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Möglichkeiten normativer Orientierungen in der Massenkommunikation

Wechselwirkungen zwischen Massenmedien und Öffentlichkeit

©2000 Magisterarbeit 76 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Wir leben heute in einer Welt, in der Kommunikation einen wesentlichen Anteil hat. In der westlichen Gesellschaft wird diese Kommunikation dominiert von den Massenmedien. Fernsehen, Radio, Presse, und seit jüngster Zeit computerisierte Elektronik, wie das Internet, aber auch kulturell-künstlerische massenmediale Bereiche, wie Kino, Compact Disc oder „Multi-Media“, sind inzwischen in jegliche Sphäre der Gesellschaft eingedrungen und nicht mehr daraus wegzudenken. Selbst wenn man sich in der Betrachtung auf die traditionellen Massenmedien, also Fernsehen, Radio und Presse, konzentriert, wie es diese Arbeit tut, ist diese Entwicklung unverkennbar. Sie wird von den sogenannten „Neuen Medien“, die hier nicht eingehend behandelt werden können, nur noch verstärkt.
Massenmedien sind heutzutage schnell und flexibel, pluralistisch und autonom, publikums- und gewinnorientiert, professionell und kommerziell. Sie liefern das Wissen über die Welt, sie bilden, überzeugen, erklären, orientieren und unterhalten. Dass die Medien allgegenwärtig sind und ihr Einfluss in der Gesellschaft enorm ist, hat sich als Faktum im öffentlichen Bewusstsein festgesetzt. Das Wissen darum und das daraus resultierende Gefühl der Abhängigkeit und Machtlosigkeit bewirkt nun eine Gegentendenz. Die Massenmedien werden verantwortlich gemacht für Defizite und Fehlentwicklungen in der Gesellschaft, ihnen wird Machtmissbrauch und Manipulation vorgeworfen. „Das Fernsehen ist schuld an der immer größer werdenden Gewaltbereitschaft der Jugend.“ oder: „Die Medien verdummen uns.“ oder: „Die Zeitungen lügen sowieso alle.“ Der Ruf nach stärkerer Kontrolle der Medien wird laut, genau wie die Forderung nach einer Ethik der Massenmedien, der Medienethik.
Gang der Untersuchung:
Diese Arbeit will versuchen, einige der damit verbundenen Fragen aufzuwerfen und Vorschläge zu deren Beantwortung zu machen. Was ist Funktion und Wirkungsweise der Massenmedien in der heutigen Gesellschaft? Sind Massenmedien überhaupt in der Lage, ethisch zu handeln (Abschnitt 2)? Wer wären die Adressaten einer möglichen Medienethik (Abschnitt 3)?
Medien sind wirksam in der Öffentlichkeit. Einerseits sind sie konstitutiv für diese, andererseits werden sie durch Öffentlichkeit erst zu Massenmedien. Anhand des von Jürgen Habermas entwickelten Begriffs der bürgerlichen Öffentlichkeit werde ich diese Wechselwirkung beleuchten (Abschnitt 4). Ich gehe auf den Verfall der Öffentlichkeit ein und auf den […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 2525
Grübel, Nils: Möglichkeiten normativer Orientierungen in der Massenkommunikation:
Wechselwirkungen zwischen Massenmedien und Öffentlichkeit / Nils Grübel -
Hamburg: Diplomarbeiten Agentur, 2000
Zugl.: Berlin, Universität, Magister, 2000
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Dipl. Kfm. Dipl. Hdl. Björn Bedey, Dipl. Wi.-Ing. Martin Haschke & Guido Meyer GbR
Diplomarbeiten Agentur, http://www.diplom.de, Hamburg 2000
Printed in Germany


