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Zum Phänomen Amok

Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung

©1999 Diplomarbeit 135 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Der Ausdruck „Amok“ ist vielfach mit der Assoziation eines besonders irrationalen Verhaltens verbunden, das sich durch eine starke Dynamik und einen hohen Kontrollverlust äußert. Die Erklärung dieser Handlung und ihrer möglichen Ursachen bildet das Ziel dieser Arbeit. Die Berichterstattung der Massenmedien und insbesondere der Printmedien, die nahezu regelmäßig neue Fälle von Amokläufen, Amokfahrten etc. publizieren, sowie die häufige Verwendung dieser Begriffe im alltäglichen Sprachgebrauch lassen auf umfassende Informationen bezüglich dieses Phänomens in der wissenschaftlichen Literatur schließen. Bei genauerer Recherche erweist sich allerdings schon allein der Versuch einer Definition als schwierig, da es sich bei dem Begriff „Amok“ nicht um einen Straftatbestand handelt. Auch aus medizinischer Sicht lässt sich ein Täterprofil über die Betrachtung vorübergehender oder dauerhafter Persönlichkeitsstörungen nur begrenzt erstellen. Hier bildet die geringe Zahl der Untersuchungen, sowie die Schwierigkeit, an aussagekräftiges Datenmaterial aus der Psychiatrie zu gelangen, ein Hindernis bei der Suche nach grundsätzlichen Aussagen zu den Tätern und der Tat. Die wenigen Publikationen zum Thema beschreiben Amok als eine ursprünglich aus dem malaiischen Sprachraum stammende Handlung, „Amuck“ bezeichnet hier ein Konfliktverhalten mit langer kultureller Vorgeschichte. Inwieweit die geschilderten Ausprägungen der Tat auch bei der modernen Form der amokähnlichen Phänomene als charakteristisch zu bezeichnen sind, soll hier verglichen werden.
Amokläufe bilden nach meiner Beobachtung die Voraussetzungen für Pressemitteilungen mit hohem Sensationsgehalt. In dieser Arbeit soll genauer untersucht werden, nach welchen Gesichtspunkten eine Nachricht als Amoktat klassifiziert und präsentiert wird. Als Grundlage für die Analyse der Meldungen habe ich nach einem inhaltsanalytischen Verfahren eine Datenerhebung durchgeführt. Hier sind Publikationen, die von den Presseagenturen bzw. den Zeitungsredaktionen mit Amok überschrieben wurden, gesammelt und in einer Statistik zusammengefasst worden. Mit Hilfe eines EDV-Programms wurden diese Daten ausgewertet, um ein mögliches Profil der so bezeichneten Amokläufer und ihrer Tat erstellen zu können. Möglicherweise lassen sich mit dieser Methode spezifische, wiederkehrende Merkmale ausmachen und allgemeine Kriterien daraus ableiten. Auch kann die Analyse eventuell Hinweise auf gesellschaftliche […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 2836
Sehle, Sven: Zum Phänomen Amok: Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung /
Sven Sehle - Hamburg: Diplomarbeiten Agentur, 2000
Zugl.: Hildesheim, Fachhochschule, Diplom, 1999
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Dipl. Kfm. Dipl. Hdl. Björn Bedey, Dipl. Wi.-Ing. Martin Haschke & Guido Meyer GbR
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Printed in Germany


INHALT
EINLEITUNG
1
1. DEFINITION
4
2. DER MALAIISCHE AMOK - HISTORISCHE ENTWICKLUNG 5
2.1. Kultureller Hintergrund des malaiischen Amok
9
2.2. Pathologische Ursachen
11
2.3. Artverwandte Phänomene
13
3. MODERNE ERSCHEINUNGSFORMEN DES AMOK
IN DER WESTLICHEN WELT
17
3.1. Abgrenzung zum Serienmörder / Massenmörder
17
3.2. Täterprofil und Tatmerkmale
18
3.3. Vergleich des traditionellen malaiischen Amok mit dem
amokähnlichen Phänomen der westlichen Welt
22
4. INHALTSANALYTISCHE UNTERSUCHUNG
27
4.1. Ziele der Untersuchung
27
4.2. Material und Methoden
29
4.3.
Datenstruktur
29
4.3.1. Zeitliche Verteilung
31
4.3.2. Geographische Verteilung
31
4.4. Ergebnisse der Untersuchung
33
4.4.1.
Tätergeschlecht
33
4.4.2.
Altersverteilung
34
4.4.3. Beruf der Täter
35
4.4.4.
Familienstand
36
4.4.5. Tatmotiv
37
4.4.6.
Täter-Opfer-Beziehung
38
4.4.7. Anzahl der verwendeten Waffen
39
4.4.8. Art der verwendeten Waffen
40
4.4.9.
Waffenaffinität
41
4.4.10.
Tatorte
42

4.4.11. Anzahl der Todesopfer
43
4.4.12. Anzahl der Verletzten
44
4.4.13. Tatausgang I (Ergreifung des Täters)
45
4.4.14. Tatausgang II (Suizid)
46
4.4.15.
Diagnose
47
4.4.16. Auswertung der Frauengruppe
48
4.5. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse
49
4.5.1. Angaben zum Täter
49
4.5.2. Angaben zum Tatvorfeld und Tatablauf
50
4.5.3. Angaben zum Tatausgang
51
5. ERÖRTERUNG AUFFÄLLIGER TEILASPEKTE DES
AMOK-PHÄNOMENS
53
5.1. Amok und Medien
53
5.1.1. Medieninteresse und Eigenschaften der Berichterstattung 54
5.1.2. Medien als auslösender Faktor?
56
5.2.
Täterpersönlichkeit
58
5.2.1. Pathologische Auffälligkeiten der Täterpersönlichkeit
58
5.2.2. Jugendliche Amokläufer
61
5.2.3. Amok und Männlichkeit
64
5.2.4. Amoktäter und die Bedeutung von Waffen
70
5.2.4.1. "Waffennarren" und der psychologische
Symbolwert von Waffen
71
5.2.4.2. Korrelation von Beruf und Schußwaffenmißbrauch
76
5.2.4.3. Beziehungen schwerer Gewaltdelikte zum erlaubten
Schußwaffenbesitz
80
a) Australien
80
b) Vereinigte Staaten von Amerika
81
c) Großbritannien
84
d) Schweiz
85
e) Österreich
86
f) Bundesrepublik Deutschland
90
5.3. Tatmotivation und Tatablauf
92
5.3.1.
Amok-Fahrten
92

5.3.2. Partnerschaftskonflikte und die Bedeutung
des erweiterten Suizids
95
5.3.3. Affekttaten und Amnesie
98
5.3.4. Soziale Bedingungen
102
6. PRÄVENTION
104
7. ZUSAMMENFASSENDE SCHLUßBETRACHTUNG
108
ANHANG
112
Literaturverzeichnis
112
Fallverzeichnis
116
Ausgewählte Beispiele für Pressemeldungen
119
Ehrenwörtliche Erklärung
127

1
Einleitung
Der Ausdruck "Amok" ist vielfach mit der Assoziation eines besonders irrationa-
len Verhaltens verbunden, das sich durch eine starke Dynamik und einen hohen
Kontrollverlust äußert. Die Erklärung dieser Handlung und ihrer möglichen Ursa-
chen bildet das Ziel dieser Arbeit. Die Berichterstattung der Massenmedien und
insbesondere der Printmedien, die nahezu regelmäßig neue Fälle von Amokläu-
fen, Amokfahrten etc. publizieren, sowie die häufige Verwendung dieser Begriffe
im alltäglichen Sprachgebrauch lassen auf umfassende Informationen bezüglich
dieses Phänomens in der wissenschaftlichen Literatur schließen. Bei genauerer
Recherche erweist sich allerdings schon allein der Versuch einer Definition als
schwierig, da es sich bei dem Begriff "Amok" nicht um einen Straftatbestand han-
delt. Auch aus medizinischer Sicht läßt sich ein Täterprofil über die Betrachtung
vorübergehender oder dauerhafter Persönlichkeitsstörungen nur begrenzt erstellen.
Hier bildet die geringe Zahl der Untersuchungen, sowie die Schwierigkeit, an aus-
sagekräftiges Datenmaterial aus der Psychiatrie zu gelangen, ein Hindernis bei der
Suche nach grundsätzlichen Aussagen zu den Tätern und der Tat. Die wenigen
Publikationen zum Thema beschreiben Amok als eine ursprünglich aus dem ma-
laiischen Sprachraum stammende Handlung, "Amuck" bezeichnet hier ein Kon-
fliktverhalten mit langer kultureller Vorgeschichte. Inwieweit die geschilderten
Ausprägungen der Tat auch bei der modernen Form der amokähnlichen Phäno-
mene als charakteristisch zu bezeichnen sind, soll hier verglichen werden.
Amokläufe bilden nach meiner Beobachtung die Voraussetzungen für Pressemit-
teilungen mit hohem Sensationsgehalt. In dieser Arbeit soll genauer untersucht
werden, nach welchen Gesichtspunkten eine Nachricht als Amoktat klassifiziert
und präsentiert wird. Als Grundlage für die Analyse der Meldungen habe ich nach
einem inhaltsanalytischen Verfahren eine Datenerhebung durchgeführt. Hier sind
Publikationen, die von den Presseagenturen bzw. den Zeitungsredaktionen mit
Amok überschrieben wurden, gesammelt und in einer Statistik zusammengefaßt
worden. Mit Hilfe eines EDV-Programms wurden diese Daten ausgewertet, um
ein mögliches Profil der so bezeichneten Amokläufer und ihrer Tat erstellen zu
können. Möglicherweise lassen sich mit dieser Methode spezifische, wiederkeh-

