewegungen, ihr Getriebe. Was wirkt, hat mit

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diesen bewegenden Bildern zu tun. Die Welten des Besitzens und Aneignens, des
Rivalisierens, des Übertrumpfens, des Auskostens von Niederlagen, die idealen
Landschaften ­ das sind Bilder, die einen Wirkungszusammenhang durchgliedern und
organisieren" (Salber 1994 nach Fitzek/Salber 1996, S. 138.).
Die psychologische Morphologie beschäftigt sich vor allem mit den Phänomenen des
Alltags und der Kultur. Hier geht es um eine Analyse der Wirkungsmechanismen der
dramatischen Werke des Lebensalltags, die im untrennbaren Zusammenhang mit den
psychologischen Bedingungen von Kultur gesehen werden: ,,Als konkrete
Kulturpsychologie hat sie den Anspruch entwickelt, den Zusammenhang und das
Funktionieren der Kultur in konkreten Gegenständen des Alltags aufzusuchen,
umgekehrt den Alltag selbst jedoch als konkrete Kultivierung aufzufassen." (Fitzek
1999, S. 7.) ­ Kultur kommt im Alltag zum Ausdruck, indem bestimmte Alltagsformen
auf kulturelle Bilder (auch aus vergangenen Zeiten) zurückgreifen. Solche
Kultivierungsmuster, die an konkreten Alltagsphänomenen zum Ausdruck kommen,
erlauben Aussagen über den Zustand bzw. die dynamischen Verhältnisse einer Kultur,
lassen aber auch unbewußte Bestimmungen erkennen, die auf seelische
Grundverhältnisse zurückgehen, welche sich auch in anderen Phänomenen zeigen. Auf
diese Weise steht eine Kulturpsychologie auch in engem Zusammenhang mit den
anderen Fachbereichen psychologischen Forschens und Wirkens: ,,Dieses Programm
sucht die Morphologie wirksam zu machen für die Darstellung von Welten des
Seelischen ­ in Prozessen der Kultivierung, von Lebensgeschichten, von klinischer
Behandlung, von Medien und Kunst" (Fitzek/Salber 1996, S. 113.).
Der hier beschriebenen Perspektive liegt die Vorannahme zugrunde, dass Seelisches den
konkreten Alltag in all seinen Formen und Ausgestaltungen benötigt, um zum Ausdruck
zu kommen. Kultur und Alltag stehen in untrennbar wechselseitigem Verhältnis und
werden geprägt von seelischen Bildern und Gestaltverwandlungen: ,,Verwandlungs-
Wirklichkeit muß sich immer in konkreten Formen zum Ausdruck bringen ­ es geht
immer um Gestalten in Gestalten, um Alltag und Seelenmythen" (Fitzek 1996, S. 113).
Es geht also um wirkungspsychologische Zusammenhänge zwischen dem ,,Seelischen
und der Kultur (...), sowie (seiner) Vielfalt kultureller Formen." (Salber 1987, S. 42.).
Es geht um das ,,Allgemeine im Besonderen und das Besondere im Allgemeinen."
(Ebd., S. 48.).

21
Nötig wird hierfür ein distanzierter Blick auf Kultur: ,,Vielmehr wird eine richtig
betriebene Kulturpsychologie die Geschäfte des konkreten Lebensalltags gleichsam mit
`fremdem Blick´ mustern, mit dem Blick etwa, mit dem wir zeitlich und räumlich von
uns getrennten Kulturen begegnen, wenn sie uns plötzlich und unvorbereitet
gegenübertreten: den Kulturen unserer Vorfahren oder den Kulturen anderer Völker"
(Fitzek 1999, S. 26.). Auch im Alltag stößt man auf Unbekanntes, Seltsames und
scheinbar Widersprüchliches. Salber betont die Notwendigkeit, sich gerade auf diese
Seltsamkeiten der vermeintlichen Banalitäten einzulassen, wenn man
kulturpsychologische Aussagen treffen will. Er verdeutlicht diese Forderung an der
Charakterisierung des Seelischen als ,,Medienseele": ,,Was hat das Seelische davon,
dass es eine Medienseele ist ? Das Seelische sitzt nicht `sub-jektiv´ innen ­ es ist die
Welt und die Vielfalt ihrer verschiedenartigen und widersprüchlichen
Wirkungsqualitäten. Das Seelische lebt nur im Medium von Jeans, Marmelade, von
Geschichten und Mitmenschen, von Einrichtungen, von Fernseh-Dinosauriern. Es gibt
keine `Werte´, `Ideen´, `Höheres´ ohne dieses Medium; auch die Religion hat es mit
Essen, Trinken, Lieben, Haben, Tun oder Lassen" (Salber 1994, zitiert nach
Fitzek/Salber 1996, S. 137.).
Alle Erscheinungsformen des Alltags werden damit als dramatische und sinnvolle
Produktionen des Seelischen verstanden und erlauben Rückschlüsse auf die
Wirkungsgefüge im Zusammenhang mit seelischen Grundverhältnissen. Für die
vorliegende Untersuchung bedeutet dies, dass alle Phänomene Berücksichtigung finden,
die in den Explorationen mit der Atomenergie im Zusammenhang gebracht werden: Die
Kategorien werden aus den Phänomenen des Alltags selbst entwickelt. Es geht also
nicht um die Herausarbeitung elementarer psychologischer Faktoren, die einen
spezifisch kausalen Einfluß hätten auf z.B. politische Meinungsbildung oder Ängste im
Zusammenhang mit dem Atom. Stattdessen will herausgefunden werden, welche
grundsätzliche seelische Problematik sich in der Konfrontation mit der Atomenergie
zeigt und wie diese in Verbindung steht mit anderen Ausdrucksformen im konkreten
Alltag.
Gemäß der oben beschriebenen Bedeutung von Bildern betreibt die Morphologie auch
die Kulturpsychologie in Bildern: ,,Kulturpsychologie heißt zunächst, in den
Erscheinungen der menschlichen Lebenswelt wirksame und entwicklungsträchtige
Bilder zu entdecken. Wie aber sind diese Bilder verfaßt, wie halten sie Erleben und