Inhaltsverzeichnis
INHALTSVERZEICHNIS 1
1. VORBEMERKUNGEN 3
2. MASSENMEDIEN IN DER HEUTIGEN WESTLICHEN GESELLSCHAFT 4
2.1. M
ASSENMEDIEN ALS
W
ELTVERMITTLER
6
2.2. M
ASSENMEDIEN UND DIE
K
ONSTRUKTION VON
R
EALITÄT
8
2.2.1. S
YSTEMTHEORETISCHER
A
NSATZ
9
2.2.2. `P
TOLEMÄISCHER
'
VERSUS
`K
OPERNIKANISCHER
' A
NSATZ
10
2.3. M
EDIENMACHT UND IHRE
G
RENZEN
12
3. PROBLEME BEI DER NORMATIVEN EINFLUßNAHME AUF DIE MEDIEN 15
3.1. P
ROBLEME BEI DER
A
DRESSIERUNG DER
N
ORMEN
16
3.1.1. I
NDIVIDUALETHIK FÜR DEN EINZELNEN
J
OURNALISTEN
16
3.1.2. S
TANDESETHIK FÜR DEN
J
OURNALISTENBERUF
19
3.1.3. O
RGANISATIONSETHIK FÜR
M
EDIENUNTERNEHMEN
21
3.2. P
ROBLEME BEI DER
S
ETZUNG DER
N
ORMEN
22
3.2.1. N
ORMIERUNG DURCH
S
TAAT UND
R
ECHT
23
3.2.2. N
ORMIERUNG DURCH DEN
M
ARKT UND DAS
E
INGREIFEN DER
Ö
FFENTLICHKEIT
24
4. ÖFFENTLICHKEIT IM MEDIENZEITALTER 25
4.1. Z
UM
B
EGRIFF
Ö
FFENTLICHKEIT
26
4.2. H
ABERMAS
' K
ONZEPT DER BÜRGERLICHEN
Ö
FFENTLICHKEIT
28
4.2.1. S
TRUKTUREN DER BÜRGERLICHEN
Ö
FFENTLICHKEIT
29
4.2.2. D
IE ÖFFENTLICHE
M
EINUNG
32
4.2.3. U
NIVERSELLES
P
RINZIP UND
F
UNKTION DER KRITISCHEN
Ö
FFENTLICHKEIT
33
4.3. S
TRUKTURWANDEL DER
Ö
FFENTLICHKEIT
35
4.4. V
ERWANDLUNG VON
Ö
FFENTLICHKEIT IN
M
ASSE
36
4.5. A
USWIRKUNGEN DES
W
ANDELS
38
5. EXKURS: MEDIENTHEORIE 40

2
6. WECHSELWIRKUNGEN ZWISCHEN ÖFFENTLICHKEIT UND MASSENMEDIEN 42
6.1. R
OLLE DER
M
EDIEN BEI DER
H
ERAUSBILDUNG DER KRITISCHEN
Ö
FFENTLICHKEIT
42
6.2. S
TRUKTURWANDEL DER
M
EDIEN
44
6.3. A
NTEIL DER
M
ASSENMEDIEN AM
V
ERFALL DES KRITISCHEN
P
OTENTIALS DER
Ö
FFENTLICHKEIT
46
6.3.1. P
OLITISCHE
A
SPEKTE
47
6.3.2. Ö
KONOMISCHE
A
SPEKTE
49
6.4. K
RITIK AN
H
ABERMAS
' T
HEORIE DES
Z
ERFALLS DER
Ö
FFENTLICHKEIT
51
6.5. K
RITIK AN
H
ABERMAS
' D
ARSTELLUNG DER
M
EDIEN
53
7. MASSENMEDIEN UND KULTURKONSUM 54
7.1. D
ER INHALTLICHE
V
ERFALL DER
K
UNST DURCH IHRE TECHNISCHE
R
EPRODUZIERBARKEIT
56
7.2. K
ULTURINDUSTRIE ALS
M
ASSENBETRUG
57
8. REINSTALLATION EINER POLITISCH FUNGIERENDEN ÖFFENTLICHKEIT
UND ANSPRUCHSVOLLE MASSENMEDIEN ALS SICH GEGENSEITIG
BEDINGENDE NORMATIVE ZIELVORGABEN EINER
KOMMUNIKATIONSETHIK 66
9. LITERATURLISTE 70