2
rende Merkmale ausmachen und allgemeine Kriterien daraus ableiten. Auch kann
die Analyse eventuell Hinweise auf gesellschaftliche Hintergründe und Ursachen
liefern, indem beispielsweise eine Häufung auslösender Momente festgestellt
wird.
Bei vielen Amokläufen der Gegenwart werden Schußwaffen vom Täter einge-
setzt. Besonders interessant erscheint mir deshalb eine genauere Betrachtung der
Korrelation zwischen Waffenbesitz, Erfahrung mit dem Umgang von Waffen,
sowie deren Benutzung in einer ausweglos erscheinenden Situation. In den ver-
gangenen Jahren ist in verschiedenen westlichen Staaten eine Diskussion ausge-
löst worden, die sich mit dem Zugang zu Waffen und mit seiner möglichen Be-
schränkung beschäftigt. Als Reaktion auf Gewalttaten mit hoher Opferzahl sind
bereits verschiedene Gesetzesänderungen beraten oder auch schon verabschiedet
worden. Insbesondere anhand der Entwicklung in Österreich soll dieser Prozeß
näher beleuchtet werden.
Nicht wenige Amokfälle scheinen aus alltäglichen Situationen heraus zu entste-
hen, die durch ihre Gewöhnlichkeit und Vertrautheit nicht darauf schließen lassen,
daß sie Grundlage für eine extrem aggressive Handlung werden könnten. Hieraus
ergibt sich eine weitere Fragestellung: Wird der potentielle Amokläufer zu seiner
Tat bewegt, weil große Veränderungen in seinem Leben auftreten, denen er sich
nicht gewachsen fühlt, oder sind es die alltäglichen Unzufriedenheiten, Demüti-
gungen und Mißerfolge, die sich summieren, und - ausgelöst durch eine Banalität
- alle Selbstkontrolle unmöglich machen? Auch die Abgrenzung zwischen einer
angestrebten Selbsttötung und einer nach außen gerichteten Aggression als
Hauptmotivation der Täter ist schon allein deshalb problematisch, weil nicht we-
nige Amokläufer bei der Tat ums Leben kommen, entweder durch eigene Hand
oder durch die Schüsse der Polizei. Lediglich in einigen wenigen Fällen gibt es
Hinweise oder Aussagen, die Rückschlüsse auf mögliche Beweggründe zulassen
und eine Differenzierung ermöglichen.
Der Amok wird gelegentlich als eine typisch männliche Tat angesehen. Die Un-
tersuchung von Kriminalität und Gewalt als männlich besetzte Bereiche des tägli-
chen Lebens würde den Umfang dieser Diplomarbeit übersteigen und bildet längst

3
das Thema für eigenständige Untersuchungen, im Ansatz soll aber auch dieser
Punkt beleuchtet werden. Obwohl die Medien oftmals einen gegenteiligen Ein-
druck vermitteln, handelt es sich bei Tötungshandlungen im Vergleich zu anderen
Kriminalitätsformen um seltene Delikte. Der Amok als extreme Ausprägung
schwerer Gewalttaten muß erst recht als außergewöhnliche Tat bezeichnet wer-
den. Diese Ausnahmestellung führt dazu, daß sich an einigen Stellen ein Über-
blick über das Amok-Phänomen aus der Distanz leichter erreichen läßt als aus der
unmittelbaren Nähe der Tatbetrachtung.

4
1. Definition
Der Versuch, eine einheitliche Definition für das Phänomen Amok zu entwickeln,
stellt sich außerordentlich schwierig dar. Je nach verschiedenen Ausgangspunkten
der Betrachtung finden sich abweichende Erklärungsansätze, so z.B. aus eth-
nopsychiatrischer, kriminologischer oder journalistischer Sicht. Dabei widmet
sich allerdings die mir vorliegende Literatur dem Amok-Phänomen in fast allen
Fällen nur als Randerscheinung anderer Untersuchungsfelder. Da sich die Beg-
riffsbestimmung themenbedingt über mehrere Kapitel erstreckt, erfolgt zu Beginn
eine Annäherung an das Phänomen mit einer kurzen Lexikon-Definition. Die sich
anschließende Betrachtung der kulturellen Vorgeschichte des Amok sowie art-
verwandter Syndrome beinhaltet weitere Aspekte der Begriffskonkretisierung.
Der Versuch einer Bestimmung der modernen Form des Amoklaufs in der westli-
chen Welt und ein Vergleich mit dem traditionellen malaiischen Amok schließen
die Literaturübersicht im folgenden Kapitel ab. Der Brockhaus beschreibt den
Amok als "stark aggressiven Bewegungsdrang mit anschließender Amnesie, der
beim Befallenen wutartige, wahllose Zerstörungs- oder Tötungsversuche auslösen
kann." Er wurde "zuerst bei malaiischen Eingeborenen beobachtet; seine Ursache
sind wahrscheinlich epileptische Dämmerzustände oder Schizophrenie."
1
1
Brockhaus, 1978, S.84; es wird in dieser Arbeit aus Gründen der Überschaubarkeit nahezu
ausschließlich die männliche Form des 'Amokläufers' verwendet, ohne damit die Objektivität
gegenüber den Geschlechtern beeinträchtigen zu wollen.

5
2. Der malaiische Amok - Historische Entwicklung
Als Ursprungsort des Amok wird nahezu einheitlich Südostasien, insbesondere
Malaysia genannt.
2
Das Wort "amuck", das die Ureinwohner der malaiischen In-
seln für dieses spezifische Verhalten, "eine plötzlich einsetzende Bewußtseinsstö-
rung mit Mordtrieb"
3
verwenden, bedeutet soviel wie "wütend" oder "rasend".
4
Wahrscheinlich geht der Amoklauf ("mengamuck") aber bereits auf ein ursprüng-
lich kriegerisches Verhalten von Piraten zurück, das von der westindischen Mala-
barküste her importiert wurde.
5
Ellenberger verweist auf historische Dokumente,
in denen als Motive Ehrgefühl und Rache genannt werden: "als 'Amoucos' be-
zeichnete man dort Menschen, die mit Vorbedacht und unter Beachtung eines
mystischen Zeremoniells sich und andere dem Tod weihten."
6
Auch Schünemann
vermutet eine Übernahme der Verhaltensweise aus dem hinduistisch-indischen
Kulturkreis und siedelt den Ursprung in einer "spezifischen Form der Kriegsfüh-
rung lange vor dem 14. Jahrhundert"
7
an. Ab dem 14. Jahrhundert tritt die militäri-
sche Ausprägung zurück, der Amoklauf entwickelt sich zu einem Individualakt
einer einzelnen Person. Dieser "'personal amok' auf spezifisch kulturellem Hinter-
grund" erhält hierbei eine "religiös-fanatische Färbung".
8
Die Europäer werden auf ihren Entdeckungsreisen erstmalig mit dem Amok kon-
frontiert, den der englische Kapitän Cook nach seiner Weltumsegelung im Jahre
1770 als ein seit langer Zeit weit verbreitetes Phänomen beschreibt.
9
Wann genau
der Ausdruck Amok in den europäischen Sprachgebrauch übernommen wurde,
läßt sich in der Literatur nicht bestimmen; vermutlich ist dieser Prozeß schon im
19. Jahrhundert abgeschlossen, denn schon 1897 wird auf den "ausufernden publi-
zistischen Gebrauch" des Wortes hingewiesen.
10
In dieser Zeit beschäftigen sich
2
vergl. Dorsch, 1994, S.29
3
ebd.
4
Schünemann, 1992, S.7
5
Ellenberger, 1965, S. 205
6
Metzger zitiert nach Ellenberger, 1965, S.205
7
Schünemann, 1992, S.9
8
ebd.
9
A.a.O., S.10
10
A.a.O., S.12

