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Der Versuch der Herausbildung einer sozialistischen Persönlichkeit durch Kollektiverziehung in Jugendwerkhöfen der DDR

Dargelegt an ausgewählten Beispielen

©2002 Diplomarbeit 114 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
In den vergangenen zwölf Jahren der deutschen Einheit wurde nur wenig zur DDR-Pädagogik veröffentlicht. Insbesondere betrifft das den Jugendhilfebereich, der einer theoretischen Auseinandersetzung bedarf.
Das Ziel meiner Diplomarbeit ist es zu untersuchen, welche pädagogischen Einflüsse zur Herausbildung der sozialistischen Persönlichkeit durch Kollektiverziehung Anwendung fanden. Ein besonderes Augenmerk richte ich auf die Heimerziehung in der DDR. Im sogenannten real existierenden Sozialismus war diese Institution eher verpönt. Das Gesamtbild einer sozialistischen Persönlichkeit duldete keine defizitären Verhaltenstendenzen. Hier wirkten Staat und Politik direkt ein. Es entstanden speziell für Kinder und Jugendliche Einrichtungen, die den Charakter des Umerziehens trugen, eben im Sinne eines klar definierten Bildungs- und Erziehungsziels, zur Herausbildung von allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeiten. In diesem Zusammenhang instrumentalisierte die DDR- Pädagogik spezialisierte Heime in dem Glauben, damit Menschen zu verändern und an das System heranzuführen. Einen besonderen Stellenwert übernahm dabei die Theorie der Kollektiverziehung.
Die Grundlagen dazu lieferte der pädagogische Klassiker Anton Semjonowitsch Makarenko, die ich in einem gesonderten Abschnitt erläutern werde.
Die Arbeit wäre zu umfangreich, wollte ich mich den differenzierten Heimunterbringungen in der DDR widmen. Im Mittelpunkt meiner Auseinandersetzung wird der Jugendwerkhof als umstrittene Institution diskutiert. Als eine der härtesten Erziehungsmodelle überwiegen in der Gesellschaft Mythen und Interpretationen dieser Einrichtungen. Niemand geeigneteres als ehemaliges pädagogisches Personal kann Auskunft geben, wie sich die Erziehung dort darbot. Ausgewählte Interviews sollen einen Einblick bieten, welche Gedanken diese Erziehungsform hinterlassen haben.
In der Darstellung meines Themas habe ich die Arbeit in fünf Hauptpunkte gegliedert:
Der erste Abschnitt bildet den allgemeinen Einblick in das Bildungssystem der DDR. Vor der Begriffsdiskussion von Bildung und Erziehung will ich die Bildungsgeschichte aufzeigen. Dabei geht es hauptsächlich um die staatlichen Rahmenbedingungen in damaligen Gesetzestexten sowie um die ideologischen Hintergründe zum Erziehungsbegriff und zum pädagogischen Prozess.
Ein Fokus des von mir gewählten Themas liegt im Begriff der Kollektiverziehung. Hier werde ich im zweiten Abschnitt die Einflüsse des […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


0. Einleitung

In den vergangenen zwölf Jahren der deutschen Einheit wurde nur wenig zur DDR-Pädagogik veröffentlicht. Insbesondere betrifft das den Jugendhilfebereich, der einer theoretischen Auseinandersetzung bedarf.

Das Ziel meiner Diplomarbeit ist es zu untersuchen, welche pädagogischen Einflüsse zur Herausbildung der sozialistischen Persönlichkeit durch Kollektiverziehung Anwendung fanden. Ein besonderes Augenmerk richte ich auf die Heimerziehung in der DDR. Im sogenannten real existierenden Sozialismus war diese Institution eher verpönt. Das Gesamtbild einer sozialistischen Persönlichkeit duldete keine defizitären Verhaltenstendenzen. Hier wirkten Staat und Politik direkt ein. Es entstanden speziell für Kinder und Jugendliche Einrichtungen, die den Charakter des Umerziehens trugen, eben im Sinne eines klar definierten Bildungs- und Erziehungsziels, zur Herausbildung von allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeiten. In diesem Zusammenhang instrumentalisierte die DDR- Pädagogik spezialisierte Heime in dem Glauben, damit Menschen zu verändern und an das System heranzuführen. Einen besonderen Stellenwert übernahm dabei die Theorie der Kollektiverziehung.

Die Grundlagen dazu lieferte der pädagogische Klassiker Anton Semjonowitsch Makarenko, die ich in einem gesonderten Abschnitt erläutern werde.

