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Die Beziehung zwischen der erweiterten Europäischen Union und der Russischen Förderation

©2004 Magisterarbeit 181 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die Beziehungen Europas und Russlands reichen weit in die Geschichte zurück, und sie waren häufig von Auseinandersetzungen und Machtkämpfen, aber auch von Kooperation und Zusammenarbeit geprägt. Mit Ende des Ost-West-Konfliktes und der fortschreitenden europäischen Integration haben sich vor rund 14 Jahren neue Perspektiven eröffnet: sowohl neue Risiken und Problemfelder, als auch neue Gestaltungs- und Kooperationsmöglichkeiten ergaben sich aus der neuen internationalen Konstellation.
War die meiste Zeit des 20. Jahrhunderts von Auseinandersetzungen und Konflikten zwischen den unterschiedlichen Systemen geprägt – vor allem nach Ende des Zweiten Weltkrieges – so begann mit dem Zerfall des sowjetischen Blocks Ende der 1990er eine neue Epoche. Bereits seit der Erweiterung der Europäischen Union (EU) am 1. Januar 1995 durch den Beitritt Finnlands – neben Schweden und Österreich – verfügt die Europäische Union über eine direkte Grenze mit der Russischen Föderation (RF). Durch die Erweiterung am 1. Mai 2004 wurde diese gemeinsame Grenze noch länger, und zum ersten Mal werden auch hunderttausende russisch sprechende Bürger in Mitgliedsländern der Union leben. Die zukünftige Friedensordnung in Europa wird in erster Linie vom Verhältnis der beiden großen Mächte des Kontinents zueinander – der Europäischen Union und der Russischen Föderation – abhängen, denn nach der Aufnahme von vorerst acht mittel- und osteuropäischen Staaten (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Ungarn, Tschechische Republik, Slowakei, Slowenien) rückt der Schwerpunkt der EU weiter nach Osten. Die EU wird noch stärker als bisher das Zentrum der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung des Kontinents.
Das Verhältnis zwischen der EU und der Russischen Föderation ist nach 1991 nicht unbedingt sicherer geworden. Die Risiken wurden vielfältiger und haben sich auch verändert; es gibt vor allem zwei Problembereiche, welche die Kooperation zwischen der Union und der RF in Zukunft belasten könnten. Zum Ersten herrscht in Tschetschenien noch immer Krieg unter größtenteils grober Missachtung der Grund- und Menschenrechte sowie Grundprinzipien der Demokratie, und Zweitens steht die Region Kaliningrad mit deren ungelösten Problemen im Zentrum der zukünftigen Beziehungen. Auf der anderen Seite steht die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung der beiden Akteure, die mit der Erweiterung noch weiter zunehmen wird.
Im Jahr 1993 hielt der […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhalt

1 Vorwort – Danksagung

2 Einleitung

3 Theoretischer Teil
3.1 Die Veränderungen der Staatenwelt nach dem Ende der Bipolarität
3.2 Theorie der internationalen Beziehungen und Kooperation nach
Ende des Kalten Krieges: der Neoliberale Institutionalismus
3.3 Hypothesen und Forschungsleitende Fragestellungen
3.4 Methodik

4 Die Beziehungen zwischen der erweiterten
Europäischen Union und der Russischen Föderation
4.1 Geschichtlicher Abriss: der Zerfall der UdSSR
4.2 Die außenpolitischen Konzeptionen der Russischen Föderation sowie
der Europäischen Union
4.2.1 Die Neuausrichtung der russischen Außenpolitik
4.2.1.1 Von der „romantischen Periode“ zum Patriotischen
Konsens (1991 – 1995)
4.2.1.2 Die Russische Föderation in einer multipolaren Welt (1995 – 2000)
4.2.1.3 Die Beziehungen zu Europa unter Präsident Vladimir Putin
4.2.2 Die Politik der Europäischen Union gegenüber der Russischen Föderation
4.2.2.1 Die Europäische Union als internationaler Akteur – die
gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
4.2.2.2 Die neue Ostpolitik der EU gegenüber der Russischen Föderation
4.3 Asymmetrien in den Beziehungen
4.3.1 Politische Asymmetrien
4.3.2 Sozioökonomische Asymmetrien
4.4 Die völkerrechtlichen Grundlagen der Zusammenarbeit: Das Partner-schaftsabkommen zwischen der EU und der Russischen Föderation
4.4.1 Der Weg zum Partnerschaftsabkommen
4.4.2 Das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen: Ziele und Grundsätze
4.5 Die Felder der Zusammenarbeit
4.5.1 Die politische Zusammenarbeit
4.5.1.1 Institutionelle Rahmenbedingungen
4.5.1.2 Die EU und die Kriege in Tschetschenien
4.5.1.3 Grenzüberschreitende Zusammenarbeit
4.5.1.3.1 Die „Nördliche Dimension“ der EU
4.5.1.3.2 Das TACIS Cross-Border Cooperation Programm
4.5.1.3.3 Euroregionen
4.5.1.3.4 Projekte im Rahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit
4.5.1.3.5 Implementierung und Effektivität
4.5.2 Wirtschaftliche Zusammenarbeit
4.5.2.1 Die Struktur der russischen Wirtschaft
4.5.2.2 Ein Gemeinsamer Europäischer Wirtschaftsraum
4.5.2.3 Die Struktur der europäisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen
4.5.2.3.1 Ausländische Direktinvestitionen in der Russischen Föderation
4.5.2.3.2 Die Auslandsverschuldung der Russischen Föderation
4.5.2.4 Energiedialog Europäische Union – Russische Föderation
4.5.2.4.1 Die Interessen der Russischen Föderation
4.5.2.4.2 Die Europäische Union und die Frage der Energieversorgung
4.5.2.4.3 Kooperationsfelder beim Energiedialog
4.5.3 Finanzielle Zusammenarbeit
4.5.3.1 Das TACIS Programm (Technical Assistance for the
Commonwealth of Independent States) in der Russischen Föderation
4.5.3.1.1 Die TACIS Programme von 1991 bis 2004
4.5.3.1.2 Bilanz von TACIS: Umfang der Mittel und Implementierung
4.5.3.1.3 Die Bedeutung von TACIS in der Praxis und deren Relevanz
4.5.4 Sicherheitspolitische Zusammenarbeit
4.5.4.1 Die Entwicklung der Europäischen Sicherheits-
und Verteidigungspolitik
4.5.4.2 Die russische Sichtweise der ESVP
4.5.4.3 Entwicklung der Zusammenarbeit
4.5.4.4 Perspektiven der Kooperation und Konfliktfelder

5 Die Zusammenarbeit der EU und der RF im Bezug
auf die russische Region Kaliningrad
5.1 Geschichtliche Hintergrundinformationen
5.2 Die militärische Bedeutung der Region Kaliningrad
5.3 Die wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung
in Kaliningrad seit dem Zerfall der UdSSR
5.3.1 Kaliningrad als Sonderwirtschaftszone
5.3.2 Die politische, wirtschaftliche und soziale Situation
5.4 Die Frage des Militärtransits
5.5 Die Zusammenarbeit zwischen der EU und der RF
5.6 Die Frage des Grenzverkehrs und des Transits durch Litauen

6 Schlussbemerkungen

7 Bibliographie
7.1 Primärliteratur
7.2 Sekundärliteratur
7.3 Internetquellen, Zeitungsartikel

1 Vorwort – Danksagung

Ich möchte mich mit dieser Diplomarbeit bei all jenen Personen bedanken, die mich während meines Studiums tatkräftig unterstützt haben, und ohne deren Hilfe die Umsetzung meines Traumes sich nie hätte erfüllen können. In erster Linie möchte ich daher meinen Eltern für die persönliche und finanzielle Unterstützung großen Dank aussprechen. Sie haben mit Sicherheit die größte Bürde zu tragen gehabt. Aber auch meiner Frau Irena möchte ich auf diesem Wege meine aufrichtige Dankbarkeit zukommen lassen, denn ohne ihre herzliche Art und ihren Rückhalt wäre für mich die Arbeit an diesem Werk nicht so reibungslos vonstatten gegangen. Diese Aufzählung ließe sich wahrscheinlich noch (fast) endlos lange fortsetzen, daher möchte ich mich generell bei all jenen bedanken, die an mich geglaubt und mich – in welcher Weise auch immer – unterstützt haben: Vielen, vielen herzlichen Dank.

2 Einleitung

Developing the partnership with Russia is the most important, the most urgen and most challenging task the EU faces at the beginning of the 21st century.

Javier Solana, Stockholm im Oktober 1999[1]

Die Beziehungen Europas und Russlands reichen weit in die Geschichte zurück, und sie waren häufig von Auseinandersetzungen und Machtkämpfen, aber auch von Kooperation und Zusammenarbeit geprägt. Mit Ende des Ost-West-Konfliktes und der fortschreitenden europäischen Integration haben sich vor rund 14 Jahren neue Perspektiven eröffnet: sowohl neue Risiken und Problemfelder, als auch neue Gestaltungs- und Kooperationsmöglichkeiten ergaben sich aus der neuen internationalen Konstellation. War die meiste Zeit des 20. Jahrhunderts von Auseinandersetzungen und Konflikten zwischen den unterschiedlichen Systemen geprägt – vor allem nach Ende des Zweiten Weltkrieges – so begann mit dem Zerfall des sowjetischen Blocks Ende der 1990er eine neue Epoche. Bereits seit der Erweiterung der Europäischen Union (EU) am 1. Januar 1995 durch den Beitritt Finnlands – neben Schweden und Österreich – verfügt die Europäische Union über eine direkte Grenze mit der Russischen Föderation (RF). Durch die Erweiterung am 1. Mai 2004 wurde diese gemeinsame Grenze noch länger, und zum ersten Mal werden auch hunderttausende russisch sprechende Bürger in Mitgliedsländern der Union leben[2]. Die zukünftige Friedensordnung in Europa wird in erster Linie vom Verhältnis der beiden großen Mächte des Kontinents zueinander – der Europäischen Union und der Russischen Föderation – abhängen, denn nach der Aufnahme von vorerst acht mittel- und osteuropäischen Staaten (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Ungarn, Tschechische Republik, Slowakei, Slowenien) rückt der Schwerpunkt der EU weiter nach Osten. Die EU wird noch stärker als bisher das Zentrum der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung des Kontinents.

Das Verhältnis zwischen der EU und der Russischen Föderation ist nach 1991 nicht unbedingt sicherer geworden. Die Risiken wurden vielfältiger und haben sich auch verändert; es gibt vor allem zwei Problembereiche, welche die Kooperation zwischen der Union und der RF in Zukunft belasten könnten. Zum Ersten herrscht in Tschetschenien noch immer Krieg unter größtenteils grober Missachtung der Grund- und Menschenrechte sowie Grundprinzipien der Demokratie, und Zweitens steht die Region Kaliningrad mit deren ungelösten Problemen im Zentrum der zukünftigen Beziehungen[3]. Auf der anderen Seite steht die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung der beiden Akteure, die mit der Erweiterung noch weiter zunehmen wird.