6
vor allem Ethnologen (u.a. Ellis 1893, van Brero 1897, Clifford 1897), die bei
ihren Reisen auf kulturspezifische Störungen treffen, mit dem Amok-Phänomen.
11
In der Literatur werden sehr unterschiedliche Motive für den Amok genannt, sie
reichen von kriegerischen Taktiken über Kränkungen, die dem späteren Täter zu-
gefügt werden bis zu scheinbaren Bagatellen. Baechler beschreibt den Beginn der
Amok-Phase wie folgt:
Am Anfang steht irgendeine Beleidigung oder - reale oder eingebildete -
Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Subjekt. Im ersten Augenblick steckt es diese weg
und verhält sich vollkommen ruhig. Doch dann beginnt die Angelegenheit in ihm zu
gären, bis sie schließlich unerträglich wird. Plötzlich, ohne vorhergehende Anzeichen,
verwandelt sich das zuvor ruhige und zurückhaltende Subjekt in einen kriminellen
Wahnsinnigen.
12
Die Dauer der hier beschriebenen Latenz kann großen Schwankungen unterliegen,
wie Adler feststellt: "Initial verfiel der Amokläufer nach einem mehr oder minder
äußerlich registrierbaren Ereignis in eine Minuten bis Wochen dauernde Grübel-
phase."
13
Auch Devereux nimmt verschiedenste Faktoren als mögliche Motivation an:
Der Malaie läuft aus vielfältigen Gründen Amok: weil er sich hoffnungslos unterdrückt
und gedemütigt fühlt, weil es ihm von seinem hierarchischen Vorgesetzten aus
religiösen oder militärischen Gründen befohlen wurde, weil er seinem Leben in einer
Gloriole vom Typ Götterdämmerung ein Ende setzen will - oder auch, weil er krank ist,
fiebert, deliriert usw.
14
Auf Geisteskrankheiten als mögliche Ursachen wird mehrfach hingewiesen, u.a.
von Kraepelin, der eine psychische Epilepsie im südostasiatischen Raum als ver-
hältnismäßig häufig vorkommend beurteilt und diese neben anderweitigen epilep-
tischen Krankheitserscheinungen für den Tatausbruch verantwortlich macht.
15
Für
die Tatzeit wird darüber hinaus eine regelmäßige Bewußtseinsstörung beim Täter
diagnostiziert.
16
11
A.a.O., S.11
12
Baechler, 1975, S.283
13
Adler et al., 1993, S.425
14
Devereux, 1974, S.235
15
Kraepelin, 1904, S. 29
16
vergl. Dorsch 1994, S. 29
vergl. Baechler, 1975, S.283

7
In der kulturell verwurzelten Form des malaiischen Amok wird ausschließlich
eine scharfe Handwaffe verwendet, in den meisten Fällen der sogenannte "Kris";
es handelt sich hierbei um eine Art Dolch oder Kurzsäbel.
17
Laut Devereux kann
diese Waffe allein "eine derartig exzessive Faszination auf ein Individuum aus-
üben, daß es in einen Amokzustand gerät."
18
Hier ist allerdings lediglich ein Aus-
löser, nicht eine Motivation für die Tatausführung beschrieben. Devereux weiter:
Eine besonders interessante Auslösetechnik ist die Auto-Induktion des ersehnten
Anfalls durch die Antizipation seiner Symptome oder durch eine Vorbereitung auf den
Anfall. Als der Ministerpräsident von Madjapahit (Java) einer Gruppe von Soldaten
befahl, Amok zu laufen, fingen sie an, alle Mitbürger die ihnen in die Hände fielen, zu
massakrieren, so als wären sie bereits im Amokzustand - was es ihnen ermöglichte,
wirklich hineinzugeraten.
19
Besonders die Wahllosigkeit bezüglich der Opfer sowie die Plötzlichkeit der Tat-
ausführung sind signifikante Merkmale des malaiischen Amok. Der Tatablauf
wird von Schünemann als "ein plötzlicher, unvorhersehbarer und gezielter Angriff
mit rücksichtsloser Tötungsbereitschaft" bzw. als eine "anhaltende, ungesteuerte,
mörderische Raserei" charakterisiert.
20
Dabei ist der Beginn der Gewalthandlung
häufig gegen Familienmitglieder gerichtet und wird dann auf Fremde, also Unbe-
teiligte wahllos ausgeweitet. Der namengebende Ruf "Amok" durch den Täter
leitet den Ausbruch ein.
21
Eine Beschreibung des Tatablaufes bei Baechler bestätigt diese Darstellung und
nimmt auch Bezug auf die ursprünglich militärische Wurzel des Amoklaufes:
Wahllos massakriert es [das Subjekt] alles, was ihm in den Weg kommt (gelegentlich
auch Tiere), und hält erst ein, wenn es selbst niedergemacht wird. Der Ausbruch ist so
unbändig, daß dies in der Regel das einzige Mittel ist, um den Tobenden zu bremsen.
Zuweilen stehen hinter dem Amok keine mehr oder weniger privaten Zwecke, sondern
er gelangt mitten im Kriegsgeschehen zum Ausbruch. Man hat den Eindruck, als ob der
Soldat plötzlich 'rot sehe' und sich blindlings massakrierend ins Handgemenge stürzt,
bis er schließlich selbst niedergemetzelt wird.
22
Die Tötung oder zumindest schwere Verletzung des Täters beendet regelmäßig
den malaiischen Amoklauf. Ab dem Zeitpunkt des Ausrufes "Amok" gilt der Tä-
17
ebd.
18
Devereux, 1974, S.101
19
A.a.O., S.100
20
Schünemann, 1992, S.11
21
vergl. Adler et al., 1993, S.425

8
ter als vogelfrei und wird mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln kampfunfä-
hig gemacht.
23
Devereux schildert die Auswirkungen der Amoktaten auf das ge-
sellschaftliche Leben:
Tatsächlich hat der Brauch des Amok sogar die malaiische Technologie beeinflußt. Der
mit einer Lanze im Schach gehaltene Amokläufer beugte sich vor und ließ sich dabei
durchbohren, damit er seinem Gegner nahe genug kommen konnte, um ihn mit seinem
Kris (Dolch) zu töten; daher gingen die Malaien dazu über, Lanzen herzustellen, die mit
zwei einen spitzen Winkel bildenden Eisenspitzen versehen waren, um den Rasenden zu
hindern, ihnen nahe zu kommen, ähnlich wie man einst bei der Wildschweinjagd einen
Spieß verwendete, dessen Klinge an der Basis mit einer Querstange versehen war, die
verhinderte, daß das Tier sich dem Jäger gefährlich näherte, indem es sich vom Spieß
durchbohren ließ. [...] Schließlich waren in vielen malaiischen Dörfern ehedem an den
Straßenecken gabelförmige Stäbe zu sehen, welche die Behörden dort aufgestellt hatten,
um es der Bevölkerung zu ermöglichen, sich der Amokläufer zu erwehren, ohne ihnen
zu nahe zu kommen. Diese Gabelstäbe hatten fast die Bedeutung der öffentlichen
Notrufsäulen in unseren modernen Städten, die dazu dienen, in dringenden Fällen das
nächste Polizeirevier oder die Feuerwehr zu alarmieren.
24
Da systematische Untersuchungen zum malaiischen Amok fehlen, läßt sich ein
einheitliches Täterbild nur schwerlich erstellen. Laut Adler sind Täter zwischen
20 und 40 Jahren überrepräsentiert, Frauen sind äußerst selten vertreten;
25
auch für
Baechler handelt es sich um im "allgemeinen erwachsene oder bereits alternde
Männer."
26
Schünemann lokalisiert die Herkunft des malaiischen Amokläufers vor
allem im ländlichen Raum in Arbeiter- oder Bauernfamilien mit niedrigem Bil-
dungsniveau.
27
Zur Häufigkeit der Amokläufe im malaiischen Archipel liegen ebenfalls nur
Vermutungen vor, zumal regionale Unterschiede schon im vergangenen
Jahrhundert eine Übersichtlichkeit verhinderten.
28
Im 19. Jahrhundert soll die
Häufigkeit bei 1 : 1 Million Männer pro Jahr gelegen haben; einer Abnahme um
die Jahrhundertwende soll eine erneute Zunahme zur Mitte des 20. Jahrhunderts
gefolgt sein. Die Angaben zu möglichen Ursachen dieser Schwankungen
differieren, neben verbesserter psychiatrischer Versorgung wird auch ein
allgemeiner Akkulturationsprozeß genannt.
29
22
Baechler, 1975, S.283, Einfügung: S.S.
23
vergl. Adler et al., 1993, S.425
24
Devereux, 1974, S.63, Auslassung: S.S.
25
vergl. Adler et al., 1993, S.425
26
Baechler, 1975, S.283
27
Schünemann, 1992, S.12
28
ebd.
29
ebd.