Die Arbeit wäre zu umfangreich, wollte ich mich den differenzierten Heimunterbringungen in der DDR widmen. Im Mittelpunkt meiner Auseinandersetzung wird der Jugendwerkhof als umstrittene Institution diskutiert. Als eine der härtesten Erziehungsmodelle überwiegen in der Gesellschaft Mythen und Interpretationen dieser Einrichtungen. Niemand geeigneteres als ehemaliges pädagogisches Personal kann Auskunft geben, wie sich die Erziehung dort darbot. Ausgewählte Interviews sollen einen Einblick bieten, welche Gedanken diese Erziehungsform hinterlassen haben.

In der Darstellung meines Themas habe ich die Arbeit in fünf Hauptpunkte gegliedert:

Der erste Abschnitt bildet den allgemeinen Einblick in das Bildungssystem der DDR. Vor der Begriffsdiskussion von Bildung und Erziehung will ich die Bildungsgeschichte aufzeigen. Dabei geht es hauptsächlich um die staatlichen Rahmenbedingungen in damaligen Gesetzestexten sowie um die ideologischen Hintergründe zum Erziehungsbegriff und zum pädagogischen Prozess.

Ein Fokus des von mir gewählten Themas liegt im Begriff der Kollektiverziehung. Hier werde ich im zweiten Abschnitt die Einflüsse des sowjetischen Pädagogen A.S. Makarenko auf die DDR-Pädagogik untersuchen, seine Vorstellungen einer sozialistischen Persönlichkeit erarbeiten und die von ihm favorisierte Arbeitserziehung als Mittel zur Erreichung bewusster Disziplin darstellen.

Der dritte Abschnitt gibt Auskunft über die Institutionen von Heimerziehung der Jugendhilfe in der DDR. Hierbei konzentriere ich mich auf den Jugendwerkhof. Ich werde hinterfragen, welche Gründe vorgelegen haben müssen, um als Kind oder Jugendlicher im JWH Freital eingewiesen zu werden. Als Quellen benutze ich die im Original vorhandenen Karteikarten des damaligen Jugendwerkhofes Freital.

Umerziehung als eine Form der Kollektiverziehung stellt den vierten Abschnitt der Arbeit dar. Meine Auseinandersetzung mit dem Wesen der Heimerziehung begründet sich auf der damaligen These, dass eine stabile Erziehungssituation entsteht, wenn die Folgen falscher Erziehung überwunden werden. Die Begriffe Schwererziehbarkeit und Umerziehung erfahren hier eine genauere Betrachtung.

Im fünften Abschnitt kommen ehemalige Pädagogen aus Freital zu Wort. Diese Interviews sind nur ein Ausschnitt und sollen die erarbeitete Theorie an praktischen Beispielen verdeutlichen.

Mit dieser Auseinandersetzung wird die Hoffnung verbunden, dass in künftigen Diskussionen zu diesem Thema kein Spannungsfeld zwischen Opfern und Tätern entfacht wird, sondern eine wertschätzende Aufarbeitung von Erlebtem geschieht.

1. Das sozialistische Bildungssystem in der DDR

Mit dem folgenden geschichtlichen Abriss soll eine Einführung in die Grundlagen des Bildungssystems der DDR gegeben werden. Anhand dieser Darstellung wird die Einordnung der Jugendhilfe in das allgemeine Bildungssystem deutlich. Bei den Ausführungen und Zitaten bezieht sich der Verfasser überwiegend auf DDR-Fachliteratur von auszubildenden Pädagogen.

1.1 Die Entwicklung einer Bildungsgeschichte in der DDR

Die Entwicklung des Bildungswesens der DDR ist geprägt von Etappen. Ausgehend von einer Grundphilosophie in der Sowjetischen Besatzungszone, die Bildungsgleichheit herzustellen, wurden bereits im Oktober 1945 Pläne der neu gegründeten Parteien KPD und SPD für eine demokratische Schulreform bekannt.

Der Ausschluss der NSDAP-Mitglieder aus dem Schuldienst wurde sofort und konsequent vollzogen. Diese Säuberungsaktion riss östlich der Elbe große personelle Lücken. Junge Menschen mit antifaschistischem Verständnis, einer elementaren Allgemeinbildung und dem Interesse pädagogisch zu arbeiten, wurden zu Neulehrern in einem Kurzstudium ausgebildet. Neben der schnellstmöglichen Fachqualifikation war an ihren Beruf auch ein ideologischer Auftrag geknüpft. Der Schulalltag sollte so schnell als möglich beginnen. Hintergrund waren das Auffangen von Kindern und Jugendlichen, die durch die Kriegswirren physisch und moralisch verwahrlosten, kein Obdach hatten oder bei denen eine humanistische Reinigung des faschistischen Gedankengutes erfolgen sollte (vgl. Klier, Lüg Vaterland, 1990).