Im Jahr 1993 hielt der damalige schwedische Ministerpräsident Carl Bildt im Palais des Académies in Paris eine Rede, und nannte vier Hauptursachen für Kriege in Europa nach der Zeit von Napoleon: die deutsch-französischen Beziehungen; die Beziehungen Polens zu seinen Nachbarn; Russlands Platz im europäischen Staatensystem; sowie die Situation auf dem Balkan. Deutschland und Frankreich schafften nach dem Zweiten Weltkrieg schlussendlich die Versöhnung, und gelten auch heute weiterhin als ein starker Motor der europäischen Integration. Auch Polen konnte seine Beziehungen zu Deutschland und seinen anderen Nachbarn auf eine weitgehend konstruktive Basis stellen. Nur die letzten beiden Gründe sind nach wie vor aktuell und von ihrer Lösung hängt die friedliche Zukunft Europas ab. Nur mit Hilfe der EG/EU und der friedlichen europäischen Integration war eine Lösung der ersten beiden Probleme möglich, und auch die Fragen des Balkans sowie der Russischen Föderation können wahrscheinlich nur mit der EU gelöst werden[4]. Dabei muss die Russische Föderation nicht nur ihren Platz finden, sondern muss auch umfassend in das europäische System eingebunden werden.

Diese Arbeit setzt sich zum Ziel die Beziehungen der Europäischen Union mit der Russischen Föderation in einem breiten Spektrum zu analysieren, Problemfelder aufzuzeigen sowie Lösungsansätze zu bieten. In einem ersten Schritt (Kapitel 3) wird ein theoretisches Rahmenkonzept für die Analyse erstellt, um die Veränderungen des internationalen Systems seit Ende der Bipolarität aufzuzeigen, sowie um eine Theorie der internationalen Kooperation zu erstellen. Aufbauend auf diese Theorie werden Hypothesen der Zusammenarbeit und möglichen zukünftigen Entwicklung erstellt.

Im empirischen Teil, der mit Kapitel 4 beginnt, wird in einem ersten Schritt auf die geschichtlichen Veränderungen eingegangen, die zum Ende der Sowjetunion und somit zum Ende des Ost-West-Konfliktes und der Teilung Europas führten. Hauptaugenmerk liegt hierbei auf den Veränderungen in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR). Thematisch anschließend daran erfolgt eine Analyse der neuen russischen Außenpolitik: welche Phasen festgestellt werden können, welche Veränderungen und Ausrichtungen erfolgten, und welche konkreten Vorstellungen es zurzeit auf russischer Seite Europa bzw. der Europäischen Union gegenüber gibt. Dem werden die Strategie und der Ansatz der EU gegenüber gestellt. Auch werden die einschlägigen Strategiepapiere und Zielvorgaben untersucht und in einem Zusammenhang gebracht. Hier stehen ebenso die Ziele, welche die EU mit ihrer Ostpolitik verfolgt, im Vordergrund.

Im Hauptteil des vierten Kapitels werden die völkerrechtlichen Grundlagen der Zusammenarbeit untersucht und aufgeschlüsselt. Hier wird der Weg zum zentralen Partnerschafts- und Kooperationsabkommen beleuchtet, sowie die Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Darüber hinaus werden natürlich die zentralen Aspekte der völkerrechtlichen Verträge sowie ihre Ziele, die sie verfolgen, untersucht. Im nächsten Abschnitt dieses Kapitels werden die Sachbereiche der Zusammenarbeit näher vorgestellt. Hier wird ausführlich auf die Bereiche der politischen, wirtschaftlichen, finanziellen und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit eingegangen. In Kapitel 5 wird die bisherige Kooperation die russische Enklave Kaliningrad betreffend untersucht. Da diese russische Region seit der Erweiterung der Union vom 1. Mai 2004 komplett von Mitgliedern der Europäischen Union umgeben ist, kommt der Zusammenarbeit hier enorme Bedeutung zu, da es sich hier erweist, ob konkrete und effektive Zusammenarbeit zwischen den beiden unterschiedlichen Akteuren in Angelegenheiten von substantieller Bedeutung möglich ist, oder eben nicht. Diese Region stellt einen Testfall für die zukünftige Entwicklung der Beziehungen zwischen der EU und der Russischen Föderation dar, und ist somit von entscheidender Bedeutung.

Die russischen Namen werden gemäß der wissenschaftlichen Transkription, und nicht nach der zumeist in den Medien – wie Tageszeitungen – gebrauchten Schreibweise, ins Deutsche übertragen.

3 Theoretischer Teil

3.1 Die Veränderungen der Staatenwelt nach dem Ende der Bipolarität

Mit dem Zusammenbruch des Sowjetreiches und dem Ende der Bipolarität stellte sich auch für die Theoriedebatte der internationalen Beziehungen die Frage, wie eine so umfassende Umgestaltung des Weltsystems geschehen konnte, ohne dass eine Theorie dies vorhersagen konnte bzw. vermuten hätte. In den 1990er Jahren erlebte die Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen und die Ausweitung der Interdependenzen eine neue qualitative und quantitative Ausweitung. Die Dominanz der beiden Supermächte ist vergangen – nur mehr die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) blieben als die dominierende Macht erhalten. Aber auch die Macht und Souveränität der Nationalstaaten sieht sich zunehmender Erosion ausgesetzt und Veränderungen unterworfen[5]. Nach dem Ende des Kalten Krieges gab es eine kurze Phase allgemeiner Euphorie mit Hoffnungen auf eine neue und friedliche Zukunft der internationalen Beziehungen. Doch bald folgte die harte Ernüchterung mit zahlreichen gewaltsamen Konflikten in der Dritten Welt und in Südosteuropa. Es schien so, als ob die Welt erneut zweigeteilt wäre. Ein Teil, so drängt es sich einem auf, bestand aus einer „ Zone des Friedens, der Zivilisierung und der Integration “ während der andere Teil eine „ Zone der Turbulenzen, der notwendigen Anpassung oder der Fragmentierung “ darstellte. Das internationale System befindet sich auch heute noch immer im Umbruch und hat eine neue feste Form noch nicht gefunden[6].

Die wichtigsten Veränderungen finden jedoch bei den sozioökonomischen Strukturen innerhalb der Staaten statt: die Menschen genießen wachsenden Wohlstand, bessere Ausbildung, verbesserte Kommunikation und ein gesünderes Leben. Die Welt wandelt sich von der Staatenwelt hin zur Gesellschaftswelt, wobei hier die Demokratisierung als Motor der Veränderung auftritt[7]. Durch diese Wandlung wurde auch Europa, das bis zum Zweiten Weltkrieg ein Hort der Kriege und Gewalt war, zur größten Friedenszone der Welt. Die EU galt – und sie ist es noch immer – ein Friedensprojekt, das bis zum heutigen Tage noch nicht abgeschlossen ist, und das nur durch Demokratisierung und Integration möglich war. Die Außenpolitik demokratischer Staaten wird demnach vom Wunsch bestimmt Frieden und Wohlstand zu sichern und auszubauen. Diese Veränderungen haben daher auch Auswirkungen auf das internationale System, und sind auf zweifache Weise fassbar: Während des Kalten Krieges wurde die Welt im Rahmen des weltweiten Systemkampfes durch die beiden Supermächte und deren Politik vernetzt und zusammen geklammert. Heute findet man im Gegensatz dazu eher eine Regionalisierung und ein Gemenge von vereinheitlichenden und distanzierenden Prozessen. Die gesellschaftlichen Strukturen gehen aus diesen Veränderungen zunehmend als Gewinner von Macht hervor – im Vergleich zu den staatlichen Strukturen versteht sich[8]. Die gesellschaftlichen Akteure emanzipieren sich verstärkt aus der Kontrolle des Staates, und betreiben eine eigenständige Politik. Sie vertreten das vornehmliche Ziel der Gesellschaft, nämlich die Vermehrung des wirtschaftlichen Wohlstandes. Der Sachbereich der wirtschaftlichen Wohlfahrt wird damit zum wichtigsten Teil der Politik – an ihr wird der Erfolg bzw. Misserfolg von Politik gemessen[9].

Die Sicherheit der Gesellschaftswelt kann von einzelnen Staaten nicht mehr gewährleistet werden, sondern nur durch Kooperation und Zusammenarbeit ist dies möglich. Die traditionelle Realpolitik hat aber noch kein neues Konzept erarbeitet, sondern hält an alten Vorstellungen fest – vor allem im Bereich der Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit. Die Interdependenzen und die zunehmenden gesellschaftlichen Interaktionen unterlaufen die Staaten: der Raum wird entgrenzt und die Staaten denationalisiert. Die Sicherheit der Gesellschaftswelt umfasst daher viel mehr als nur die reine militärische Verteidigungsfähigkeit von Staaten. Für die Sicherheit von entscheidender Bedeutung ist die wirtschaftliche Wohlfahrt nicht nur der eigenen Bevölkerung, sondern auch die Wohlfahrt der Bevölkerung anderer Staaten. Daneben ist die Teilhabe an der Herrschaft für weite Teile der Menschen ein ebenso wichtiger Schritt zur Sicherung des Friedens[10]. Gegen einen solchen umfassenden sicherheitspolitischen Ansatz stehen aber die militärischen Apparate der Nationalstaaten, die noch immer auf die Staatenwelt ausgerichtet sind. Dies wird sich auch so schnell nicht ändern, da die moderne Sicherheitspolitik nur über unzureichende Ressourcen verfügt um entscheidenden Einfluss zu gewinnen[11]. Dass aber die traditionelle Verteidigungspolitik in der heutigen interdependenten Welt mit ihren hochgerüsteten Armeen des 20. Jahrhunderts kaum mehr greifbare Erfolge erzielt, und sich mit der Ineffektivität der Militärapparate herumschlägt, ist ein klares Zeichen, dass Veränderungen im Denken absolut notwendig sind.

Die wirtschaftlichen Interdependenzen erzeugen Kooperation, da ein einzelner Akteur seine Ziele nur mehr dann erreichen kann, wenn er mit anderen Akteuren zusammenarbeitet. Im Bereich der wirtschaftlichen Wohlfahrt ist diese Kooperation bereits unumstritten, im Bereich der Sicherheit jedoch noch nicht voll akzeptiert, obwohl ihre Wichtigkeit evident ist. Einher damit geht auch eine Umorientierung der Außenpolitik – zumindest in Europa: weg vom Krieg, hin zur Friedenssicherung. Als einen Ausdruck dieses Systemwandels und der Umorientierung der Staaten kann die „ Charta von Paris für ein neues Europa “, welche Kooperation und Zusammenarbeit zur gemeinsamen Sicherung des Friedens festschreibt, herangezogen werden[12].

3.2 Theorie der internationalen Beziehungen und Kooperation nach Ende des Kalten Krieges: der Neoliberale Institutionalismus

Was bedeuten nun diese Veränderungen der internationalen Staatenwelt für eine Theorie der internationalen Beziehungen? Die Beziehungen zwischen der EU und der Russischen Föderation beruhen in erster Linie auf Kooperation und friedlicher Zusammenarbeit, und daher ist es von Bedeutung, ob Kooperation in der internationalen Staatenwelt überhaupt langfristig möglich ist, wie Kooperation entsteht, stabilisiert wird und eventuell auch weiter ausgebaut werden kann. Eine Theorie der internationalen Beziehungen hat heute in erster Linie die Aufgabe die zunehmende Diversifizierung der einzelnen Theorien zu überwinden. In der Theoriediskussion lassen sich verschiedene Phasen ausmachen. Von den 1920er bis in die 1940er Jahren war das Streben nach Frieden im internationalen System das entscheidende Motiv. Hier wurde die Debatte zwischen den Realisten und Idealisten geführt. Anlassfall war das Versagen des Völkerbundes sowie der Idee der kollektiven Sicherheit angesichts der aggressiven Expansion mehrerer Mächte (NS-Deutschland, Italien, Japan). In der Zeit bis in die 1970er Jahre ging es vor allem um die Frage von Macht in den Debatten zwischen Realisten und Globalisten. Hier standen die Prozesse der zunehmenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verflechtung im Vordergrund. Die Zunahme von neuen nichtstaatlichen Akteuren in den internationalen Beziehungen, welche die Souveränität der Nationalstaaten teilweise unterliefen (Stichwort der Erosion des Staates) stand ebenfalls im Zentrum der Debatte.