9
2.1. Kultureller Hintergrund des malaiischen Amok
Bei der Betrachtung des Phänomens stellt sich die Frage, ob es sich beim Amok
um ein ausschließlich auf den malaiischen Kulturraum beschränktes Verhalten
handelt, oder ob es sich auf andere Kulturen bzw. Gesellschaftsformen übertragen
läßt. Zur Annäherung an diese Fragestellung erscheint es mir sinnvoll, die rituell-
traditionelle Bedeutung des malaiischen Amoklaufes genauer zu beleuchten.
Van Wulffen-Palthe, laut Ellenberger "einer der besten Kenner der Frage",
schreibt 1933: "Amok ist sicherlich als Ritus aufzufassen. Die malayische Bevöl-
kerung hat eine heilige Verehrung für den Amokläufer. Wohl sucht man ihn wäh-
rend des Anfalles umzubringen, aber nicht als Missetäter: er ist 'amok'".
30
Die ge-
sellschaftliche Wertschätzung der Handlung wird hier besonders deutlich und bil-
det, zusammen mit einem ritualisierten Verhalten des Amokläufers während der
Tat, die Grundlage für die Annahme einer kulturspezifischen Erscheinung. Baech-
ler: "Das Beispiel des Amok ist für den Wissenschaftler von erfreulicher Reinheit.
Nicht nur, daß er einen makellosen Verbrechen-Selbstmord darstellt, man begeg-
net in ihm zugleich in mustergültiger Klarheit den Mechanismen der Diversifika-
tion und Ritualisierung."
31
Die spezifische kulturelle Ausprägung einzelner Verhaltensweisen hat Devereux
an verschiedensten "ethnischen Störungen"
32
untersucht. Er kommt zu folgender
Einschätzung:
Die (kulturelle) Vorhersagbarkeit der Handlungen eines an ethnischen Störungen
leidenden Individuums resultiert aus einer nachdrücklichen kulturellen Konditionierung.
Zweifellos hofft der junge Malaie er möge sich nie in einer so verzweifelten Situation
befinden, daß ihm nur eine einzige akzeptable Lösung bleibt: der Amok. Er weiß
jedoch, daß er, sollte eine solche Situation eintreten, Amoklaufen müssen wird, und daß
er sich dann 'angemessen' zu verhalten wissen wird.
33
Als Voraussetzung für die Entstehung der gesellschaftlichen Wertschätzung des
Amok ist die Bedeutung der Ehre bzw. des Ehrverlustes in der malaiischen Kultur
30
Van Wulffen-Palthe zitiert nach Ellenberger, 1965, S.205
31
Baechler, 1975, S.283
32
Devereux, 1974, S.85
33
ebd.

10
zu beachten, sowie darüber hinaus die "äußerste Beeindruckbarkeit"
34
der Malai-
en. Im Jahre 1883 beschreibt O'Brien diesen Charakterzug in anschaulicher Wei-
se:
Die Malaien wirken auf den ersten Blick als unzugänglich, niemand aber kann in
engeren Kontakt zu ihnen getreten sein, ohne von ihrer außerordentlichen
Empfindsamkeit und besonderen Sensibilität gegenüber dem, was wir das alltägliche
Leben zu nennen gewohnt sind, überrascht zu sein.
35
Auch Schünemann verweist auf die in der Literatur wiederholt genannte "nationa-
le Charaktereigenschaft mit besonderer emotionaler Zurückhaltung, Kränkbarkeit
und Neigung zu expressiven Reaktionen."
36
Der Amok stellt in der malaiischen Kultur also eine Reaktion auf eine tatsächlich
bestehende Enttäuschung, Demütigung oder Kränkung dar, oder ist Resultat ge-
zielter Provokation z.B. durch hierarchisch Höhergestellte. Lediglich die Tataus-
führung weist eine Wahllosigkeit auf, die für Außenstehende so befremdlich
wirkt. Die Wahl des Verhaltens selbst ist aber eine kulturell erlernte, konditionier-
te Form, die der Amokläufer als nahezu "vorgeschriebene Reaktion" auf seine
Gefühlslage empfindet. Der Entschluß für den Amok impliziert neben der Selbst-
tötung anderer immer auch die Tötung, Ellenberger nennt dies treffend "Selbst-
mord als 'Wunsch zu töten'".
37
Das offensichtliche Ziel der Wiederherstellung der
Ehre kann bei dieser Form der Institutionalisierung demnach nicht ausschließlich
durch die Selbsttötung erreicht werden, sondern ist eng an Rachegefühle gekop-
pelt. Erst bei der Opferwahl setzt die Ziellosigkeit der Handlung ein, auch wenn
häufig zuerst Familienmitglieder angegriffen werden, bevor die Tat auf
unbeteiligte Fremde ausgeweitet wird. Um die Bedeutung des kulturellen
Lernprozesses noch einmal zu verdeutlichen, möchte ich einige weitere
Einschätzungen Baechlers anführen:
Um es klar zu sagen: Flucht, Trauer, Verbrechen usw. existieren tatsächlich, da die
suizidalen Verhalten reale Lösungen für reale Probleme darstellen, die Bestandteil des
jedem Menschen zugänglichen Verhaltensspektrums sind. [...] Nicht nur bleibt es dem
Subjekt erspart, ein bestimmtes Verhalten erfinden zu müssen, dieses bietet sich ihm
selbst dann an, wenn es - zumindest dem neutralen Beobachter - nicht ganz adäquat
34
Baechler, 1975, S.287
35
O'Brien zitiert nach Baechler, S.287
36
Schünemann, 1992, S. 14
37
Ellenberger, 1965, S.204

11
erscheint. Daraus ergibt sich eine Erweiterung der Motivskala und ein Absinken der
Schwelle, jenseits derer sich der suizidale Ausweg anbietet. Der Mechanismus, der hier
wirksam wird, ist denkbar einfach: Es ist das Gesetz des geringsten Widerstands. Es
kostet das Subjekt größere Mühe, ein Verhalten zu erfinden oder ihm seinen
persönlichen Stempel aufzuprägen, als in ein rundum fertiges, bis ins kleinste Detail
geregeltes Verhalten hineinzuschlüpfen.
38
Die Bedeutung des eigenen Todes als Teil der ritualisierten Konfliktlösung wird
bei der Berücksichtigung einer historischen Begebenheit besonders deutlich. Da-
nach gingen die Amoktaten im malaiischen Kulturraum deutlich zurück, nachdem
die holländischen Kolonialherren den Amokläufern den ehrenvollen Tod verwehr-
ten und sie stattdessen gefangennahmen, um sie zur Zwangsarbeit zu verurteilen.
39
Baechler betont aber auch, daß nicht jeder Suizid im Zusammenhang mit der insti-
tutionalisierten Form des Verhaltens stehen muß
40
, anders gesagt finden sich auch
Selbstmordhandlungen, die ohne die speziell konditionierte Form des Amok aus-
geführt werden.
2.2. Pathologische Ursachen
"Was die Tollkühnheit des Amokläufers pathologisch macht, das ist ihre soziale
Nutzlosigkeit sowie die Tatsache, daß seine Opfer für gewöhnlich nicht zu den
Feinden sondern zu den Mitgliedern der eigenen Gruppe gehören."
41
Diese allge-
meine Einschätzung von Devereux beschreibt das pathologische Element der Tat
eher allgemein vom Tatablauf her. Vereinzelt wird in der Literatur auf pathologi-
sche Ursachen des Amok hingewiesen, über die oben bereits angesprochenen hin-
aus sollen hier weitere genannt werden. Besonders die Auslösung der Amokkrise
durch eine Malariaerkrankung infolge eines "durch heftiges Fieber bedingtes Deli-
rium"
42
wird mehrfach angenommen. Darüber hinaus nennt Kraepelin im Jahre
1904 weitere mögliche Krankheitsbilder:
38
Baechler, 1975, S.259 f., Auslassung: S.S.
39
Vergl. Devereux, 1974, S.102
40
Baechler, 1975 S.258
41
Devereux, 1975, S.91