Im Mai 1946 setzten KPD und SPD das „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ in Kraft. Das war der Grundstein für das Bildungswesen der DDR, wobei nun allen Kindern gleiche Bildungschancen eingeräumt werden sollten.

„Das Ziel der demokratischen Schulreform ist die Schaffung eines einheitlichen Schulsystems, indem die geistigen, moralischen und physischen Fähigkeiten der Jugend allseitig entwickelt, ihr eine hohe Bildung vermittelt und allen Befähigten ohne Rücksicht auf Herkunft, Stellung und Vermögen der Eltern der Weg zu den höchsten Bildungsstätten des Landes freigemacht wird“ (vgl. Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 1959, S. 211).

Das Gesetz zur Demokratisierung der Deutschen Schule wurde von den Landes- und Provinzialverwaltungen der sowjetischen Besatzungszone beschlossen. Das Gesetz besagte u.a.:

㤠1 Ziele und Aufgaben der deutschen Schule

Die deutsche demokratische Schule soll die Jugend zu selbständig denkenden und verantwortungsbewusst handelnden Menschen erziehen, die fähig und bereit sind, sich voll in den Dienst der Gemeinschaft des Volkes zu stellen und frei von nazistischen und militärischen Auffassungen zu erziehen.

§ 2 Schulträger und Schulreform

Die schulische Erziehung ist ausschließlich Angelegenheit des Staates.

§ 6 Schulverwaltung und Schulaufsicht

a) Die Leitung und Aufsicht über alle Arten von Schulen und Erziehungsanstalten (... Schwererziehbare u.a.) wird nach Richtlinien der Deutschen Verwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone durch den Präsidenten des Landes ausgeübt.
b) Im Auftrag und nach den Weisungen des Präsidenten des Landes üben die Volksbildungsämter der Kreise oder der kreisfreien Städte die Leitung und Aufsicht des Schulwesens aus. Ihnen unterstehen alle Erziehungsanstalten“ (vgl. Studienmaterial, Grundlagen der Pädagogik, 1980, S. 95).

Aufbauend auf dieser gesetzlichen Grundlage wurde in der sowjetischen Besatzungszone eine zentralistisch organisierte Einheitsschule geschaffen, die alle Bildungs- und Erziehungsaufgaben umfasste.

Um die Festigung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung und die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der sowjetischen Besatzungszone voranzutreiben, wurden schulpolitische Richtlinien klar umrissen.

1949 entschied der Parteivorstand der SED die Schulpolitischen Richtlinien. In ihnen wurde die sowjetische Pädagogik als verbindliches Vorbild erklärt. Aus den politischen Grundaufgaben der deutschen demokratischen Schule ergaben sich ideologische Schlussfolgerungen für alle Lebensbereiche mit der Absicht, die breite Masse der Gesellschaft zu Kämpfern für den Frieden und den weiteren Aufbau der demokratischen Ordnung zu gewinnen.

Die neuen Organisationsformen der Schule dienten der Möglichkeit für alle Kinder „sich allseitig und stetig auszubilden und entsprechend ihrer Fähigkeiten am gesellschaftlichen Aufstieg mitzuwirken“ ( vgl. Schulpolitische Richtlinien, 1949). Dadurch wurde die Schule für die breiten Massen des Volkes aus ihrer Isolation befreit. Mit diesen Richtlinien erfolgte eine Konkretisierung des Gesetzes zur Demokratisierung der deutschen Schule von 1946.

Nachdem die 2. Parteikonferenz der SED 1952 den Beschluss verabschiedete, die Grundlagen des Sozialismus in der DDR zu schaffen, „erhielt das Bildungssystem den Auftrag, allseitig entwickelte Erbauer des Sozialismus heranzubilden, die zu hohen Leistungen in der Produktion und bei der Verteidigung der Heimat fähig und bereit sind, die sich bewusst in den Dienst des sozialistischen Aufbaus stellen“ (Neuner, 1981, S.417).