Eine dritte große Debatte fand in den 70er und 80er Jahren, vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Ökonomisierung von Politik sowie einer Politisierung der Ökonomie, zwischen Globalisten und Neo-Realisten statt[13]. Heute kann man eine vierte große Debatte ausmachen, die neben inhaltlichen und methodischen Problemen auch eine radikal-postmoderne Komponente aufweist. Sie zerfällt in zwei Teile: einerseits gibt es die Diskussionen zwischen den Vertretern des (Neo-)Realismus und seinen Herausforderern; diese Herausforderer werden meist unter der Bezeichnung „Neoliberalismus“ zusammengefasst. Hier stehen Fragen über Sinn, Zweck, Ziel und Stabilität internationaler Kooperation und Integration im Vorgrund. Als zweiter Teil der Debatte findet eine eher meta-theoretische Diskussion um die allgemeinen heuristischen Grundlagen des Faches statt[14].

Im Neoliberalen Institutionalismus ist die zentrale Frage unter welchen Bedingungen Kooperation in einer Welt von Egoisten entsteht, in der es keine zentrale Autorität und Ordnungsmacht gibt. Dieser theoretische Ansatz knüpft an klassische realistische Grundannahmen an, aber er greift auch Elemente des Liberalismus auf und erweitert diese. Die Staaten sind auch hier weiterhin die Hauptakteure des internationalen Systems, wobei es neben ihnen noch andere Akteure gibt, die einen jeweils unterschiedlichen Einfluss ausüben. Die Akteure im neoliberalen Institutionalismus haben aber nicht wie die Staaten im Realismus nur ihr eigenes Überleben und die Verteidigung ihrer Position in der Hierarchie der internationalen Staatenwelt im Sinn, sondern versuchen mit ihrer Rationalität – als rationale Egoisten sozusagen – im internationalen System die Maximierung des Nutzens der Kooperation erreichen, sowie eine Netto-Mehrung der eigenen Wohlfahrt[15]. Der neoliberale Institutionalismus wurde von Robert O. Keohane begründet, und gilt als Paradebeispiel für das „kooperative Paradigma“ in der Weltpolitik. Dieser Ansatz besagt mit seiner Institutionalisierungshypothese, dass nicht die Anarchie des internationalen Systems maßgebliche strukturelle Effekte auf das Verhalten von Regierungen ausübt, sondern Intensitätsschwankungen im Institutionalisierungsgrad der internationalen Beziehungen[16].

Warum sollen also Staaten und andere Akteure in einem derartigen Umfeld das Wagnis einer Kooperation eingehen? Eine Annahme ist, dass Akteure aus wohlverstandenem, rational kalkuliertem Eigeninteresse heraus eine Kooperation eingehen. Die Akteure unter einer solchen Annahme sind nicht ausschließlich Staaten, sondern es können auch Organisationen, Interessensgruppen oder Individuen sein. Die Grundannahme der Akteure ist dabei entweder optimistisch, nämlich, dass Kooperationsvorleistungen in der Zukunft beim Partner eingeholt werden können, oder die Grundannahme ist pessimistisch, dass ein nicht zu Stande kommen von Kooperation in Zukunft negative Auswirkungen haben könnte[17]. Jeder Akteur hilft bei dieser rationalistischen Annahme von Kooperation dem anderen, um ihre Ziele zu erreichen. Zwei Voraussetzungen müssen aber hierfür gegeben sein: zum Ersten die Annahme, dass sich die Akteure rational und zielgerichtet verhalten, wobei die Akteure aber durchaus unterschiedliche Ziele verfolgen können. Zweitens muss die Kooperation den Akteuren Gewinn bzw. Belohnung versprechen, wobei die Gewinne bzw. Belohnungen für die einzelnen Akteure weder gleich groß noch von der gleichen Art sein müssen[18]. Kooperation setzt generell eine Schnittmenge von gemeinsamen Interessen voraus – meist ist eine Mischung aus komplementären und divergierenden Interessen der Akteure vorherrschend. Kooperation entsteht unter diesen Voraussetzungen dann, wenn die einzelnen Akteure ihr Verhalten an die tatsächlichen oder antizipierten Präferenzen der anderen Akteure anpassen. Kooperation kann aber auch als eine Antwort auf den aus Interdependenz- und Verflechtungsproblemen resultierenden internationalen Problemlösungsbedarf verstanden werden[19].

Von welchen Annahmen geht der neoliberale Institutionalismus sonst noch aus? Gleich wie der Realismus geht der neoliberale Institutionalismus von der Anarchie der internationalen Staatenwelt aus. Dies bedeutet, dass die internationalen Beziehungen nicht geregelt sind – es fehlt eine übergeordnete Macht, die mit Zwangs- und Ordnungsgewalt ausgestattet ist. Anarchie bezeichnet in diesem Zusammenhang also nicht Chaos, Willkür und das fehlen jedweder Ordnung, sondern nur das Fehlen eines effektiven internationalen Regimes[20]. Dennoch sieht der Neoliberale Ansatz – um dies nochmals zu betonen – die Anarchie nicht als den starken Faktor an, als den ihn der Realismus ansieht. Kooperation und Verflechtung werden als Friedensstrategie zur Überwindung eben dieser Anarchie angesehen[21]. Global ist Anarchie in der Staatenwelt noch vorhanden, doch innerhalb der stark institutionalisierten europäisch-atlantischen Welt ist sie kaum mehr präsent. Die Isolierung der Staaten durch die Anarchie wie sie der Realismus sieht ist eine wichtige Ursache von Gewalt, da die Staaten dadurch keine verlässlichen Informationen über andere Staaten erhalten und dies Unsicherheiten und entsprechende Reaktionen erzeugt bzw. geradezu provoziert. Durch internationale Kooperation lassen sich diese Unsicherheiten und das daraus resultierende Konfliktpotential am besten reduzieren[22].

Kooperation ist also möglich und auch notwendig um die Sicherheit der Staaten zu gewährleisten. Die Kooperation kann daher längerfristig aufrechterhalten werden, und sie ist dabei weniger abhängig von der Staatsmacht. Sicherheit und Wohlstand sind die entscheidenden Kriterien für den Erfolg eines Staates, und diese Ziele lassen sich nur durch Kooperation und deren Institutionalisierung erreichen; Institutionen sind daher von entscheidender Bedeutung für friedliche internationale Beziehungen[23]. Dieser institutionalisierte Kooperationsrahmen gründet sich nicht auf einer Harmonie der Interessen, sondern – wie bereits weiter oben erwähnt – auf einem rationalen Egoismus der Akteure. Die Akteure erwarten sich Gewinne aus der Zusammenarbeit, wobei die relativen Gewinne der anderen auch höher sein können als die eigenen – wichtig sind nur die absoluten Gewinne die aus der internationalen Kooperation erwachsen. Der realistische Theorieansatz geht hingegen davon aus, dass Staaten nur an den eigenen, relativen Vorteilen interessiert sind. Sollten andere Staaten mehr Vorteile aus einer Kooperation ziehen, so sind sie eher geneigt die internationale Zusammenarbeit zu beenden[24]: „…the fundamental goal of states in any relationship is to prevent others from achieving advances in their relative capabilities...[25] Das Konzept der relativen Vorteile wird jedoch immer anachronistischer, je mehr Akteure an der Kooperation beteiligt sind, deshalb bietet der neoliberale Ansatz mit Betonung der absoluten Vorteile eine bessere Erklärung warum Staaten internationale Kooperationen eingehen und erhalten[26].

Bei der Kooperation gibt es drei gewichtige Faktoren, welche die Zusammenarbeit beeinflussen. Zu Beginn ist das Vorhandensein eines gemeinsamen Interesses von entscheidender Bedeutung. Nur durch gemeinsame Interessen an Problemlösungen bzw. an Gewinnmöglichkeiten sind Staaten bereit mit anderen Staaten zusammenzuarbeiten. Im politisch-wirtschaftlichen Bereich ist die Kooperation im heutigen internationalen System zumeist kein großes Problem mehr, während im militärisch-sicherheitspolitischen Bereich die Vorbehalte zu einer engen Kooperation weiterhin stark sind. Als zweiter Faktor kann der „Schatten der Zukunft“ festgemacht werden. Unter diesem Schlagwort sind die Bedenken über die Zukunft zu verstehen: dies bedeutet, dass eine heute abgelehnte Kooperation in Zukunft Nachteile haben könnte bzw. dass eine heute eingegangene Kooperation in Zukunft Gewinne abwerfen könnte. Daher kann der „Schatten der Zukunft“ ein effektiver Unterstützer von Kooperation sein. Folgende Punkte sind hierbei aber noch zu berücksichtigen: die Langfristigkeit der Kooperation; der reguläre Einsatz von Mitteln; die Verlässlichkeit der Informationen über die Aktionen des anderen; ein schnelles Feedback über Veränderungen in den Aktionen des anderen. Institutionen spielen hierbei eine wichtige Rolle, denn sie beeinflussen die Erwartungen sowie das Verhalten der Akteure; auch wird Fehlverhalten bestraft, und zieht negative Konsequenzen nach sich[27]. Als dritter Faktor bestimmt noch die Zahl der Akteure über die Effektivität der Kooperation, vor allem wenn es darum geht Verstöße zu sanktionieren. Reziprozität kann hierbei helfen Kooperation unter Akteuren, die ihr Eigeninteresse verfolgen, zu steigern[28].

Die bereits vielfach erwähnte besondere Bedeutung von internationalen Institutionen soll nun noch deutlicher heraus gearbeitet werden. Die aus der internationalen Kooperation heraus entstandenen Institutionen, Regime, internationale gouvernementale Organisationen und internationale nicht-gouvernementale Organisationen sind für die Struktur des internationalen Systems und für das Verhalten seiner Akteure von größter Bedeutung, denn diese Kooperationsstrukturen erfüllen einige wesentliche Punkte. Zum einen prägen und definieren sie die Rahmenbedingungen für das Handeln der politischen Akteure und deren Verhalten, u.a. „ durch die Konstituierung und Legitimierung politischer Rollen, durch die Festlegung von Verhaltensregeln für die in den Institutionen Tätigen, durch das Setzen von Maßstäben für die Einschätzung und Bewertung der Realität, durch das Vorhalten von Rahmen für effektive Beziehungen, durch die Schaffung von Voraussetzungen für Zielgerichtetes Handeln und durch die Setzung von Regeln für den Besitz und die Nutzung politischer Macht [29]. Diese Kooperationsstrukturen überleben auch ohne Hegemon, weil

- sie den Informationsstand der Akteure verbessern;
- die Beendigung der Kooperation Kosten verursacht;
- sie Paketlösungen durch Verknüpfung von Problembereichen fördern, und dadurch Lösungen erreicht werden, die sonst nicht möglich gewesen wären;
- sie die rationale Definition des Eigeninteresses der Akteure beeinflussen;
- sie die Transaktionskosten des Aushandelns von internationalen Abkommen reduzieren[30]

Der rationale neoliberale Institutionalismus nimmt an, dass kooperationswillige Staaten immer ein institutionelles Rahmenwerk bevorzugen, das durch einen Interessensmix und gut abgesicherte Dauerhaftigkeit gekennzeichnet ist. Diese Institutionen werden daher von den Staaten benutzt, um ihre Ziele erreichen zu können bzw. um Handlungen zu unternehmen, die sonst nicht möglich gewesen wären. Daher bestimmt – unter Annahme der eben aufgezählten Faktoren – nicht der Naturzustand der Anarchie die Institutionalisierung internationaler Beziehungen, sondern der geschaffene Kulturzustand produziert die maßgeblichen strukturellen Effekte dauerhafter Kooperation[31].