12
Dagegen ist das Amok keine einheitliche Krankheitsform, sondern die gemeinsame
Bezeichnung für triebartige schwere Gewalttaten bei getrübtem Bewußtsein. In einigen
derartigen Fällen handelte es sich um den Beginn einer Katatonie, die ja auch bei uns
nicht selten plötzliche Angriffe auf das eigene wie auf fremdes Leben auslöst. Meist
jedoch boten die Krankheitsbilder völlig das Bild der psychischen Epilepsie dar.
Daneben bestanden dann mehr oder weniger deutlich anderweitige epileptische
Krankheitserscheinungen. In vereinzelten Fällen jedoch ließen sich solche Züge trotz
sonstiger klinischer Übereinstimmung mit dem Bilde des epileptischen
Dämmerzustandes nicht nachweisen. Es muß vor der Hand dahingestellt bleiben, ob es
sich dabei um eigenartige Erkrankungen gehandelt hat; gerade hier ließe sich vielleicht
auch an die Möglichkeit larvierter Malariaanfälle denken.
43
Von Quellen, die ähnliche psychiatrische Krankheitsbilder als Ursache des Amok
nennen, berichtet auch Schünemann. Neben typischen psychischen Störungen
werden auch hirnorganische Erkrankungen und paranoide Reaktionen genannt. Er
weist aber darauf hin, daß Amok bereits früh als ein "multipel determiniertes Ver-
halten aufgefaßt und die Rückführung auf monokausale Zusammenhänge abge-
lehnt" wurde.
44
Eine Untersuchung von Carr aus dem Jahre 1976 kommt zu dem Ergebnis, daß
von 21 Amokläufern nur fünf als Psychotiker zu bezeichnen sind. Die größte Ge-
fahr geht seiner Ansicht nach von den psychisch gesunden Tätern aus, die durch-
schnittlich 41 Jahre alt sind und im Durchschnitt 4,3 Menschen pro Tat töten.
45
Auch Westermeyer kommt zu ähnlichen Ergebnissen; bei den 20 von ihm unter-
suchten Amokläufern liegt in 15 Fällen zwar eine Intoxikation vor, eine krankhaf-
te Persönlichkeitsstörung wird aber nur von einem Fall berichtet. Mit einer durch-
schnittlichen Opferzahl von 4,2 Toten pro Tat werden auch diese Täter als extrem
gefährlich eingestuft.
46
Zur Frage einer genetischen Prädisposition finden sich ausschließlich bei Baechler
Angaben:
Wohlgemerkt, angenommen es existiert ein Erbfaktor, so betrifft er - ebensowenig wie
der Selbstmord im genetischen Code enthalten ist, keinesfalls Latah und Amok direkt.
Was man erbt, ist eine Labilität und Anfälligkeit, die je nach familiärem oder
kulturellem Milieu unter dieser oder jener Form auftreten kann. [...] Tatsache ist, daß
42
A.a.O., S.88
43
Kraepelin, 1904, S.28; die hier erwähnte Katatonie wird in Kapitel 3.2. detaillierter betrachtet.
44
Schünemann, 1992, S.16
45
vergl. Carr in: Schünemann, 1992 S.17
46
vergl. Westermeyer in: Schünemann, 1992 S.17

13
man das Fehlen eines Mittelweges, jenen psychischen Balanceakt zwischen dem alles
oder nichts, in der kulturellen Tradition des Landes begründet findet.
47
Durch die Unübersichtlichkeit der Literatur in der Frage nach pathologischen Ur-
sachen des Amok läßt sich keine uneingeschränkte Aussage machen, typische
kulturelle Charaktereigenschaften wie Kränkbarkeit und Zurückhaltung erschei-
nen aber durchweg als bestimmende Faktoren.
2.3. Artverwandte Phänomene
Als dem Amok verwandte Phänomene werden eine ganze Reihe von verschiede-
nen, ebenfalls kulturell geprägten, Syndromen genannt. In engster räumlicher Nä-
he findet sich das "Latah", das ebenfalls aus Malaysia stammt, aber lediglich
Frauen befällt. Baechler nennt als Hauptsymptom die erhöhte Sensibilität "für
äußere Suggestionen, seien sie visueller, akustischer oder taktiler Art."
48
Die ver-
schiedenen Ausprägungen der Latah-Krise können hier leider nicht im einzelnen
dargestellt werden, ein wiederkehrendes Charakteristikum ist aber die Nachah-
mung des Verhaltens anderer Personen, von Wittkower als "Echoreaktionen " im
Rahmen einer "Schreckneurose" klassifiziert.
49
Auch Devereux schildert ein Imi-
tationsverhalten, daß durch eine Schreckreaktion durch ein Tier oder einen Men-
schen ausgelöst wird. Dabei identifiziert sich die in der Latah-Krise befindliche
Person mit dem Veranlassenden und ahmt dessen Verhalten mechanisch nach.
50
Wie oben bereits erwähnt sind auch hier typisch malaiische Charaktereigenschaf-
ten maßgebliche Faktoren für das Zustandekommen der Krise.
Ein weiteres Syndrom, das dem Amok von der Ausprägung am nächsten kommt,
ist der "Juramentado", der bei den Moro auf den Philippinen anzutreffen ist.
51
Auch hier handelt es sich um eine Form der wahllosen Tötung von Personen, es
bestehen aber einige signifikante Unterschiede. Der Juramentado ist verpflichtet,
47
Baechler, 1975, S.287, Auslassung: S.S.
48
A.a.O., S.286
49
Wittkower, 1972, S. 20
50
vergl. Devereux, 1974, S. 99
51
A.a.O., S.100

14
einige rituelle Handlungen vor der Tat durchzuführen. So muß er die Erlaubnis
der Eltern einholen, ein bestimmtes Kostüm anlegen, sich in ein Korsett einschnü-
ren und verschiedene weitere Vorkehrungen treffen, um einen authentischen An-
fall zu gewährleisten:
52
"Zum Beispiel wird der Mann seinen Penis hochrichten,
indem er ihn an einer Schnur befestigt, deren anderes Ende er sich um den Hals
schlingt."
53
Ellenberger charakterisiert den Juramentado als "mohammedanischen
Fanatiker, der sich unter gewissen religiösen Riten dem Tode weiht und darauf
jeden ihm Begegnenden tötet, bis er endlich selber getötet wird."
54
Ebenfalls als dem Amok verwandt ist das "Windigo" genannte Verhalten der Ur-
einwohner Nordostamerikas, den Algonquin, zu bezeichnen. Historische Berichte
beschreiben kannibalistische Zwangshandlungen, die in einem Zustand der Beses-
senheit vollzogen werden. Als Symptome bei den vorwiegend männlichen Tätern
werden Depressionen, Mord- oder Selbstmordgedanken und ein wahnhafter,
zwanghafter Wunsch , Menschenfleisch zu essen, genannt.
55
Allerdings rechtfer-
tigt "nur ein 'exzessiver Verlust', der von der Kultur nach Art und Intensität als
solcher anerkannt wird, die Windigo-Krise."
56
Frühe Untersuchungen beschreiben
die Episoden als hysterische Psychose, ausgelöst durch chronischen Nahrungs-
mangel und kulturelle Mythen; die meisten Betroffenen werden entweder sozial
geächtet oder getötet.
57
Devereux bemerkt in diesem Zusammenhang:
Manche unter den Nord-Algonquin werden, wenn sie einen bevorstehenden Anfall von
Kannibalismus - die Windigo-Krise - spüren, von so tiefem Entsetzen gepackt, daß sie
bitten, man möge sie töten. An anderer Stelle habe ich darauf hingewiesen, daß viele
Selbstmorde als Versuche, den Ausbruch einer akuten Psychose zu verhindern,
aufgefaßt werden müssen.
58
Auch der "Berserkergang" der Wikinger in Skandinavien weist Parallelen zum
Amok-Phänomen auf. Der Ausdruck "to go berserk" ist in Nordamerika die häufi-
ger verwendete Terminologie für das im europäischen Sprachraum mit Amok
umschriebene Verhalten.
59
Das Berserker-Syndrom ist, im Gegensatz zum Amok,
52
ebd.
53
Devereux, 1974, S.301
54
Ellenberger, 1965, S.205
55
vergl. FH-Lübeck (a),1998, S.1
56
Devereux, 1974, S.93
57
vergl. FH-Lübeck (a), 1998, S.1
58
Devereux, 1974, S.102