Mit der Gründung der DDR und der führenden Rolle der SED zeichnete sich die Einheit zwischen Staat und einheitlicher Pädagogik noch deutlicher ab. Schule wurde von der Partei gelenkt und geprägt. Die SED ideologisierte das Bildungswesen. Grundlage dazu war die Orientierung am marxistisch-leninistischen Weltbild. So definierte die SED in ihrem Programm die Aufgabe des Bildungswesens wie folgt: „Das Bildungswesen hat die Aufgabe, junge Menschen zu erziehen und auszubilden, die, mit solidem Wissen und Können ausgerüstet, zu schöpferischem Denken und selbständigem Handeln befähigt sind, deren marxistisch-leninistisch fundiertes Weltbild die persönlichen Überzeugungen und Verhaltensweisen durchdringt, die als Patrioten ihres sozialistischen Vaterlandes und proletarische Internationalisten fühlen, denken und handeln“ (vgl. Programm der SED, 1988, S. 66).

Dieses Gedankengut sollte in allen Bereichen des Bildungswesens Wirkung zeigen. Eine eigenständige Entwicklung des Bildungswesens war auf dieser Grundlage nicht mehr möglich.

Auch das am 2. Dezember 1959 verabschiedete Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der Deutschen Demokratischen Republik reichte weit mehr in die ideologische Systemorientierung der SED, als eben die qualitative Entwicklung der Lehrinhalte. Im Rückblick könnte man meinen, dass bereits zu diesem Zeitpunkt das Denken der Staatsführung auf hörige Bürger ausgerichtet war, die sich der Gedankenwelt von Visionären unterordnen sollten. Die Art und Weise, politisch auf Schule einzuwirken, soll am folgenden Beispiel gezeigt werden. „ Die Hauptaufgabe unserer Schule besteht darin, das Lernen mit der sozialistischen Wirklichkeit zu verbinden und das Bildungsniveau wesentlich zu heben, um die heranwachsende Generation besser auf das Leben und Schaffen in der sozialistischen Gesellschaft vorzubereiten“ (vgl. Thesen zur Entwicklung des Schulwesens, 1959).

Wie aber gestaltete sich die sozialistische Wirklichkeit in den 50iger Jahren?

Angst und Verbitterung prägen das Klima an den Bildungseinrichtungen. Diese verloren die ersten Glanzlichter ihres großen humanistischen Lehrerpotentials – viele von ihnen retteten sich in die Westzone Deutschlands.

An Schulen und Universitäten wurden bereits 1949 geheime Wahlen abgeschafft; es gab keine Interessenvertretung von unten. Von nun an herrschte die Macht von oben verordneter Kandidaten. „Diese Eingriffe in die bisherige demokratische Praxis fordern den heftigen Widerstand der Studenten heraus. Mit Manipulation der Wahlordnung, Einschüchterung, Exmatrikulation und Verhaftung kämpft die Parteiführung diesen Widerstand bis 1952 im wesentlichen nieder. Die Verhaftungswelle erfasst alle Hochschuleinrichtungen“ (Klier, 1990, S. 82).

Das war das Ende einer Schonzeit für die Lehrer, denn bereits 1949 funktionalisiert der pädagogische Kongress deren mittelbaren Auftrag wie folgt:

1. Der Lehrer hat ein Kämpfer für die Ziele der politischen Führung zu sein.
2. Jeder Lehrer muss sich gegen den Krieg und für den Frieden einsetzen.
3. Jeder Lehrer hat sowjetfreundlich zu sein. Als Freund der Sowjetunion hat er sich Kenntnisse und Erfahrungen aus der Sowjetunion zu eigen zu machen“ (vgl. Monumenta Paedagogika, Bd. VI/1, S.341)

Diese verordnete Liebe zur Sowjetunion erzeugt Widerstand. Insbesondere richtet sich die Abneigung gegen das politische Kampfdenken, stigmatisierte Appelle und das Tragen von Uniformen.

Dennoch blieben viele an ihrem Platz, in der Hoffnung diese Zeit zu überwinden, um Lehrer und nicht Propagandisten in einer Diktatur zu werden.

Im Kontext zur Systemveränderung in der DDR und dem Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft wurde 1965 das Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem beschlossen. Mit diesem Gesetz sollten die Grundlagen geschaffen werden, allseitig entwickelte sozialistische Persönlichkeiten herauszubilden.

Auf dieses Gesetz wird die Arbeit im folgenden Abschnitt näher eingehen.