Zuletzt bleibt noch zu klären, woher Gewalt im internationalen System stammt. Eine der Ursachen für Gewalt findet sich in den autoritären Herrschaftsstrukturen eines Landes begründet, da der Entwicklungsstand einer Gesellschaft und deren herrschaftliche Verfassung großen Einfluss auf die Außenpolitik ausüben. Die bereits öfters erwähnte Anarchie des internationalen Systems ist eine zweite Gewaltursache, die nur durch Kooperation innerhalb von Institutionen kontrollierbar gemacht werden kann. Eine weitere Ursache ist die Machtverteilung im internationalen System. Eine Hegemonie eines bestimmten Staates kann als ungerecht und falsch empfunden werden, und dagegen wird angekämpft und aufbegehrt. Die europäische Geschichte ist voll mit Abfolgen von Hegemonien, Herausforderern und den dazugehörigen Kriegen. Diese drei Gewaltursachen sind struktureller Natur, und haben weitreichende Auswirkungen auf das internationale System. Die vierte Gewaltursache, das Verhalten von Interessensgruppen, gehört zu den Prozessen der internationalen Politik. Zu diesen Interessensgruppen gehören jene gesellschaftlichen Akteure die sich erst seit jüngster Zeit im internationalen System bemerkbar machen: Umweltschutzgruppen, organisierte Kriminalität, diverse NGO’s und dergleichen. Eine weitere Gewaltursache die zu den Prozessen der internationalen Politik gezählt werden kann, ist die mangelnde Kontrollfähigkeit der Politik und des Militärs über

alle ablaufenden Prozesse in den internationalen Beziehungen. Durch die Komplexität der ablaufenden Interaktionen zwischen Akteuren, gesellschaftlichen Umfeldern und Systemen können Missverständnisse entstehen und somit Gewalt hervorbringen[32].

All diese Prozesse sind gesellschaftlich konstruiert, was bedeutet, dass ihre Erscheinungsform, ihre Ausprägungen und ihr Wirkungsgrad maßgeblich von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bestimmt werden. Dies bedeutet aber auch, dass sie durch politische Maßnahmen unter Kontrolle gebracht, sowie in weiterer Folge auch verringert werden können. Vor allem die beiden großen Gewaltursachen – die Anarchie des internationalen Systems sowie die autoritäre Verfassung von Herrschaftssystemen – können daher durch gezielte politische Maßnahmen verringert werden[33].

Fasst man die Theorie des Neoliberalen Institutionalismus zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Die Hauptakteure des Systems sind weiterhin die einzelnen Staaten, wobei jedoch ein Trend zur Denationalisierung und Entgrenzung herrscht, der die herkömmlichen Strukturen unterläuft. Eine Folge dessen ist, dass immer mehr gesellschaftliche Akteure als neue Komponenten des internationalen Systems auftreten und ihre Ideen einbringen, aber es sind weiterhin nur die Staaten in der Lage effektive internationale Institutionen zu schaffen und zu erhalten. Die Staaten handeln aus Eigeninteresse mit rationalem Verhalten, um Vorteile aus der Kooperation mit anderen Staaten zu ziehen, wobei die relativen Vorteile nicht unbedingt größer sein müssen, als die der anderen Staaten, sondern die absoluten Vorteile müssen überwiegen. Rationales und soziales Handeln in der internationalen Staatenwelt ist nur im Rahmen von Institutionen möglich, deshalb nehmen Institutionen auch einen so hohen, wenn nicht den entscheidenden Stellenwert ein. Kooperation entsteht nur aus gemeinsamen Problemfeldern bzw. Interessensgebieten, wobei keine Harmonie der Interessen herrscht, sondern eine Mischung aus komplementärer und divergierender Interessen. Die Anarchie des internationalen Systems kann nur durch Kooperation innerhalb von Institutionen überwunden werden, und nur dadurch können die Hauptziele der Staaten, nämlich Sicherung von Wohlstand und Frieden erreicht werden.

3.3 Hypothesen und Forschungsleitende Fragestellungen

Diese vorgestellte Theorie dient als Rahmenbedingung für die Diplomarbeit. Nach der Erweiterung der Europäischen Union nach Osten wird das Verhältnis zwischen ihr und der Russischen Föderation von entscheidender Bedeutung für die Stabilität des Friedens und die Sicherung des Wohlstandes in Europa sein. Die EU fördert die Demokratisierung und Stabilisierung in Osteuropa und in der Russischen Föderation, wobei ihre Einwirkungsmöglichkeiten von außen auf den großen russischen Staat begrenzt sind. Eine Veränderung muss also in erster Linie von innerhalb erfolgen – innerhalb der russischen Gesellschaft und des russischen Staates. Die EU kann daher vor allem Strukturen schaffen, die einen Krieg bzw. gewalttätige Auseinandersetzungen verhindern und den Wandel der Gesellschaft und des Staates unterstützen[34].

Beide Akteure, so die Hypothese, sind an Kooperation und Zusammenarbeit interessiert. Die Europäische Union in erster Linie aus der Motivation ein verlässliches und berechenbares Russland an seinen Grenzen zu haben. Nur wenn in der Russischen Föderation die Menschen am Wohlstand teilhaben können, sowie der russische Staat seinen Platz im internationalen System findet, nur dann kann Frieden und Stabilität in Europa gewährleistet werden. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, war und ist die Suche nach einem Platz für den gewaltigen russischen Staat im europäischen Staatensystem ein Grund für zahllose Konflikte und Kriege. Die Union ist daher an einem wirtschaftlich stabilen und demokratischen Russland sehr interessiert. Die Teilhabe der Bürger an der Macht sowie die Stärkung aller demokratischen gesellschaftlichen Akteure ist ein wesentlicher Beitrag zur Veränderung und Demokratisierung der russischen Gesellschaft und somit des herrschaftlichen Systems. Die EU bemüht sich daher die Kooperation innerhalb von Institutionen zu etablieren, und wirtschaftliche Zusammenarbeit von demokratischen Voraussetzungen abhängig zu machen. Der Bereich der Grund- und Menschenrechte spielt vor allem im Hinblick auf die kriegerischen Auseinandersetzungen in Tschetschenien eine herausragende Rolle. Die Kooperation erfolgt auf breiter Fläche, um möglichst viele Bereiche abzudecken. Das Hauptaugenmerk liegt dabei aber auf der Zusammenarbeit im wirtschaftlichen Bereich, da hier am ehesten Fortschritte möglich erscheinen.

Die Russische Föderation hingegen ist noch immer auf der Suche nach einer nationalen Identität und nach einem „angemessenen“ Platz in der Staatenwelt. Das Denken der russischen Elite wird weiterhin stark von klassischen sicherheitspolitischen Aspekten geprägt, wie die Auseinandersetzungen rund um die NATO Erweiterung deutlich machen, während die EU-Erweiterung lange Zeit kaum in den Diskussionen vorkam, obwohl sie in einer interdependenten Welt, die vor allem auf wirtschaftliche Wohlfahrt beruht, die wahrscheinlich größeren Auswirkungen haben wird als die NATO Erweiterung, die noch in die Staatenwelt gehört. Demnach liegen die Interessen der Russischen Föderation in erster Linie auf Anerkennung der eigenen Position im internationalen System und auf eine Stärkung bzw. Wiedererlangung der „alten Macht und Größe“, die vor allem durch wirtschaftliche Kooperation mit dem Westen und durch Mitgliedschaft in allen wichtigen politischen Organisationen erreicht werden soll. Die Förderung von Demokratie und Partizipation breiter Schichten der Bevölkerung an der Macht ist hingegen von geringerem Interesse. Deshalb wird die Russische Föderation nur in jenen Bereichen kooperieren, in denen sie unmittelbare Vorteile ausmachen kann, und die ihre Position stärken.

Die zentralen Forschungsfragen dieser Diplomarbeit drehen sich um den Bereich der Zusammenarbeit zwischen der EU und der Russischen Föderation. Welche Ziele verfolgen beide Akteure in einem Europa, dass von fortschreitender Integration geprägt ist? Welchen Einfluss üben sie dabei aufeinander aus, und über welche Einrichtungen? Welche Kooperationsformen erweisen sich als effektiv und stabil, welche nicht? Von Interesse ist aber auch wie bestehende Formen der Kooperation umgesetzt werden, und welche Probleme dabei entstanden sind. Eine weitere wichtige Frage ist, ob bestehende Kooperationsformen als erfolgreich eingestuft werden können, oder ob Nachbesserungen für die Zukunft notwendig erscheinen.

3.4 Methodik

Der Gewinn der notwendigen Informationen erfolgt durch qualitative Methoden – in erster Linie aus den entsprechenden offiziellen Dokumenten und Strategiepapieren sowie in zweiter Linie aus der vorhandenen Fachliteratur. Die Auswahl der Primärliteratur erfolgt nach der Aufgabenstellung, doch können nur die wichtigsten Dokumente zur Untersuchung herangezogen, was dem Autor auch ausreichend erscheint. Auch bei der Sekundärliteratur muss wegen des vorhandenen Umfangs eine mehr oder weniger selektive Auswahl getroffen werden, wobei die Auswahl der Sekundärliteratur nach den Maßstäben wissenschaftlicher Publikationen erfolgt. Des Weiteren wurde versucht ein möglichst breites Spektrum an unterschiedlichen Meinungen zu erfassen, um Eingleisigkeiten in der Untersuchung zu verhindern.

An die Erhebungstechnik sind generell zwei Anforderungen zu stellen: Reliabilität (Verlässlichkeit) und Validität (Gültigkeit) der erhobenen Informationen. Dies bedeutet, dass die gewonnen Informationen durch die gleiche Erhebungsprozedur auch von anderer Seite erzeugt werden können, und dass die Erhebungsverfahren dann Gültigkeit besitzen, wenn sie genau jene Merkmale erfassen, die zur Beantwortung der Forschungsfragen erforderlich sind. Die qualitative Forschung betont bei der Reliabilität darüber hinaus eher die Kritik an den Quellen und bei der Validität nicht so sehr die Qualität des erhobenen Materials, sondern legt Wert auf die Kontextualisierung. Die Auswertung des zusammengetragenen Materials erfolgt mittels Dokumenten- und Inhaltsanalyse. Ein zentrales Erhebungsinstrument bei der Inhaltsanalyse ist der Analyseleitfaden. Hier wird mit einer Liste von Fragen an den Text herangetreten, und diese Fragen müssen zur Beantwortung der zuvor gestellten Forschungsfragen einen Beitrag leisten bzw. durch die Fragen müssen die gesuchten Informationen aus dem Text gewonnen werden können. Ein weiterer Weg zur Inhaltsanalyse ist die Aufstellung eines inhaltsanalytischen Kategorieschemas, in dem eine Reihe von Begriffen Passagen aus ausgewerteten Texten zugeordnet werden. Die Texte werden daraufhin analysiert und die entsprechenden Textstellen werden gemäß den zuvor definierten Kategorien aufgeschlüsselt[35].