15
ausschließlich im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen beschrieben
60
; die
Einnahme toxischer Pilze kann aber als Auslöser des Verhaltens beteiligt gewesen
sein.
61
Eine weitere verwandte, ebenfalls kulturspezifische Störung hat Baechler bei den
nordamerikanischen Krähenindianern entdeckt. Das "Crazy Dog" genannte ritua-
lisierte Verhalten manifestiert sich wie folgt:
Ein Mann [...] erklärt sich selbst zum Crazy Dog, was bedeutet, daß er kämpfend zu
sterben gedenkt. Ist sein Beschluß einmal gefaßt und verkündet, so gibt es kein Zurück
mehr: Er muß sich der tödlichen Gefahr stellen. Dieser Schritt wird von einem
merkwürdigen Verhalten begleitet. Der Crazy Dog hat sich eines systematischen
Widerspruchsgeists zu bedienen: Er äußert das genaue Gegenteil seiner wahren
Absichten und tut das Gegenteil von dem, was man ihm aufträgt. Vielleicht erklärt sich
dieses bizarre Verhalten aus der Tatsache, daß sich der Crazy Dog durch seinen
Beschluß zu sterben außerhalb der gemeinsamen Gesetze stellt und diesen Ausschluß
durch die systematische Umkehr der Normen und gängigen Verhaltensweisen zum
Ausdruck zu bringen hat. Man muß ergänzen, daß die Pflicht zu sterben auf einen
einzigen Waffengang beschränkt ist. Sollte der Crazy Dog durch Zufall überleben, so
wird er von seiner Verpflichtung entbunden und kann ein normales Leben führen. Es sei
denn, er ruft sich für einen zweiten Waffengang erneut zum Crazy Dog aus usw. [...]
Wie im malaiischen Fall ist der Anlaß oder Vorwand jeweils eine extreme Spannung,
die das Subjekt nicht zu ertragen vermag. Anstatt nach einer Lösung zu suchen - sei es
in rationaler Weise durch die Modifizierung der Gegebenheiten des Problems, sei es
durch einen direkten Selbstmord-, sucht der Crazy Dog den indirekten Tod im Kampf.
Der - nicht unbedeutende - Unterschied zum Amok liegt darin, daß sich das Bestreben,
durch Töten getötet zu werden, ausschließlich gegen Nichtkrähen richtet, während der
sich der tobende Malaie auch an seinesgleichen heranmacht.
62
In der ICD 10-Codierung der Weltgesundheitsorganisation werden im Kapitel V
die "Kulturspezifischen Störungen" genannt.
63
Da diese Kategorisierung noch
nicht abgeschlossen ist und sich die unterschiedlichen Phänomene nur schwer
einheitlichen Kriterien zuordnen lassen, werden von verschiedener Seite Vor-
schläge zur Einordnung kulturspezifischer Phänomene gemacht
64
. Die in diesem
Zusammenhang genannten weiteren Syndrome können hier nicht detailliert darge-
stellt werden . Obwohl diese Störungen nach meiner Beobachtung häufig nur
durch ihre Kulturgebundenheit und nicht durch ähnliche Handlungsmerkmale ein
59
A.a.O., S.88
60
ebd.
61
A.a.O., S.98
62
Baechler, 1975, S. 285, Auslassung: S.S.
63
vergl. Dilling, 1993, S.19
64
vergl. FH-Lübeck (b), 1998, S.1

16
Verwandtschaftsverhältnis zum Amok aufweisen, führe ich aus Gründen der Voll-
ständigkeit alle hier genannten auf:
65
Ahade idzi be (Neu Guinea)
Benzi mazurazura (Südafrika, bei den Shona und verwandten Gruppen)
Cafard (Polynesien)
Colerina (in den Anden von Bolivien, Kolumbien, Equador und Peru)
Hwa-byung (koreanische Halbinsel)
Iich'aa (Ureinwohner des Südwestens der USA)
Uqamairineq (Inuits)
Koro, Jinjin bemar, Suk yeong, Suo-Yang (Südwest-Asien, China, Indien)
Dhat, Dhatu, Jiryan, Shen-k'uei (China, Indien, Taiwan)
Pibloktoq, arktische Hysterie (Inuits)
Susto, Espanto (Mexiko, Zentral- und Südamerika)
Taijin kyofusho, Shinkeishitsu, Anthropophobie (Japan)
Das bestimmende Charakteristikum des malaiischen Amok und seiner artver-
wandten Phänomene ist die Kulturgebundenheit, das sogenannte "culture bound
syndrome."
66
Danach bildet die jeweilige nationale Tradition mit ihren unter-
schiedlichen rituellen Ausprägungen und der Gestaltung spezieller Charakterei-
genschaften der Bevölkerung die wichtigste Grundlage für die Entstehung der
spezifischen Krisen. Dennoch sind zum Teil signifikante Gemeinsamkeiten der
beschriebenen Syndrome festzustellen, die den Schluß nahelegen, es handele sich
um fast identische Verhaltensweisen. Hiernach wäre der Amok also kein typisch
malaiisches, kulturspezifisches Phänomen , sondern übertragbar auf andere Kultu-
ren und insofern auch auf die als Amok klassifizierten Fälle in der westlichen
Welt der Gegenwart. Im Kapitel 3.3 soll diese Frage erneut aufgegriffen werden.
65
ebd.
66
Schünemann, 1992, S.15

17
3. Moderne Erscheinungsformen des Amok in der westlichen Welt
Wie im vorausgegangenen Kapitel gezeigt wurde, läßt sich in der Literatur aus
kulturhistorischer Sicht eine Übereinstimmung hinsichtlich der Verwendung des
Amok-Begriffes feststellen. Bei der Auseinandersetzung mit dem Amok-
Phänomen der Gegenwart und besonders mit seinem Erscheinungsbild in den
westlichen Industrienationen ist eine interdisziplinäre Herangehensweise erforder-
lich. Da "Amok" weder in der Kriminologie noch in der Psychiatrie einen Fach-
terminus darstellt, finden sich mögliche Hinweise in verschiedensten wissen-
schaftlichen Zusammenhängen. Aus diesen Einzelinformationen soll eine mög-
lichst einheitliche Bestimmung des modernen Amok-Begriffes erstellt werden.
Wenn auch in diesem Abschnitt von "Amokläufen" o.ä. gesprochen wird, so wer-
den hier in erster Linie amokähnliche Phänomene in der westlichen Welt be-
schrieben, die mit dem malaiischen Ausdruck versehen wurden. Die Frage nach
der Übertragbarkeit wird ebenfalls in diesem Kapitel erörtert.
3.1. Abgrenzung zum Serienmörder / Massenmörder
Während sich das als "Serienmörder" oder "Serienkiller" beschriebene Täterprofil
recht deutlich vom Amoktäter abgrenzen läßt, befindet sich der Tätertyp "Mas-
senmörder" in der Literatur in größerer terminologischer Nähe zum Amokläufer.
Im Gegensatz zu Amokläufen, die sich durch die Einmaligkeit der Tat klassifizie-
ren lassen, ist bei Serienmorden eine Wiederholung der Gewalthandlung anzutref-
fen, auch wenn diese verschiedene Ausprägungen annehmen kann. Die Unter-
scheidung der beiden Tätergruppen wird von Paulus skizziert:
Gewisse Ähnlichkeiten zwischen Amokläufern und Serienmördern sind vorhanden: Das
Geschlecht der Täter, es gibt mehr als ein Opfer, die Opfer werden zufällig ausgewählt,
es besteht keine verwandtschaftliche oder Freundschaftsbeziehung zwischen Täter und
Opfer, der Auslöser ist oft eine stark frustrierende Situation. Im Unterschied zu
Serienmördern ist der zeitliche Abstand zwischen den Morden jedoch sehr kurz, die
Täter handeln in einem exaltierten Geisteszustand, können sich hinterher nicht mehr an
die Taten erinnern und versuchen dies auch nicht.
67
67
Paulus, 1997, S.2