1.2 Begriffsdiskussion - Bildung und Erziehung in der DDR

1.2.1 Gesetzliche Grundlagen

Die Grundlagen für ein einheitliches Bildungssystem waren in der Verfassung der DDR verankert. Folgende Auszüge weisen nach, dass die Prioritätensetzung in der ideologischen Erziehung einen höheren Stellenwert einnahm, als die allgemeine Bildung der Schuljugend.

„Artikel 25

1. Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das gleiche Recht auf Bildung. Die Bildungsstätten stehen jedermann offen. Das einheitliche sozialistische Bildungssystem gewährleistet jedem Bürger eine kontinuierliche sozialistische Erziehung, Bildung und Weiterbildung.
2. Die Deutsche Demokratische Republik sichert das Voranschreiten des Volkes zur sozialistischen Gemeinschaft allseitig gebildeter und harmonisch entwickelter Menschen, die vom Geist des sozialistischen Patriotismus und Internationalismus durchdrungen sind... .
3. Die Lösung dieser Aufgabe wird durch den Staat und alle gesellschaftlichen Kräfte in gemeinsamer Bildungs- und Erziehungsarbeit gesichert“ (vgl. Verfassung der DDR, Berlin, S.26)

Die Konkretisierung erfolgte im bereits angesprochenen Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem vom 25. Februar 1965. Das Ziel, den Sozialismus zu erbauen, war erreicht. Jetzt sollte die entwickelte sozialistische Gesellschaft gestaltet werden. Der Erziehungsbegriff rückte zunehmend in den Mittelpunkt. Auszüge aus dem Gesetz sollen das an dieser Stelle belegen.

㤠1

(1) Das Ziel des sozialistischen Bildungssystems ist eine hohe Bildung des ganzen Volkes, die Bildung und Erziehung allseitig und harmonisch entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten, die bewusst das gesellschaftliche Leben gestalten, die Natur verändern und ein erfülltes glückliches, menschenwürdiges Leben führen.
(2) Das sozialistische Bildungssystem trägt wesentlich dazu bei, die Bürger zu befähigen, die sozialistische Gesellschaft zu gestalten, die technische Revolution zu meistern und an der Entwicklung der sozialistischen Demokratie mitzuwirken. Es vermittelt den Menschen eine moderne Allgemeinbildung und eine hohe Spezialbildung und bildet zugleich Charakterzüge im Sinne der Grundsätze der sozialistischen Moral heraus. Das sozialistische Bildungssystem befähigt sie, als gute Staatsbürger wertvolle Arbeit zu leisten.
(3) Dieses Ziel eint den sozialistischen Staat und alle gesellschaftlichen Kräfte in gemeinsamer Bildungs- und Erziehungsarbeit.

§ 4

(4) ... Im Bildungs- und Erziehungsprozess wird die Jugend durch die Lösung konkreter Aufgaben zum bewussten Handeln für den Sozialismus erzogen.

§ 5

(5) Der Bildungs- und Erziehungsprozess und das Leben der Schüler, Lehrlinge und Studenten sind so zu gestalten, dass sie im Kollektiv und durch das Kollektiv zum bewussten staatsbürgerlichen und moralischen Verhalten erzogen werden“ (vgl. Bildungsgesetz der DDR, 1965, S. 121 ff.)

Mit der Durchsetzung dieser Ziele wurde ein Meilenstein für die Kollektiverziehung gesetzt. Bedeutsam waren nicht die Einzelleistungen, sondern die durch eine gemeinschaftliche Aufgabe geprägten Anforderungen an die zu entwickelnde sozialistische Gesellschaft mit ihren Kollektiven.

Es sollten Menschen geformt werden, die das sozialistische Gesellschaftssystem akzeptieren und sich willentlich für den weiteren Aufbau des Sozialismus einsetzen.

Das Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem hatte bis zum Ende der DDR Bestand.

1.2.2 Grundlagen der Pädagogik

Im pädagogischen Wörterbuch sind die Begriffe Erziehung und Bildung wechselseitig miteinander verbunden, gehen einander über und bilden eine Einheit. Die Schule hat daher im Unterrichtsgeschehen gleichzeitig zu bilden und zu erziehen. Erziehung ist der umfassendste Begriff der Pädagogik und es gibt verschiedene Zugänge in der Definition.

Am weitesten verbreitet war die Ansicht, Erziehung sei eine beabsichtigte organisierte Einwirkung der Erwachsenen auf die Kinder mit dem Ziel, ihre physischen und geistigen Kräfte zu entwickeln.

Das muss hinterfragt werden und bedarf dem genaueren Begriffsverständnis von Bildung und Erziehung.