Bei der Analyse und Aufarbeitung von Textdokumenten steht dabei das „Verstehen“ im Mittelpunkt, und dieses Verstehen wird durch inhaltsanalytische Interpretationsverfahren und/oder hermeneutische Verfahren angestrebt. Die Hermeneutik lehrt, dass ein Teil immer nur durch das Ganze verstanden werden kann – das also ein Textteil immer nur durch das Verständnis des Gesamten erfahren werden kann. Es geht darum, den geborgenen Informationsgehalt ausfindig zu machen. Die Hermeneutik wurde zwar lange Zeit als die vorrangige Methode der Geisteswissenschaften angesehen, doch hat sie auch einen festen Platz in der qualitativen Forschung[36]. Durch dieses hermeneutische Verfahren wird versucht den Sinn des Textinhalts in Bezug auf die historisch-politische Situation zu entschlüsseln und intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Bei den ausgewählten Quellen ist daher die Quellenkritik und Quellenanalyse von besonderer Bedeutung. Dies bedeutet, dass hinterfragt werden muss wer hinter der Veröffentlichung steht, in welchem Zusammenhang das Textdokument steht, welche Intention es verfolgt und welchen Verzerrungen es ausgesetzt ist. Dies ist sowohl bei Texten der Primär- als auch der Sekundärliteratur notwendig. Durch qualitative Inhaltsanalysen wird versucht die Semantik von Texten durch einen Sinnverstehenden Zugang zum Kontext von Begriffen, von Texten und zur Entstehungsgeschichte des Textes zu entschlüsseln. Auf Experteninterviews wurde verzichtet, da sich zu allen wichtigen Fragestellungen dieser Arbeit aussagekräftige Dokumente und Texte finden ließen.

4 Die Beziehungen zwischen der erweiterten Europäischen Union und der Russischen Föderation

4.1 Geschichtlicher Abriss: der Zerfall der UdSSR

Das Lebensgefühl in der späten Sowjetunion beschreibt folgende Aussage sehr gut: „ der erste Lockführer (Lenin) brachte ihn [den Zug], wenn auch unter Mühen, in Bewegung. Als er aus dem Amt schied, kam ein neuer (Stalin). Ihm ging nichts schnell genug, und so ließ er den Heizer, einen Teil des Zugpersonals und etliche Fahrgäste erschießen. Als er sein Amt aufgeben musste, kam jemand, der sagte, wir müssen alles anders machen (Chruščov). Er redete den Fahrgästen gut zu, änderte die Reihenfolge der Waggons, ließ den Kohlewagen vorne, hängte die Lokomotive hinten an und ließ den Zug fortan schieben. Eine Revolte des Personals beendete diese Versuche. Der neue Chef (Brežnev) war einer von ihnen. Unter ihm kam der Zug endgültig zum Stehen. Was den Neuen an der Spitze nur zu der Reaktion veranlasste: Ziehen wir die Vorhänge zu und stellen uns vor, wir würden weiterhin fahren[37] Es herrschte also ein Gefühl der Stagnation in jeder Richtung, und das Gefühl war weit verbreitet, dass die überalterte Führung nicht in Lage sei, das Land aus der Sackgasse zu befreien. Generalsekretär Leonid I. Brežnev starb am 10. November 1982 nach langer Krankheit. Am Ende seiner Ära sah sich die Sowjetunion nicht nur mit einer Reihe von wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, sie befand sich auch in einer schwierigen außenpolitischen Situation durch den seit 1979 andauernden Krieg in Afghanistan[38]. Noch am selben Tag entschied sich das Politbüro für Jurij V. Andropov als Nachfolger Brežnevs, und bereits einen Tag später wurde Andropov durch ein außerordentliches Plenum des Zentralkomitees bestätigt. Doch der neue Generalsekretär starb bereits am 9. Februar 1984 nach längerer Krankheit. Auch sein Nachfolger, Konstantin U. Černenko, starb nach nur 13 Monaten im Amt, am 10. März 1985[39].

Durch den Tod zweier Generalsekretäre innerhalb kurzer Zeit wurden die notwendigen Reformen weiter verzögert. Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) befand sich in einem allgemeinen Modernisierungsrückstand gegenüber dem Westen, die Versorgung der rasch wachsenden Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln musste verbessert werden, und durch die enorme Zentralistisierung und Bürokratisierung wurde die Ineffizienz und Korruption zu einem zunehmenden Problem. In Andropov und Černenko wurden große Hoffnungen gesetzt das System zu reformieren bzw. zu verbessern. Doch der neue Kurs bestand zunächst nur aus größerer Härte, mit der die „alten Werte“ des Systems angewandt wurden, um die Menschen zu mehr Leistungen zu

„motivieren“. Es wurden Polizei- und Militärkontrollen von Arbeitsplätzen und Geschäften eingeführt, um Verweigerer und dem Schwarzmarkt auf die Spur zu kommen. Darüber hinaus gab es eine maßlose Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, eine ideologische Unbeugsamkeit und es wurde weiterhin auf einen Militär-Patriotismus vertraut. In der Außenpolitik wurden Veränderungen ebenfalls vergebens gesucht; der Feldzug in Afghanistan wurde trotz aller Kosten und Widerstände weitergeführt, und im Bezug auf den Westen wurden keine wesentlichen Veränderungen vorgenommen[40]. Černenko war aber nicht der Mann der Veränderung, sondern er war nur am Erhalt des Status quo interessiert, und daher ließ er auch die Entwicklungen, die unter Andropov begonnen worden waren, weiterlaufen. Černenko war durch seine Krankheit auch kaum mehr in der Lage zu führen, und so wurde er immer häufiger von seinem Sekretär Gorbačov vertreten – auch im Ausland. In den Führungsschichten der KPdSU setzte sich in der Folge immer mehr die Erkenntnis durch, dass Veränderungen unbedingt notwendig wären um das Land zukunftsfähig zu machen[41].

Gorbačov wurde bereits einen Tag nach dem Tode Černenkos (11. März 1985) als sein Nachfolger bestätigt. Der neue Generalsekretär ging sofort daran seine Position innerhalb der Partei zu stärken. In einem ersten Schritt wurde mit einer Überprüfung und Neuformierung der Parteikader begonnen. Knapp zwei Jahre später, im März 1987, waren nur noch 16 % der Sekretäre, und nur mehr rund 10 % der Abteilungsleiter aus der Brežnev-Zeit im Amt. Auch die Provinzchefs der Partei wurden von den Veränderungen erfasst; von 159 Sekretären der Gebiete und Kreise mussten 100 ihren Posten räumen[42]. Auch im Politbüro setzten entscheidende Veränderungen ein, indem Konkurrenten hinausgedrängt wurden, um durch fähige Verbündete ersetzt zu werden. Besonders zu nennen sind hier Jegor Ligačev, Nikolaj Ryškov und Boris El’cin. Nur das Zentralkomitee (ZK) blieb vom Generationenwechsel eine Zeitlang verschont[43]. Einher mit diesen Entwicklungen ging auch eine Öffnung des Systems, eine neue Offenheit. Die Schlagworte „Glasnost“ (Offenheit) und „Perestrojka“ (Umbau, Umgestaltung) wurden zu allgemeinen Losungen der Veränderungen, und gingen auch in den westlichen Sprachgebrauch über. Öffentliche Kritik Missstände betreffend war nun nicht mehr tabu und sie setzte auch rasch ein. Verbunden mit Kampagnen gegen Korruption, Amtsmissbrauch, mangelnde Disziplin am Arbeitsplatz usw. erzeugte sie jedoch eine fatale Wirkung, da nicht der Erneuerungswille der Führung gezeigt wurde, sondern nur das Ausmaß der Verfehlungen, der Missstände und der Fehler der Parteienherrschaft deutlich offenbart wurde[44]. Auch führten zwei Katastrophen unmissverständlich vor Augen, dass es mit der neuen Offenheit des Systems noch nicht so weit her war: Das schwere Erdbeben in Armenien am 7. 12. 1988, aber in noch viel stärkerem Ausmaß das Verhalten der Führung nach der Reaktorkatastrophe von Černobyl in der Ukraine am 26. April 1986. Besonders das letztere Ereignis führte die Notwendigkeit von beschleunigten Reformen deutlich vor Augen, was dann auch Gorbačov stärkte.

Der Generalsekretär der KPdSU unterbreitete am 27. und 28. Januar 1987 dem ZK-Plenum weitere Vorschläge zur Reform. Er betonte, dass es nicht nur um wirtschaftliche Modernisierung gehe, sondern eine gesamtgesellschaftliche Erneuerung notwendig sei. Doch der Widerstand gegen seine Reformpläne wuchs. Es wurde immer stärker vor einem Zuviel an Glasnost und Perestrojka gewarnt. Einflussreich wurde in weiterer Folge auch das im November 1988 erschienene Buch von Gorbačov über das „neue Denken“, welches notwendig sei („Die Perestrojka und das neue Denken für unser Land und für die ganze Welt “). Am 19. Parteitag vom 28. Juni bis 1. Juli 1988 unterbreitete Gorbačov seine Vorschläge für die Entwicklung der UdSSR zu einem demokratischen Rechtsstaat[45], und die Reformvorschläge wurden gebilligt. Es wurden umfangreiche Wirtschaftsreformen durchgeführt mit der Absicht die zentrale Planungswirtschaft zurückzunehmen und mehr Markt und Konkurrenz zuzulassen, ebenso mehr Eigeninitiative und Selbstverantwortung. Doch bald stellte sich ein Zustand ein, in dem das Alte nicht mehr funktionierte, und das Neue auch noch nicht. Die Gräben in der Partei wurden indes immer tiefer. Boris El’cin wurde nach harten Attacken auf die Altkonservativen aus dem Politbüro ausgeschlossen, doch konnte er bei den Wahlen zum neuen Volksdeputiertenkongress in seinem Stimmkreis in Moskau einen überwältigenden Sieg erreichen. Im Jahr 1990 wurde auch das Machtmonopol der KPdSU aufgehoben, und es entstand in rascher Folge eine Reihe von neuen Parteien, wobei das Spektrum zunehmend unübersichtlicher wurde[46].