18
Einige Aspekte dieser Abgrenzung decken sich, wie wir sehen werden, nicht mit
anderen Quellen - insbesondere die Annahme, es handele sich ausschließlich um
unbekannte Tatopfer. Die Einordnung der Amoktat in die Kategorie Massenmör-
der wird hingegen in verschiedenen Quellen vorgenommen, auch hier wird eine
klare Grenze zum Serienmord gezogen. Paulus beschreibt Massenmörder als Tä-
ter, die zur gleichen Zeit am gleichen Ort mehrere Menschen töten, er verweist
aber auch auf die enge begriffliche Nähe zu Verbrechen des Nationalsozialismus
oder auch zu Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien.
68
Im Zusammenhang
mit Mehrfachmorden in den U.S.A. formuliert Brown drei Ausprägungen: Se-
rienmorde, Massenmorde und Fälle von "Mordrausch, bei denen innerhalb von
Stunden, Tagen oder auch Wochen ein rücksichtsloser Triebmörder mehrere Men-
schenleben fordert."
69
Die Triebhaftigkeit, also sexuelle Motive und die Ausdeh-
nung der Tat auf mehrere Wochen spezialisieren hiernach den Mordrausch.
3.2. Täterprofil und Tatmerkmale
Bereits aus dem Jahr 1938 liegt eine ausführliche Untersuchung zu Mehrfachtö-
tungen in Deutschland vor. Der Psychiater Gaupp dokumentierte darin besonders
ausführlich den Fall des Hauptlehrers Wagner, der 1913 seine Familie erstochen
hatte und anschließend an einem seiner früheren Wohnsitze neun Menschen tötete
und den Ort teilweise in Flammen legte.
70
Schünemann nennt den Fall einen "Pro-
totyp des wahnkranken Amokläufers im europäisch-amerikanischen Kultur-
raum"
71
, die Tat des Lehrers Wagner war aber über Jahre durchdacht und geplant
worden. Die Ungeplantheit der Tat stellt neben der Ziellosigkeit nach verschiede-
nen Definitionen ein typisches Merkmal des Amok dar, hieraus ergibt sich die
häufig als Tateigenschaft genannte Willkür.
72
Die Plötzlichkeit des Tatausbruches
wird auch von Wetzel genannt, darüber hinaus setzt er die Sinnlosigkeit als Krite-
68
vergl. Paulus, 1997, S.1 f.
69
Brown, 1994, S.87
70
Neuzner/Brandstätter, 1996, S.10
71
Schünemann, 1992, S.22
72
vergl. FH-Lübeck (b), 1998, S.1

19
rium der Amoktat voraus; alle politisch, religiös oder sexuell motivierten schwe-
ren Gewalttaten werden von ihm ebenfalls nicht zum Amok gerechnet.
73
Die Amokläufe der Gegenwart werden, wie schon in den vergangenen Jahrhun-
derten, oft als Taten Geistesgestörter bezeichnet, als ursächliche Krankheiten wer-
den dabei vorwiegend Schizophrenien, Epilepsien und insbesondere Katatonien
angenommen.
74
Die Katatonie, die schon von Kraepelin im Jahre 1904 als Tataus-
löser angenommen wurde, ist eine Form der Schizophrenie, die von Dörner und
Plog auch heute noch beschrieben wird:
Es gibt schwere Störungen der Willkürbewegungen eines Menschen, wobei jemand zur
Bewegungslosigkeit erstarren, zur Statue werden kann; oder jemand ist nicht zu
bremsen, schlägt wild um sich. In beiden Fällen ist der Mensch äußerst gespannt,
verkrampft, innerlich erregt (katatoner Sperrungs- oder Erregungszustand).
75
Die Katatonie kann darüber hinaus bei Infektionskrankheiten, Hirntumoren und
endogenen Depressionen auftreten
76
. Auch in der ICD-Codierung der WHO findet
sich die "katatone Schizophrenie" als Untergruppe der Schizophrenie.
77
Während
die Amoktat nach dieser Diagnose in das ICD 10-Klassifikationssystem der Per-
sönlichkeitsstörungen in der Subgruppe F60.1 (schizoide Persönlichkeitsstörun-
gen) einzuordnen wäre
78
, wird aufgrund der Uneinheitlichkeit der als Amok be-
zeichneten Syndrome beispielsweise die Subgruppe F68.8 (andere Persönlich-
keits- und Verhaltensstörungen) vorgeschlagen.
79
Geisteskrankheiten als Ursache von Amoktaten beschreibt auch Adler, der psy-
chiatrische Erkrankungen bei 108 von 196 untersuchten Amokläufern diagnosti-
zieren konnte und Geisteskrankheiten bzw. schwerwiegende psychiatrische Stö-
rungen überrepräsentiert fand:
Am gefährlichsten sind 10 Wahnkranke und 29 Psychopathen. 30 Fälle mittlerer
Gefährlichkeit werden von Tätern mit paranoid-halluzinatorischen Syndromen
begangen. 28 Intoxikierte und 11 Affekttäter sind die ungefährlichsten Täter. Weitere
73
vergl. Wetzel in: Schünemann, 1992, S.23
74
vergl. u.a. FH-Lübeck (b), 1998, S.1
75
Dörner /Plog, 1996, S.155
76
Psychrembel, 1994, S.763
77
A.a.O., S.154
78
vergl. Muhs et al., 1993, S. 136
79
vergl. FH-Lübeck (b), 1998, S.1

20
25 syndromal nicht direkt zuordenbare Täter mit erweitertem Familiensuizid könnten
im Rahmen depressiver Störungen handeln. Psychotische Täter handeln zwar häufiger
aus Bagatellkonflikten, wahnhaften oder ausdrücklich fehlenden Motiven heraus,
insgesamt sind bei ihnen wie bei anderen Tätern die Gründe schwerwiegend.
Objektverluste und private Streitigkeiten einerseits und soziale Konflikte andererseits
sind etwa gleichbedeutend.
80
Neben psychiatrischen Krankheiten sind auch hirnorganische Erkrankungen als
determinierende Faktoren der Amoktat nachgewiesen worden; Hirntumore um das
Gebiet des Mandelkerns können demnach extrem aggressives Verhalten bewir-
ken.
81
Auch Prochazka verweist auf die wesentliche Bedeutung dieser Erkran-
kung, sowie von Schädel-Hirn-Traumen und entzündlichen Erkrankungen für das
Gewalttatenrisiko.
Als Durchschnittsalter nennt Adler für die von ihm ausgewerteten Fälle den Wert
34,8 Jahre, statistisch bedeutsame Unterschiede finden sich aber bei der Altersver-
teilung nicht. Auch sind verschiedenste Berufsgruppen vertreten; die Taten wer-
den sowohl von Ledigen als auch von Verheirateten begangen.
82
Wurde schon
beim malaiischen Amok von Taten berichtet, bei denen die Opfer im Familienum-
feld zu finden waren, bevor sich der Täter selbst tötete, begegnet uns dieser "er-
weiterte Suizid"
83
auch in der Charakterisierung der Amokläufer unseres Kultur-
kreises. Diese eng mit Partnerschaftskonflikten und familiären Auseinanderset-
zungen verknüpfte Ausprägung der Tat wird in Kapitel 5 ausführlicher diskutiert.
Neben der Zielgerichtetheit der Tötung von Menschen aus dem persönlichen Um-
feld des Täters sind nach Schünemanns Erkenntnissen über die Hälfte der Tatop-
fer Fremde gewesen.
84
Kersten, der kulturvergleichende Studien zur Männlichkeit von Gewalt durchge-
führt und dabei u.a. amerikanische und besonders australische Amokfälle unter-
sucht hat
85
, beschreibt die ausschließlich männlichen Täter als vorwiegend allein-
stehende "Einzelkämpfer", die zum großen Teil als "Waffennarren" zu bezeichnen
80
vergl. Adler et al., 1993, S.425
81
vergl. Zimbardo, 1983, S.636
82
vergl. Adler, 1993, S.427
83
vergl. Ellenberger, 1965, S. 206
84
vergl. Schünemann, 1992, S.57
85
vergl. Kersten, 1997 (a)