1.2.2.1 Erziehung

Um den Begriff Erziehung zu definieren, löst man zunächst alle die Formung des Menschen beeinflussenden Erziehungsfaktoren heraus und orientierte sich an der Theorie von N.I. Boldyrew.

Es entstand die terminologische Trennung von Erziehung im weiteren Sinne und Erziehung im engeren Sinne. Im System dieser Begriffe erhielt die Erziehung im weiteren Sinne als soziale Formung des Menschen Priorität.

„Erziehung ist die zielgerichtete, organisierte Entwicklung der körperlichen und geistigen Kräfte des Menschen, die Herausbildung seiner Weltanschauung, seiner sittlichen Haltung, seiner ästhetischen Ideale und Neigungen; sie umfasst sowohl Bildung und Unterricht als auch das, was üblicherweise Erziehung im engen Sinne genannt wird“ (Boldyrew, 1982, S.29).

Die eigentliche Erziehungsarbeit, auch als Erziehung im engeren Sinne bezeichnet, reduzierte Boldyrew auf:

„... die Herausbildung der wissenschaftlichen Grundlagen der Weltanschauung, die Herausbildung sittlicher Ideale, Normen und Beziehungen und einer ästhetischen Erziehung zur Wirklichkeit, sowie die Leitung der körperlichen Entwicklung “ (Boldyrew, 1982, S.29).

1.2.2.2 Bildung

Als Bestandteil der Erziehung im weiteren Sinne bezogen sich die Inhalte zum Begriff Bildung direkt auf den Prozess der Aneignung von Wissen aus den Natur-, Gesellschafts- und Geisteswissenschaften, sowie der Fähigkeiten und Fertigkeiten, diesen Erwerb praktisch und sinnvoll der sozialistischen Gesellschaft zurückzugeben.

Über den Unterrichtsprozess sollten die Ziele der Bildung realisiert werden.

1.2.2.3 Der pädagogische Prozess oder die Einheit von Bildung und Erziehung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Als pädagogischen Prozess bezeichnete man den ganzheitlichen Prozess der Erziehung im weiteren Sinne bei der Sicherstellung der Einheit von Bildung und Erziehung (im engeren Sinne). Ein Synonym des Begriffs pädagogischer Prozess war der Bildungs- und Erziehungsprozess.

Bildungs- und Erziehungsziele waren in diesem Prozess vorgeschrieben. Durch ihre detaillierte Planung sollte das sozialistische Menschenbild geformt werden. Dieses bestand nach Willi Kuhrt aus vier miteinander verwobenen Elementen:

- Wissens- und Erfahrungselemente aus Wissenschaft, Technik, dem gesellschaftlich- sozialen Leben, der Ideologie, der Politik, der Kunst, Kultur und dem Sport
- Fähigkeits- und Handlungsstrukturen für wissenschaftliche, technische, gesellschaftlich- soziale, ideologisch- politische und sportliche Tätigkeiten
- Ideologische Überzeug politischer, weltanschaulich- philosophischer und moralischer Art und
- Charakter- und Verhaltensqualitäten, also die bewusste Steuerung des Verhaltens und der Beziehungen zur Umwelt nach den Grundsätzen der sozialistischen Moral und Ethik.

Allgemein betrachtet sollten Bildung und Erziehung den Menschen in die Lage versetzen, am Leben der Gesellschaft in allen Bereichen teilzunehmen. (u.a. Wirtschaft, Produktion, Handel, Verkehr; Politik, Wissenschaft, Sprache, Kunst, Körperkultur und Sport, Familie)

Damit wurde das Wesen des pädagogischen Prozesses charakterisiert. Es verdeutlichte, dass die Hauptaufgabe zur Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft bei der bewussten, planmäßigen und organisierten sozialen Formung des Menschen durch den Menschen bestand.

2. Der Einfluss von A. S. Makarenko auf die Kollektiverziehung in der DDR

Um die Kollektiverziehung in der DDR-Pädagogik besser zu verstehen, wird die Arbeit zunächst Grundlagen erforschen, auf denen die kollektive Erziehungstheorie basiert. Die Lehrbücher zur Ausbildung von Pädagogen der DDR verweisen regelmäßig auf die Priorität von Kollektiven als die entscheidende soziale Lebensform und wichtiges Erziehungsmittel.

Der folgende geschichtliche Rückblick soll neben der Klärung zur Bedeutung des Kollektivs für die Erziehung auch aufzeigen, welchen theoretischen und praktischen Einfluss der sowjetische Pädagoge Makarenko auf die Bildungspolitik der DDR hatte.