Durch die neue Offenheit wurde auch die Aufarbeitung der Geschichte eingeleitet, was zu heftigsten Auseinandersetzungen und Diskussionen führte. Es kam aber auch zu Eruptionen von nationalen Gegensätzen, die sich nun ihren Weg bahnten – vor allem im Kaukasusgebiet. In den Randrepubliken der UdSSR – in erster Linie im Baltikum – fand eine Öffnung zu einem neuen Nationalbewusstsein statt, und es wurden zunehmend Forderungen nach Souveränität und in weiterer Folge nach Austritt aus der UdSSR laut[47]. Der Prozess, der von Gorbačov eingeleitet worden war, war verantwortlich für den Umbruch. Gorbačov hatte ein „neues Denken“ gefordert, aber er wollte das System reformieren und nicht abschaffen. Die alten Ziele und Machtstrukturen behielt er bei, denn Glasnost sollte die Fehler des alten Systems offen legen und in weiterer Folge beseitigen, doch führte diese Öffnung zu einer Eigendynamik mit eigenen, neuen Zielen, die mit den alten nicht kompatibel waren. Die neuen Kräfte, die ihre Legitimität meist aus ethnischen, ökologischen, sozialen und historischen Faktoren in Bezug auf ihren Widerstand gegen das Zentrum bezogen, unterstützten Gorbačov nicht mehr, sondern stellten die sowjetische Staatlichkeit, und damit das sowjetische System in Europa in Frage[48].

Das Jahr 1989 brachte dann die Umbrüche von weltgesellschaftlicher Bedeutung. Mit den Gesprächen am „Runden Tisch“ in Polen wurde das Machtmonopol der Kommunistischen Partei praktisch aufgehoben, was Folgewirkungen für die anderen sowjetischen Satellitenstaaten haben sollte. Denn ein Überleben der Regime in Osteuropa war nur mit Hilfe von Moskau möglich, aber Moskau kämpfte selbst um sein Überleben. Das Ende der sowjetischen Herrschaft in Osteuropa wurde durch die Massenflucht von Bewohnern der DDR und die Öffnung der Grenzen in Ungarn eingeleitet. In rascher Folge folgten der Fall der Berliner Mauer, der Sturz der Regime in Bulgarien und der Tschechoslowakei sowie das Ende der rumänischen Ceausescu-Diktatur[49]. Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa erfolgten auch die Veränderungen in der UdSSR immer schneller. Vor allem der Abzug der Roten Armee aus den ehemaligen verbündeten Staaten und die damit verbundene Demobilisierung von rund zwei Millionen Mann sorgte für weitere Unruhe. Gorbačov, der zwar im Ausland hoch angesehen war, verlor im Inland immer mehr an Rückhalt. Ab Sommer 1989 kam es wiederholt zu Streiks, Unruhen und Demonstrationen; die wirtschaftliche Lage war weiterhin katastrophal, da die alten Strukturen der Planwirtschaft kollabierten, die Inflation erschreckende Ausmaße erreichte, der Schwarzhandel rapide zunahm und die Kriminalität stark anstieg[50]. Am 11. März 1990 erklärte der Oberste Sowjet Litauens seine Unabhängigkeit und Loslösung von der UdSSR. Eine Wirtschaftsblockade war die Folge, doch die Abspaltung der Randrepubliken hatte bereits begonnen. Entscheidend bei der Auflösung der UdSSR war die Entwicklung in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) wo Boris El’cin am 29. Mai 1990 zum Präsidenten gewählt worden war. Die RSFSR erklärte im Juni 1990 ihre Souveränität, und behielt sich das Recht auf Austritt aus der Union ausdrücklich vor. Im Laufe des Jahres 1990 erklärten alle 15 Unionsrepubliken ihre nicht näher definierte Souveränität[51].

Die alten Mächte zeigten jedoch noch einmal in Litauen ihre Bereitschaft das sowjetische System zu erhalten, als sie mit Gewalt gegen die Abspaltungsversuche zu Beginn 1991 vorgingen, aber scheiterten. Als letzte Chance die UdSSR zu retten sah Gorbačov in der Möglichkeit einer neuen Verfassung; das Votum darüber war aber nicht eindeutig. Zwar stimmten bei der Abstimmung im März 1991 70 % der teilnehmenden Menschen für den Fortbestand einer erneuerten Union, doch hatten 6 der 15 Unionsrepubliken das Votum boykottiert, und die RSFSR sowie die Ukraine hatten die Abstimmung mit Zusatzfragen versehen, die eine Einschränkung der jeweiligen Souveränität verhindern sollten. Das Jahr 1991 brachte im Juni und Juli auch die Auflösung des Warschauer Paktes und des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe mit sich und dies besiegelte die Abspaltung der ehemaligen Verbündeten[52].

Nach langen Verhandlungen erklärten sich schließlich 8 der 15 Unionsrepubliken bereit, den neuen Unionsvertrag zu unterzeichnen; dies sollte am 20. August 1991 geschehen. Doch ein Putschversuch des „Notstandskomitees“ in der Nacht vom 18. auf den 19. August kam dem zuvor. Das Komitee verhängte den Ausnahmezustand, setzte Gorbačov unter Hausarrest und ließ Panzer auffahren. Doch der Putsch war schlecht organisiert, und es fehlte den Putschisten die letzte Entschlossenheit Gewalt einzusetzen. Bereits drei Tage später brach der reaktionäre Aufstand in sich zusammen und besiegelte damit auch das Ende der UdSSR. El’cin war der große Sieger, da er sich den Putschisten in den Weg gestellt hatte, während Gorbačov seine Macht durch die Ereignisse weitgehend verloren hatte. Er trat vom Vorsitz der KPdSU zurück, und war nun Präsident eines Staates, den es in der Realität nicht mehr gab. El’cin ließ die KPdSU in der RSFSR verbieten – und mit dem Verbot brach nun die entscheidende Klammer des Sowjetsystems weg, und der Zug zum endgültigen Zusammenbruch war nicht mehr zu stoppen[53]. Als am 8. Dezember 1991 die RSFSR, Weißrußland und die Ukraine die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) proklamierten, war das Ende der Sowjetunion gekommen; sie wurde für aufgelöst erklärt. Am 21. Dezember traten 11 weitere frühere Teilrepubliken im Vertrag von Alma-Ata für eine lose Verbindung in Zukunft ein, um wirtschaftliche, militärische und soziale Probleme in Verhandlungen zu lösen. Vier Tage später, am 25. Dezember, trat nun auch Gorbačov als Präsident der UdSSR zurück[54].

4.2 Die außenpolitischen Konzeptionen der Russischen Föderation sowie der Europäischen Union

In diesem Kapitel werden nun die außenpolitischen Konzeptionen der beiden Akteure untersucht. Im Mittelpunkt stehen hier die Strategiepapiere und die in ihnen fest geschriebenen Ziele und Konzeptionen. Zuerst werden die Veränderungen bzw. die Neuausrichtung des neuen russischen Staates untersucht, der zwar als Rechtsnachfolger der UdSSR auftrat, aber sich dennoch in einer völlig neuen Situation befand und seine Position im internationalen System erst finden musste. Danach wird analysiert wie die Europäische Union auf diese Veränderungen reagierte und welche Strategie sie gegenüber der neuen RF verfolgte bzw. heute verfolgt. Ein Teil des Kapitels wird sich auch mit der Entwicklung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik beschäftigen.

4.2.1 Die Neuausrichtung der russischen Außenpolitik

Mit dem Ende der Sowjetunion war jedoch keines der Probleme gelöst, die zu ihrem Untergang geführt hatten. Die Russische Föderation war und ist weiterhin ein Vielvölkerstaat mit ungelösten nationalen, sprachlichen, kulturellen, religiösen, politischen und wirtschaftlichen Problemen. Das kollektive Gedächtnis und die in der politischen Kultur tradierten Wertvorstellungen wandeln sich nur langsam und zögerlich. Die mehrmaligen Wechsel und Veränderungen in der russischen Außenpolitik seit Ende des Kalten Krieges zeigen die Unsicherheit und Unbestimmtheit des neuen Russland. Vielfach wird die Russische Föderation deshalb auch als „desorientierter Staat“ bezeichnet[55]. Die russischen Eliten mussten nach dem Ende der UdSSR erst einen neuen Kurs in der Außenpolitik bestimmen, um ihre neue Position im internationalen System festzulegen, wobei die Ausrichtung auf die Europäische Union und die USA große Auswirkungen auf das Selbstverständnis hatte. Das im Transformationsprozess befindliche Russland durchlief daher auch mehrere unterschiedliche Phasen in der Außenpolitik. Zu Beginn stand die bedingungslose Anlehnung an den Westen; diese Periode von 1991 bis 1993/95 wird daher meist auch als „romantische“ Epoche bezeichnet. Danach folgte eine stärkere Besinnung auf nationale Interessen, was auch eine Folge der Enttäuschungen durch den Westen war. Unter Außenminister Jewgenij Primakov wurden die Prinzipien einer multipolaren Welt sowie einer kompensatorischen Außenpolitik hochgehalten. Ab dem Jahr 2000, also ab der Präsidentschaft Vladimir V. Putins, kann der neue Kurs der russischen Außenpolitik als „kalkulierter Euroatlantismus“[56] bezeichnet werden. Im Folgenden werden nun diese einzelnen Phasen etwas ausführlicher analysiert und die aktuellen Positionen dargestellt.

4.2.1.1 Von der „romantischen Periode“ zum Patriotischen Konsens (1991 – 1995)

Die Außenpolitik in den ersten Jahren der Russischen Föderation war noch durch das „neue Denken“ von Gorbačov dominiert: Öffnung des Landes vor allem nach Westen, Liberalisierung und Demokratisierung. Boris El’cin und sein Außenminister Andreij Kosyrev waren die Hauptakteure der Außenpolitik und traten als Vorkämpfer für eine Anlehnung an Westeuropa und die USA ein. Bereits kurz nach seiner Amtseinführung hatte El’cin die Aussage getätigt, dass er „ eine dreiundsiebzig Jahre alte Ungerechtigkeit […] korrigieren und Russland nach Europa zurückbringen“ will[57]. In dieser „romantischen Periode“ wollte man eine so weitreichende Integration in die westlichen und internationalen Strukturen wie möglich erreichen; El’cin sprach in diesem Zusammenhang auch oft von einer möglichen Mitgliedschaft der Russischen Föderation in EU und NATO[58].

Eine neue demokratische Identität wurde nach außen getragen, noch bevor diese im Inneren konzipiert und zum Programm erhoben worden war. Die Außenpolitik war von der Vorstellung geprägt, dass sie „ Russland helfen (werde), Russland zu werden und Russlands Staat zu begründen “ – wie es der Präsidentenberater Sergej Stankevič formuliert hatte. Die Suche nach nationaler Identität war und ist auch heute noch eng mit der Suche nach dem internationalen Standort der RF verbunden[59]. In weiterer Folge bemühte sich die RF um Aufnahme in internationalen Organisationen; so wurde sie im Frühjahr 1992 Mitglied im Internationalen Währungsfond (IWF) und in der Weltbank. Auch setzte durch die Einladung El’cins zu den Gesprächen der G7 Staaten der Einbindungsprozess in diese Gruppe ein, der im Jahr 2000 zur Vollmitgliedschaft führte[60]. Im selben Jahr, 1992, stellte die RF einen Antrag auf Mitgliedschaft im Europarat – und dieses Jahr stellt auch gleichzeitig den Höhepunkt der Annäherung an den Westen dar. Ein letzter Ausdruck davon waren die Reisen des Präsidenten in die USA, die mit der Unterzeichnung von 55 gemeinsamen Dokumenten endete[61]. Die RF verfolgte ihre Anbindung an den Westen vor allem in der Hoffnung auf Zugang zu Know-how in Demokratie und Marktwirtschaft sowie auf massive materielle Unterstützung des Transformationsprozesses[62].