22
Verhalten zusammen ?" (Fitzek 1999, S. 30.). Die Vorannahme des Prinzips der
Gestaltverwandlung gibt dann die Blickrichtung der Analyse vor: ,,Die Geschichte des
Seelischen (...) ist die Geschichte der bewegenden Verhältnisse, in denen das Seelische
seinen Umgang mit sich selbst und der Wirklichkeit zu gestalten sucht. Es ist die
Geschichte von Lebensbildern, ihrer Begrenzungen und Chancen, ihrer Maßnahmen
und Instrumente, der antreibenden und hemmenden Probleme, in denen sich jeweils
eine bestimmte Kultur entwickelt. Welche Verwandlung eine Kultur ausgestaltet, das ist
zu entdecken" (Salber 1993, S. 8.).
Die konkreten Kultivierungsformen des Alltags dienen dabei als zu deutende Spuren,
mit denen man den bewegenden Verhältnissen einer Kultur nachkommen kann. Die
untersuchten Phänomene, so auch der Umgang mit dem Erleben von Atomenergie,
werden als spezifische Umgangsformen mit allgemeinen Problemen der seelischen
Wirklichkeit aufgefaßt. Ebensowenig wie eine Analyse von kausalen Faktoren
bezüglich spezieller Hypothesen ist es also das Forschungsinteresse dieser Arbeit,
Charakterstudien über Atomkraftbefürworter und Atomkraftgegner herauszubilden,
sondern es gilt zu klären, welche seelische Grundproblematik am Erleben des Umgang
mit Atomenergie behandelt wird.
Nachdem nun die Grundpfeiler psycho-morphologischen Denkens dargestellt wurden,
sollen nun zwei Prinzipien erläutert sein, die sich als methodische Herangehensweisen
aus dem bisher Gesagten ergeben und für die vorliegende Untersuchung wichtig sind.
Wirkungseinheiten
Die psychologische Morphologie unterscheidet zwei verschiedene Arten von
Untersuchungseinheiten, die Handlungseinheiten und die Wirkungseinheiten.
Handlungseinheiten beziehen sich auf zeitlich begrenzte und zusammenhängende
,,Stundenwelten". Abläufe wie das Putzen, das Aufstehen oder das Erleben eines Filmes
bewirken die Vereinheitlichung und Durchgliederung seelischer Abläufe für eine
gewisse Zeit. Hier entsteht ein Sinnzusammenhang im Rahmen einer begrenzten
Verfassung. Die Analyse beginnt hier bei der Rekonstruktion des konkreten
Erlebensverlaufes. Die Exploration richtet sich streng auf das Dehnen und Zergliedern:
Die Interviewpartnern sollen anschaulich und ausführlich von den Abläufen in ihren
konkreten Stundenwelten erzählen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2000
ISBN (eBook)
9783832441920
ISBN (Paperback)
9783838641928
DOI
10.3239/9783832441920
Dateigröße
668 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität zu Köln – Psychologie
Erscheinungsdatum
2001 (Juni)
Note
1,0
Schlagworte
meinungen politik umweltschutz atomenergie psychologie
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Titel: Psychologische Untersuchung zum Erleben von Atomenergie
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