2.1 Grundpositionen von Anton Semjonowitsch Makarenko (1888–1939)

Leben und Werke Makarenkos sind eng mit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution verbunden. Er war davon überzeugt, dass dieses Ereignis welthistorische Bedeutung erlangt und den Bildungsfortschritt in der Sowjetunion mit sich bringt. In der sozialistischen Pädagogik zählt Makarenko zu den hervorragendsten Persönlichkeiten bei der Umsetzung der marxistisch- leninistischen Idee auf pädagogischem Gebiet. In seiner Theorie setzt er auf die Kollektivierung.

Die Kollektiverziehung war eine der Hauptideen Makarenkos. Zu den wesentlichen Merkmalen der zählte er:

„- Erziehung in der Gruppe für die Gruppe
- frühe außerfamiliäre Erziehung durch Institutionen der Gesellschaft
- Einheit von Erziehung und Unterricht, körperlicher Arbeit und gesellschaftlicher Tätigkeit
- Herstellung der Identität individueller und gesellschaftlicher Interessen, d.h., dass der Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten nicht nur dem Individuum, sondern auch der Gesellschaft nützt“ (Keller, Freiburg, S. 212f.).

Entstanden war die Kollektiverziehung zunächst als eine Pädagogik der Umerziehung für verwahrloste Jugendliche. Das Konzept entwickelte Makarenko auf der Grundlage konkreter praktischer Erfahrungen, die er bei der Arbeit mit Jugendlichen in besonderen Problemlagen sammeln konnte.

2.1.1 Makarenkos Kollektiverziehung am Beispiel der „Gorki-Kommune“

1920 herrschten Hungersnöte. Das Volksbildungsamt beauftragte Makarenko zur Errichtung einer Kolonie für minderjährige Rechtsverletzer. Diese Kinder und Jugendlichen haben durch die Wirren des Bürgerkriegs Eltern und Familien verloren, lungerten auf den Straßen herum, stahlen, töteten, bettelten oder gingen auf den Strich. Durch massenhafte Festnahmen stellte sich die Frage nach dem Ort der Unterbringung.

Makarenko eröffnete die erste, nach dem Freund benannte, Gorki-Kommune. Er war der Überzeugung, dass es keine schlechten Menschen gibt, sondern dass sich jeder zu einem aufrechten Menschen erziehen lässt.

Die Grundlagen der Kommune waren:

- Arbeit,
- Kommandeurspädagogik und
- Kollektivismus.

Der Alltag gestaltete sich in der Kommune von der Arbeit bis zur Freizeit streng militärisch und kollektiv. Makarenko benutzte den Begriff Zögling und meinte damit die Kinder und Jugendlichen. Diese wohnten in Grundkollektiven zu acht bis zwölf Zöglingen, denen ein Kommandeur vorstand. Der Tagesablauf wurde detailliert geplant. Mit Trompetenklang wurde jeweils verdeutlicht, dass ein anderer Tagesabschnitt begann. Die Grundkollektive bestritten alles gemeinsam. Das betraf jede Lebenssituation vom Arbeiten, den Mahlzeiten, der Freizeitgestaltung bis hin zum Schlafen im gemeinsamen Schlafraum. Es gab den Kommandeur, der für seine Kommunarden verantwortlich war.

Freya Klier beschreibt in ihrem Buch Lüg Vaterland die Situation wie folgt: „Es gibt den Diensthabenden, der alles wissen und alles sehen, allem Maß und Richtung geben muss, streng und straff. Es gibt den Sanitäter vom Dienst, der keineswegs nur Binden wickelt, sondern auch die Sauberkeit von Körper, Kleidung, Schlafsaal und Maschine kontrolliert. Es gibt Appelle und Rapporte, Militärübungen und Fahnenkult, Schuluniformen und meterlange Wandzeitungen. Der Grundrhythmus der Kommune ist der Marsch. Ihre Basis ist die Arbeit. Gewirtschaftet ... wird durchaus rentabel. ... So produzieren die Zöglinge in einer kleinen Holzfabrik ... Bienenstöcke, Möbel und Munitionskästen“ (Klier, 1990, S. 46f.) Klier weist darauf hin, dass das Arbeitstempo nicht als störend empfunden wurde, sondern als Ansporn, um damit die Lebensbedingungen zu verbessern und der Parole „Alle Kraft dem Aufbau des Sozialismus“ Rechnung zu tragen. Durch diese Schilderung darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass ein Leben in der Kommune frei von Problemen gewesen wäre. Gearbeitet wurde für den eigenen Lebensunterhalt. Im Vordergrund standen Nahrung und Bekleidung. Im Allgemeinen waren die Bedingungen miserabel.