Im Zuge der Doppelherrschaft zwischen Präsident und Parlament bis 1993 nahm die Kritik am Kurs El’cins und Kosyrevs immer mehr zu. Die Ideen einer „nationalen Wiedergeburt“ brachen sich immer mehr Raum und wirkten auch zunehmend auf El’cin eine große Anziehungskraft aus. Er geriet ins Schwanken und vollzog schließlich einen ideologischen Schwenk, doch die Unsicherheiten blieben erhalten, wie es eine Aussage von El’cin, die er im Oktober 1992 tätigte, unterstreicht: „ Manchmal erwecken wir – vielleicht unabsichtlich – den Eindruck von Leuten aus einem schwachen, hilflosen, armen Russland. Doch dem ist nicht so! Wir legen uns ja einen Komplex zu. Wir müssen davon ausgehen, welches Land wir sein werden. Wir treten in der Weltgemeinschaft unnötig zaghaft auf, nehmen häufig eine defensive Haltung ein oder meinen, unbedingt andere nachahmen zu müssen. Was muss uns Sorge bereiten? Dass man im Westen Russland jetzt als einen Staat wahrnimmt, der stets „Ja“ sagt, der gar nicht merkt, dass andere [Staaten] im Verhältnis zu ihm ihre Rechte nicht erfüllen, und der schweigend Kränkungen und sogar Verletzungen hinnimmt.“[63]

Die bedingungslose Annäherung an den Westen gehörte damit der Vergangenheit an. In einem neuen Strategiepapier vom Dezember 1992 wurde die Öffnung nach Asien festgeschrieben, sowie die Priorität des „Nahen Auslands“. Unter dem „Nahen Ausland“ versteht die russische Führung bis heute die ehemaligen Mitglieder der UdSSR – also den GUS-Raum. Immer stärker traten in der russischen Außenpolitik neoimperiale und geopolitische Vorstellung in den Vordergrund[64]. Gleichzeitig setzte wiederum eine Debatte über die nationale Identität Russlands ein. Dabei können drei Strömungen unterschieden werden, die sich teilweise eng an die Diskussionen des 19. Jahrhunderts anlehnten: die Westler, die Eurasier und die Anhänger einer „Russischen Idee“. In den Diskussionen der Eliten setzte sich bald ein neues Großmachtdenken durch, welches sich auf einen historischen und kulturellen Sonderweg berief, und in einem „patriotischen Konsens“ der Eliten mündete[65]. Dieser Konsens wurde in erster Linie von den Kommunisten und von nationalistischen Elementen getragen, und folgende Ziele waren hier vorrangig: Erhalt der verbliebenen Militärbasen in den ehemaligen Staaten der UdSSR, der Schwarzmeerflotte, und Bereitschaft zu militärischen Interventionen in verschiedenen Formen und auf verschiedenen Ebenen. Auf dem Balkan sollte die Unterstützung der Serben fortgesetzt werden und die Erweiterung der NATO galt es mit allen Mitteln zu bekämpfen[66].

Die Wahl zur Staatsduma 1993 brachte eine radikale Schwächung der demokratischen Kräfte, die nun nur mehr 15 % der Sitze innehatten. Der Anspruch auf einen starken Staat und auf den Status einer Großmacht wurde nun zum Leitmotiv des Kremls. Doch das Streben nach engen Kontakten mit dem Westen – vor allem mit der Europäischen Gemeinschaft – blieb weiterhin ein Merkmal der Außenpolitik, auch wenn es nun eher im Hintergrund blieb. So wurden die Verhandlungen mit der Europäischen Union über einen neuen Partnerschaftsvertrag fortgesetzt und auch um die Aufnahme in den Europarat wurde gekämpft. Hier führte die 1993 erfolgte Aufnahme von Estland und Litauen zu einer großen Verbitterung, da die RF bis 1996 warten musste, und es nicht gern sah, dass ehemalige Mitglieder der UdSSR vor der RF aufgenommen wurden. Zu schweren Verstimmungen führte auch die Absicht der NATO die Allianz zu erweitern. Ebenso scheiterten die Bemühungen der RF die KSZE/OSZE zum Hauptpfeiler der europäischen Sicherheitsstruktur aufzuwerten am Widerstand der anderen europäischen Länder[67]. Der erste Krieg in Tschetschenien kratzte zudem sehr am Ansehen der RF und ihrer Führung, und drängte die Länder Mittel- und Osteuropas noch stärker weg vom ehemaligen Bündnispartner, hin zur NATO und den anderen europäischen Strukturen[68].

4.2.1.2 Die Russische Föderation in einer multipolaren Welt (1995 – 2000)

Der patriotische Konsens entwickelte sich schnell zur neuen Grundlage des politischen Denkens, und er hatte auch über alle Krisen von 1998 und 1999 Bestand. Mit der Wahl zur Staatsduma 1995 wurden die Kommunisten und die „Liberal Demokratische Partei“ des Extremisten Širinovskij die stärksten Kräfte im Land. Einher damit ging eine Regierungsumbildung, und hierbei ersetzte Jewgenij Primakov den bisherigen Außenminister Kosyrev (5.1. 1996). Primakov war ein „Geopolitiker“ und ein Anhänger des patriotischen Konsenses, d.h. die nationalen Interessen Russlands als Großmacht waren bestimmende Faktoren der Außenpolitik. Auch sollte seiner Meinung nach die Außenpolitik diversifiziert werden, und damit die einseitige Anlehnung an Europa beendet werden. Diese neuen Vorstellungen wurden bald als „Primakov-Doktrin“ bekannt[69]. Die Suche nach der nationalen Identität ging unterdessen weiter – es wurde sogar ein öffentlicher Wettbewerb für die beste nationale Idee ausgeschrieben![70]. Die Außenpolitik dieser Jahre war durch die Fortsetzung von sowjetischen Denkmuster bestimmt: das Denken in Kategorien von Einflusszonen, Geostrategie, Nullsummenlösungen und Kompensationen für erlittene bzw. potentielle Nachteile. Die RF wollte Großmacht sein, obwohl sie nun weder die wirtschaftlichen, noch militärischen, noch politischen Voraussetzungen dafür hatte. Das Verhältnis zum Westen war vor allem durch die geplante NATO Osterweiterung belastet[71].

Die schwere Finanzkrise von 1998 warf bereits im Mai desselben Jahres ihre ersten Schatten voraus. Im Vorfeld wurde nach einer Periode der politischen Instabilität Primakov zum neuen Premierminister gewählt, sein Nachfolger als Leiter der Außenpolitik wurde der Karrierediplomat Igor Iwanov[72]. Durch die Wirtschafts- und Finanzkrise wurden die Großmachtträume vorerst endgültig beendet. Die Augustkrise 1998 degradierte die RF zum Bittsteller für Kredite und andere wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung. Dennoch wurde das Großmachtdenken nicht sofort beiseite gelegt: in der Kosovo-Krise zeigte man sich überzeugt einen Angriff der NATO auf Serbien verhindern zu können. Als sich dies aber als maßlose Selbstüberschätzung herausstellte, und die NATO Serbien im März 1999 trotz der harschen russischen Proteste angriff, brach die Russische Föderation die Beziehungen zur NATO und vor allem zu den USA sofort ab[73]. Doch bald wurde den Verantwortlichen klar, dass eine Selbstisolierung in erster Linie Russland selbst schaden würde, da neue Kredite des IWF benötigt wurden, um die Folgen der Augustkrise überwinden zu können. Die RF suchte nach der Niederlage gegen die NATO im Kosovo nach neuen Verbündeten, und die Beziehungen zu China und Indien gewannen an Stellenwert. In der „Shanghai Gruppe“ (RF, China, Kirgisistan, Kasachstan und Tadschikistan) wurde die Forderung nach eine multipolaren Welt erhoben, und die Teilnehmer verurteilten jeden Versuch eine unipolare Weltordnung zu errichten[74]. Die Europäische Union wollte die RF nach den Differenzen rund um die NATO Intervention wieder verstärkt einbinden, und verabschiedete einige Positionspapiere und Strategiedokumente, auf die im nächsten Kapitel näher eingegangen wird. Die NATO Intervention hat aber auch die politische Klasse Russlands tief erschüttert. Sie warfen dem Westen eine doppelte Moral vor – mit weitreichenden Konsequenzen. Denn die russische Gesellschaft fühlte sich nun selbst moralisch frei Gewalt anzuwenden, um ihre Interessen zu verteidigen, was den zweiten Krieg in Tschetschenien sicher begünstigt hat. Und eben dieser erneute Krieg führte und führt auch weiterhin zu mitunter schweren Irritationen im Verhältnis zwischen der RF und der Europäischen Union[75]. Doch trotz aller Differenzen und Auseinandersetzung stand eine Ausrichtung der Außenpolitik auf Europa nie wirklich ernsthaft in Frage.

4.2.1.3 Die Beziehungen zu Europa unter Präsident Vladimir Putin

Mit dem überraschenden Machtwechsel an der Spitze des russischen Staates von El’cin zu Putin am 31.12. 1999 war der weitere Weg vorerst unklar. El’cins Vermächtnis war die angestrebte Großmachtrolle Russlands in einer multipolaren Welt, aber auch gleichzeitig eine Einbindung in so viele internationale Organisationen wie möglich. Diese Widersprüchlichkeiten finden sich zu Beginn auch bei Putin, der vorerst keine klare Linie verfolgte. Hier stellte sich bald die Frage nach der Vereinbarkeit von Putins erneuter Europäisierung der Außenpolitik und den Kurs eines starken Staates. Der zweite Krieg in Tschetschenien rief nur relativ schwache Proteste des Westens hervor – ernsthafte Sanktionen wurden keine ergriffen, sondern die Aktionen waren eher symbolistischer Natur: Kredite wurden blockiert, technische Hilfe wurde umgeschlichtet, andere Geldmittel eingefroren. Nur der Europarat legte eine schärfere Gangart mit entsprechendem Protest vor: Gegen die Russische Föderation wurde ein Ausschlussverfahren eingeleitet, das aber letztendlich am Widerstand der einzelnen Mitgliedsländer scheiterte[76].

Als zentrale Dokumente der russischen Außenpolitik unter Putin sind folgende zwei zu nennen, auf die nun näher eingegangen wird:

- „Strategie für die mittelfristige Entwicklung der Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Europäischen Union (2000-2010)[77]
- Die Außenpolitische Konzeption der Russischen Föderation[78]

Innerhalb der russischen Elite hatten die Beziehungen zur Europäischen Union immer Vorrang vor allen anderen Beziehungen, da Europa diejenige Region war, mit der die RF sowohl in politischer, als auch in wirtschaftlicher, kultureller und historischer Hinsicht am engsten verflochten war. Die „Strategie für die mittelfristige Entwicklung der Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Europäischen Union (2000-2010)“ – im Folgenden „Mittelfristige Strategie“ genannt – war eine Reaktion auf das Strategiepapier der EU vom Kölner Gipfel 1999, und legte die grundlegenden Rahmenbedingen zwischen der RF und der EU fest[79]. In der Russischen Föderation wurde die EU bislang fast ausschließlich als Wirtschafts- und Handelsmacht gesehen – die politische Dimension wurde bis zuletzt kaum anerkannt und gewürdigt. Dies hatte mehrere Ursachen:

[...]