21
sind.
86
Nach seinen Erkenntnissen ist besonders in Australien eine sogenannte
"Frontier-Mentalität" bei den Tätern zu beobachten, die neben der Selbstverteidi-
gung die Verteidigung der Ehre beinhaltet. Die Amokläufer handeln wie im
Kriegszustand, nehmen keinerlei Opferdifferenzierung vor und reagieren auf Be-
wegungen potentieller Opfer als Hinweisreize für aggressive Ausbrüche, hohe
Opferzahlen sind häufig, Schußwaffen überwiegen.
87
Das Vorherrschen von
Schußwaffen wird auch in anderen Quellen bestätigt, daneben ist aber eine Zu-
nahme von Fahrzeugen als Tatwaffen beobachtet worden.
88
Die Amoktat spielt sich in verschiedenen Phasen ab, Kersten typisiert drei Tatpe-
rioden: einer hektisch-aggressiven Phase, in der dem Täter viele Menschen zum
Opfer fallen, folgt ein Zeitraum relativer Entspannung, indem auch ein Zugriff
von Polizeikräften empfohlen wird; im dritten Zeitabschnitt findet eine neue Ag-
gression statt.
89
Von Schünemann werden ebenfalls verschiedene Tatphasen ange-
nommen, hier findet allerdings ein größerer Zeitabschnitt Berücksichtigung und es
wird von vier Tatphasen ausgegangen
90
: Nach der ersten Periode, die durch inten-
sives Grübeln des Täters ohne sichtbare Anzeichen von Aggression gekennzeich-
net ist und die eine höchst unterschiedliche Zeitspanne umfassen kann, folgt in der
zweiten Amokphase der völlig unerwartete und unvorhersehbare Angriff des Tä-
ters. In der dritten Periode kommt es entweder zur einer Festnahme oder zum Sui-
zid des Täters, Selbststellungen sind die Ausnahme. Die vierte Amokphase wird
als Amnesie (siehe unten) für die Tatzeit klassifiziert, dieser Gedächtnisausfall
wurde allerdings ausschließlich im Zusammenhang mit einer Alkoholintoxikation
beobachtet. Die Unterschiedlichkeit der chronologischen Struktur der Tat ist hier
nach meinem Ermessen durch verschieden gesetzte zeitliche Rahmenbedingungen
begründet, Gemeinsamkeiten der beiden Modelle sind grundsätzlich vorhanden.
Als tatbegleitende Bewußtseinsstörung wird mehrfach eine Amnesie, - eine Sam-
melbezeichnung für teilweisen oder völligen Gedächtnisverlust, der zeitlich be-
86
vergl. Kersten, 1997 (b)
87
ebd.
88
vergl. Schünemann, 1992, S.58
89
vergl. Kersten, 1997 (b)
90
vergl. Schünemann, 1992, S.105

22
grenzt oder dauerhaft auftreten kann
91
- genannt
92
. Die Amnesie wird besonders
im Zusammenhang mit einer Affekttat genannt, die als "unkontrollierte, nur vom
Affekt gesteuerte Handlung, z.B. Kurzschlußhandlung als Entladung einer Af-
fektstauung"
93
charakterisiert wird.
Abschließend muß festgestellt werden, daß sich die Literaturlage zum modernen
Amok-Phänomen als wenig homogen darstellt. Die Angaben unterliegen erhebli-
chen Abweichungen, sowohl die Tatmotivation, als auch das Täterprofil betref-
fend. Möglicherweise kann die Auswertung der Ergebnisse der inhaltsanalyti-
schen Untersuchung einige Aufklärung in diesen Punkten erbringen, gegebenen-
falls werden einzelne Symptome des Amok erneut analysiert.
3.3. Vergleich des traditionellen malaiischen Amok mit
dem amokähnlichen Phänomen der westlichen Welt
Bei einer Gegenüberstellung der traditionellen Form des malaiischen Amok und
der in der Literatur beschriebenen amokähnlichen Phänomene in den Industriena-
tionen der Gegenwart lassen sich unzählige Parallelen erkennen. Sowohl die Cha-
rakterisierung des Tatmotivs betreffend als auch in der Skizzierung von Tatablauf
und Täterprofil scheinen räumliche und zeitliche Distanz zur "ursprünglichen"
Form des Amok nicht erkennbar. In den Quellen zum modernen Amok sind weni-
ger einheitliche Erklärungsansätze zu finden als bei der Einordnung des malaii-
schen Amok.
Als mögliche Tatmotivationen des malaiischen Amokläufers werden vielfältige
Ursachen angegeben, so wird neben Kränkungen, Verletzungen des Ehrgefühls
und Rachegelüsten auch eine spezielle kriegerische Taktik als Tatmotiv genannt.
Darüber hinaus konnten familiäre Konflikte, das bloße Betrachten der Waffe, des
Kris, sowie vorübergehende bzw. dauerhafte psychiatrische Erkrankungen (z.B.
91
vergl. Dorsch, 1994, S. 28
92
vergl. Schünemann, 1992, S.21
93
Dorsch, 1994, S.11

23
im Verlaufe einer Malaria-Erkrankung) als Tatauslöser in Betracht kommen. Die-
se Tatmotive finden sich auch in der Beschreibung amokähnlicher Verhaltenswei-
sen der Gegenwart; neben Geisteskrankheiten spielen Beziehungskonflikte eine
herausragende Rolle. Als Opfer sind entsprechend häufig Familienangehörige
betroffen, die Tat wird aber auch auf dem Täter völlig fremde Personen ausge-
dehnt oder ausschließlich von einer Ungezieltheit der Opferwahl gekennzeichnet.
Diese Beobachtungen decken sich ebenfalls mit den Aussagen zum malaiischen
Amok. Übereinstimmend werden Frauen als Tatbeteiligte nur in seltenen Fällen
genannt. Eine Besonderheit aber ist in Bezug auf die ausgewählten Waffen zu
bemerken. Während der malaiische Amokläufer ausschließlich mit dem Kris be-
waffnet war, überwiegen in der Gegenwart Schußwaffen; in Extremfällen ausge-
prägter Waffenaffinität, also einer engen Beziehung zu Waffen, werden die Taten
von sogenannten "Waffennarren" begangen. Zudem werden besonders Fahrzeuge
zunehmend als Tatwaffen eingesetzt.
Die Tatausführung weist ebenfalls zahlreiche Gemeinsamkeiten auf. Sie wird als
plötzlicher und überraschender Ausbruch extremer Gewalttätigkeiten beschrieben.
Das Verhalten des Täters wird mit verschiedensten Begriffen wie "tobend", "ra-
send" oder "blindwütig" bezeichnet und es wird auf die Plötzlichkeit des Tatbe-
ginns hingewiesen. Eine Latenz unterschiedlicher Dauer zwischen dem Tatauslö-
ser und dem Beginn des Amoklaufes findet sich gleichermaßen bei beiden hier
verglichenen Formen. Die Auslösung der Tat durch die von Devereux beschriebe-
ne Auto-Induktion, nach der eine Person beispielsweise durch einen Befehl in
einen Amok-Zustand gebracht werden konnte, ist vom modernen Amok-
Phänomen nicht berichtet worden.
Eine Bewußtseinsstörung, die beim malaiischen Amok regelmäßig für die Tatzeit
angegeben wird, konnte zwar auch von Adler und Schünemann registriert werden,
diese trat aber nur in Verbindung mit einer Alkoholisierung des Täters auf. So-
wohl in historischer, als auch in der Ausprägung der Gegenwart enden Amokläufe
mit dem Tod oder der schweren Verletzung des Täters. Der heutige Amokläufer
beendet sein Leben aber häufiger selbst, als der malaiische Täter. Auf der anderen
Seite ist die Tötung durch Einsatzkräfte oder durch Personen aus dem Opferum-

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1999
ISBN (eBook)
9783832428365
ISBN (Paperback)
9783838628363
Dateigröße
5 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst - Fachhochschule Hildesheim, Holzminden, Göttingen – Sozialwissenschaften
Note
1,0
Schlagworte
affekttaten amok waffennarren gewaltdelikte
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Titel: Zum Phänomen Amok
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