Entscheidend für die pädagogische Arbeit bei Makarenko war die Gleichstellung aller Kommunemitglieder. Jede spätere sich auf Makarenko beziehende Erziehung, auch die der DDR- Pädagogik, wich von dieser Idee ab.

In den Ideen von Makarenko erkennt Stalin die Chance zur massenhaften Sozialisation der Menschen.

Makarenko konzentrierte sich zunächst auf die verwahrlosten Kinder und Jugendlichen, die in sogenannten Kommunen aufgewachsen sind.

Die Erzieher bezog er gleichberechtigt in den Prozess mit ein. Sie durften in separaten Wohnungen leben. Andere Vorzüge besaßen sie nicht. Die täglichen Kontrollen des Sanitärdienstes umfassten auch eine Inspektion der Erzieherwohnungen - unangekündigt und zu jeder Tageszeit. Sie standen bei den abendlichen Vollversammlungen ebenso im Kritikfeuer wie die anderen Kommunemitglieder, obgleich Makarenko seinen Pädagogen immer wertschätzend begegnete. Freya Klier führt dazu weiter auf: „ Das Kommune–Experiment funktioniert also durch Gerechtigkeit und die unbedingte Integrität Makarenkos und seiner Pädagogen, die er selbst als hochqualifiziert beschreibt mit sicherem und präzisem Wissen, Können und goldenen Händen“.

Die erste Kommunegeneration lernt Ehrlichkeit kennen, ebenso wie die Einheit von Wort und Tat. Die Zöglinge, die i.d.R. wegen einer kriminellen Karriere in der Kommune lebten, akzeptierten die Autorität Makarenkos wegen seiner Wahrhaftigkeit und uneingeschränkten Ehrlichkeit. Er verlangt von den Kommunarden nur das ab, zu dem er und die Erzieher selbst im Stande waren. Sein Verhalten war stets transparent. Das Arbeitszimmer war von jedem zu jeder Zeit offen. Probleme und deren Lösungen wurden ohne Ansehen der Person respektvoll diskutiert.

Aber auch das kulturelle Zusammenleben in der Kommune war richtungsweisend. Der Einfluss von Makarenkos Freund, Maxim Gorki, auf die erste Kommune wirkt sich belebend auf das Freizeitverhalten der Zöglinge aus. Es gab Sport-, Literatur-, Biologie-, Mal-, und Erfinderzirkel. Über Jahre hinweg wurde hingebungsvoll Theater gespielt, wobei Gorki als eine Art Mentor fungierte. Man übte Sprechchöre ein, lernte Instrumente, gründete ein Orchester. Die Kommunarden verschlangen die große russische Literatur und werteten sie anschließend im Kollektiv aus.

Zur Freizeit der Kommunarden stellt Freya Klier fest, dass auch wieder gefeiert wurde.

„ Neben der Reihe neuer Staatsfeiertage ... wird der ganze Erntekalender durchgefeiert ... Die Kommune hat keine Individualisten hervorgebracht; Makarenko selbst bedauert, dass aus ihr weder Maler noch Schriftsteller hervorgegangen sind. Dennoch gelingt ihm in dieser frühen Zeit die überzeugende Vermittlung humanistischer Werte. Die einstigen Kriminellen treten ihren ‚Weg ins Leben’ mit einem stets auch auf andere gerichteten Bewusstsein an, auffällig ist ihre hohe Sensibilität gegenüber Schwächeren. Und sie kehren später immer wieder in jene Enklave zurück, die ihnen zugleich Elternhaus war und in der sie - zum ersten und wohl letzten Mal in ihrem Leben – als Gleiche unter Gleichen lebten.

[...]


[1] Gedächtnisaufzeichnung des Verfassers aus der Ausbildung zum Lehrer für untere Klassen, Institut f. Lehrerbildung Nossen, 1982

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2002
ISBN (eBook)
9783832440732
ISBN (Paperback)
9783838640730
DOI
10.3239/9783832440732
Dateigröße
6.6 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin – unbekannt
Erscheinungsdatum
2005 (Februar)
Note
2,0
Schlagworte
makarenko umerziehung persönlichkeit
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