[1] Zitiert nach LYNCH, Dov: Russia faces Europe. Chaillot Papers, no. 60, May 2003, S. 7. Dieses Werk wird in Folge mit LYNCH 2003 kurz zitiert

[2] In Lettland beträgt der Anteil der russischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung 33,8 %, in Estland 30,3 % und in Litauen 9,4 %. Zahlen nach WEIDENFELD, Werner (Hrsg.): Neue Ostpolitik. Strategie für eine gesamteuropäische Entwicklung, Gütersloh 1997, S. 25; die gemeinsame Grenze beträgt nun rund 2.257 km. vgl. dazu die URL http://www.cia.gov/cia/publications/factbook/geos/rs.html#Intro download am 20.03. 2004

[3] KEMPE, Iris: Die europäische Russlandpolitik. IN: Ost-West, Europäische Perspektiven 1, Heft 3/2000, Seite 163. Dieses Werk wird in Folge mit KEMPE 3/2000 kurz zitiert.

[4] HYDE-PRICE, Adrian: The European Union as an Actor in the Baltic Sea Region: A Theoretical Evaluation. IN: HUBEL, Helmut (Hrsg.): EU Enlargement and Beyond: The Baltic States and Russia. (Nordeuropäische Studien, Band 18), Berlin 2002. Seite 44. Dieses Werk wird in Folge mit HYDE-PRICE 2002 kurz zitiert.

[5] MEYERS, Reinhard: Theorien der internationalen Beziehungen. IN: WOYKE, Wichard (Hrsg.): Handwörterbuch Internationale Politik, 8. aktualisierte Auflage, Opladen 2000, Seite 417-418. Dieses Werk wird in Folge mit MEYERS 2000 kurz zitiert.

[6] HÖLL, Otmar: Der Prozess tendenzieller Globalisierung und die „Neuordnung“ der Welt. IN: FILZMAIER, Peter/FUCHS, Eduard (Hrsg.): Supermächte, Wien/München/Bozen 2003, S. 9-10

[7] CZEMPIEL, Ernst-Otto: Weltpolitik im Umbruch. Die Pax Americana, der Terrorismus und die Zukunft der internationalen Beziehungen, 4. Auflage, München 2003, Seite 16-17. Dieses Werk wird in Folge mit CZEMPIEL 2003 kurz zitiert.

[8] ebenda, Seite 20-21

[9] ebenda, Seite 23

[10] CZEMPIEL, Ernst-Otto: Kluge Macht. Außenpolitik für das 21. Jahrhundert., München 1999,Seite 11-17. Dieses Werk wird in Folge mit CZEMPIEL 1999 kurz zitiert. Sowie CZEMPIEL 2003, S. 63-64

[11] CZEMPIEL 2003, S. 64-65

[12] CZEMPIEL 1999, S. 46-50

[13] MEYERS 2000, S. 425

[14] SIEDSCHLAG, Alexander: Neorealismus, Neoliberalismus und postinternationale Politik. Beispiel internationale Sicherheit – Theoretische Bestandsaufnahme und Evaluation. Opladen 1997, S. 28. Dieses Werk wird in Folge mit SIEDSCHLAG 1997 kurz zitiert.

[15] MEYERS, Richard: Theorien internationaler Kooperation und Verflechtung. IN: WOYKE, Wichard (Hrsg.): Handbuch Internationale Politik, 8. aktualisierte Auflage, Opladen 2000, S. 451-452. Dieses Werk wird in Folge mit MEYERS 2000b kurz zitiert, Seite; sowie: KEOHANE, Robert O: Institutional Theory and the Realist Challenge After the Cold War. IN: BALDWIN, David A. (Hrsg..): Neorealism and Neoliberalism: The Contemporary Debate, New York 1993, S. 272-273. Dieses Werk wird in Folge mit KEOHANE 1993 kurz zitiert.

[16] SIEDSCHLAG 1997, S. 160-162

[17] MEYERS 2000b, S. 450

[18] ebenda, S. 450-451

[19] ebenda, S. 449-450.

[20] Zur Definition: “set of implicit or explicit principles, norms, rules, and decision-making procedures around which actors’ expectations converge in a given area of international relations” vgl. KEOHANE Robert O./AXELROD, Robert: Achieving Cooperation Under Anarchy: Strategies and Institutions. IN: BALDWIN, David A. (Hrsg.): Neorealism and Neoliberalism: The Contemporary Debate, New York 1993, S. 109. Dieses Werk wird in Folge mit KEOHANE/AXELROD 1993 kurz zitiert.

[21] BALDWIN, David A.: Neoliberalism, Neorealism, and World Politics. IN: BALDWIN, David A. (Hrsg.): Neorealism and Neoliberalism: The Contemporary Debate, New York 1993, Seite 4-9. Dieses Werk wird in Folge mit BALDWIN 1993 kurz zitiert

[22] CZEMPIEL 1999, S. 83-84

[23] SIEDSCHLAG 1997, S. 162

[24] BALDWIN 1993, S. 6; sowie KEOHANE 1993, S. 275-276.

[25] Zitiert nach KEOHANE 1993, S. 275

[26] ebenda, S. 275-276

[27] KEOHANE/AXELROD 1993, S. 87-94.

[28] ebenda, S. 94-95

[29] vgl. MEYERS 2000b, Seite 453; sowie WOYKE, Wichard/VARWICK, Johannes: Europäische Union. Erfolgreiche Krisengemeinschaft. Einführung in Geschichte, Strukturen, Prozesse und Politiken. München/Wien 1998. S. 7-8. Dieses Werk wird in Folge mit WOYKE/VARWICK 1998 kurz zitier

[30] vgl. WOYKE/VARWICK 1998, S. 8.

[31] MEYERS 2000b, S. 453

[32] CZEMPIEL 1999, S. 80-81

[33] ebenda, S. 81-82

[34] CZEMPIEL 2003, Seite 197-198

[35] PATZELT, Werner J.: Einführung in die Politikwissenschaft. Grundriß des Faches und studiumbegleitende Orientierung, 5. erneut überarbeitete und wesentlich erweiterte Auflage, Passau 2003, S. 150-151

[36] REH, Werner: Quellen- und Dokumentenanalyse. IN: VON ALEMANN, Ulrich (Hrsg.): Politikwissenschaftliche Methoden. Grundriß für Studium und Forschung, Opladen 1995, S. 209

[37] ALTRICHTER, Helmut: Kleine Geschichte der Sowjetunion 1917-1991, München 1993, Seite 172. Dieses Werk wird in Folge mit ALTRICHTER 1993 kurz zitiert.

[38] SCHRÖDER, Hans-Hennig: Vom Kiewer Reich bis zum Zerfall der UdSSR. IN: Informationen zur politischen Bildung, 4. Quartal 2003, S. 14-15. Dieses Werk wird in Folge mit SCHRÖDER 2003 kurz zitiert.

[39] STÖKL, Günther: Russische Geschichte, 6. erweiterte Auflage, Stuttgart 1997, S. 832. Dieses Werk wird in Folge mit STÖKL 1997 kurz zitiert.

[40] ebenda, Seite 834-835

[41] ebenda, Seite 836-838

[42] ALTRICHTER 1993, S. 175-176

[43] STÖKL 1997, S. 842-843

[44] ALTRICHTER 1993, S. 178

[45] STÖKL 1997, S. 848-849

[46] ALTRICHTER 1997, S. 184-187

[47] STÖKL 1997, S. 853-854

[48] ebenda, S. 856-857; sowie SCHRÖDER 2003, S. 15

[49] STÖKL 1997, S. 856

[50] ebenda, S. 860-861

[51] ebenda, S. 861-861, sowie ALTRICHTER 1993, S. 194

[52] ALTRICHTER 1993, S. 195-196

[53] ebenda, S. 197-199 sowie STÖKL 1997, S. 865-867

[54] STÖKL 1997, Seite 868

[55] MOMMSEN, Margareta: Wer herrscht in Russland? Der Kreml und die Schatten der Macht. München 2003, S. 136. Dieses Werk wird in Folge mit MOMMSEN 2003 kurz zitiert. Vgl. dazu auch: LO, Bobo: Vladimir Putin and the Evolution of Russian Foreign Policy, London 2003, S. 97-114. Dieses Werk wird in Folge mit LO 2003 kurz zitiert.

[56] MEIER, Christian: Russland und die Welt. IN: Informationen zur politischen Bildung, 4. Quartal 2003, S. 54. Dieses Werk wird in Folge mit MEIER 2003 kurz zitiert

[57] MOMMSEN 2003, S. 140

[58] vgl. MOMMSEN 2003, S. 141

[59] ebenda, S. 143

[60] MEIER 2003, S. 54-55

[61] MOMMSEN 2003, S. 143-144

[62] ebenda, S. 145

[63] zitiert nach MOMMSEN 2003, S. 146

[64] ebenda, S. 147-148

[65] ebenda, S. 148-153

[66] ADOMEIT, Hannes: Konzeptionelle Leitlinien in der Außenpolitik Russlands. IN: Osteuropa, Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens. 51. Jahrgang, Heft 4-5, 2001, S. 356-357. Dieses Werk wird in Folge mit ADOMEIT 2001 kurz zitiert.

[67] MOMMSEN 2003, S. 154-159

[68] ebenda, S. 158-159

[69] ebenda, S. 164-166

[70] vgl. MOMMSEN 2003, S. 168-170

[71] ebenda, S. 172-179

[72] ebenda, S. 180

[73] ebenda, S. 180-183. Primakov befand sich zum Zeitpunkt des ersten Angriffs gerade in einem Flugzeug auf dem Weg in die USA. Als er von den Angriffen erfuhr, ließ er das Flugzeug über den Atlantik wenden, und flog nach Moskau zurück.

[74] ebenda, S. 194

[75] ebenda, S. 189, 195

[76] ebenda, S. 209

[77] Russische Föderation: Strategie für die mittelfristige Entwicklung der Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Europäischen Union (2000-2010). IN: IWANOW, Igor: Die neue russische Diplomatie. Rückblick und Visionen, München 2002, S. 318-343. Dieses Dokument wird in Folge mit Russische Föderation: Strategie für die mittelfristige Entwicklung, München 2002 kurz zitiert.

[78] Russische Föderation: Die Außenpolitische Konzeption der Russischen Föderation. IN: IWANOW, Igor: Die neue russische Diplomatie. Rückblick und Visionen, München 2002, S. 247-272. Diese Werk wird in Folge mit Russische Föderation: Die Außenpolitische Konzeption, München 2002 kurz zitiert.

[79] TIMMERMANN, Heinz: Russlands Strategie für die Europäische Union. Aktuelle Tendenzen, Konzeptionen und Perspektiven. BIOst, Köln 2000/5. S. 9-10. Dieses Werk wird in Folge mit TIMMERMANN 2000 kurz zitiert.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783832430283
ISBN (Paperback)
9783838630281
DOI
10.3239/9783832430283
Dateigröße
1 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Wien – Human- und Sozialwissenschaften
Erscheinungsdatum
2005 (Januar)
Note
1,0
Schlagworte
außenpolitik zusammenarbeit sicherheitspolitik kaliningrad dialog
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Titel: Die Beziehung zwischen der erweiterten Europäischen Union und der Russischen Förderation
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