3
Und seht nur hin, für wen Ihr schreibt!
Wenn diesen Langeweile treibt,
Kommt jener satt vom übertischten Mahle,
Und, was das allerschlimmste bleibt,
Gar mancher kommt vom Lesen der Journale.
Goethe, Faust
1. Vorbemerkungen
Die folgende Abhandlung wird als Abschlußarbeit im Fach Philosophie an der Freien Universität
Berlin vorgelegt.
Wir leben heute in einer Welt, in der Kommunikation einen wesentlichen Anteil hat. In der westli-
chen Gesellschaft wird diese Kommunikation dominiert von den Massenmedien. Fernsehen, Radio,
Presse, und seit jüngster Zeit computerisierte Elektronik, wie das Internet, aber auch kulturell-
künstlerische massenmediale Bereiche, wie Kino, Compact Disc oder `Multi-Media', sind inzwi-
schen in jegliche Sphäre der Gesellschaft eingedrungen und nicht mehr daraus wegzudenken. Selbst
wenn man sich in der Betrachtung auf die traditionellen Massenmedien, also Fernsehen, Radio und
Presse, konzentriert, wie es diese Arbeit tut, ist diese Entwicklung unverkennbar. Sie wird von den
sogenannten `Neuen Medien', die hier nicht eingehend behandelt werden können, nur noch ver-
stärkt. Massenmedien sind heutzutage schnell und flexibel, pluralistisch und autonom, publikums-
und gewinnorientiert, professionell und kommerziell. Sie liefern das Wissen über die Welt, sie bil-
den, überzeugen, erklären, orientieren und unterhalten. Daß die Medien allgegenwärtig sind und ihr
Einfluß in der Gesellschaft enorm ist, hat sich als Faktum im öffentlichen Bewußtsein festgesetzt.
Das Wissen darum und das daraus resultierende Gefühl der Abhängigkeit und Machtlosigkeit be-
wirkt nun eine Gegentendenz. Die Massenmedien werden verantwortlich gemacht für Defizite und
Fehlentwicklungen in der Gesellschaft, ihnen wird Machtmißbrauch und Manipulation vorgewor-

4
fen. ,,Das Fernsehen ist schuld an der immer größer werdenden Gewaltbereitschaft der Jugend."
oder: ,,Die Medien verdummen uns." oder: ,,Die Zeitungen lügen sowieso alle." Der Ruf nach stär-
kerer Kontrolle der Medien wird laut, genau wie die Forderung nach einer Ethik der Massenmedien,
der Medienethik.
Diese Arbeit will versuchen, einige der damit verbundenen Fragen aufzuwerfen und Vorschläge zu
deren Beantwortung zu machen. Was ist Funktion und Wirkungsweise der Massenmedien in der
heutigen Gesellschaft? Sind Massenmedien überhaupt in der Lage, ethisch zu handeln (Abschnitt
2)? Wer wären die Adressaten einer möglichen Medienethik (Abschnitt 3)? Medien sind wirksam in
der Öffentlichkeit. Einerseits sind sie konstitutiv für diese, andererseits werden sie durch Öffent-
lichkeit erst zu Massenmedien. Anhand des von Jürgen Habermas entwickelten Begriffs der bür-
gerlichen Öffentlichkeit werde ich diese Wechselwirkung beleuchten (Abschnitt 4). Ich gehe auf
den Verfall der Öffentlichkeit ein und auf den Anteil, den die Medien in der heutigen Zeit daran
haben (Abschnitt 6). Andererseits versuche ich die Chancen aufzuzeigen, die einer räsonierenden
Öffentlichkeit im Umgang mit den Massenmedien eröffnet werden können (Abschnitt 7). Das Ziel
dieser Arbeit ist es, die Reinstallation einer politisch fungierenden Öffentlichkeit und die Herstel-
lung einer anspruchsvollen Medienkommunikation als sich gegenseitig bedingende normative Ziel-
setzungen herauszuarbeiten (Abschnitt 8). Daß hierbei der Bereich der Philosophie zu dem der So-
ziologie überschritten wird, liegt in der Natur der Sache.
2. Massenmedien in der heutigen westlichen Gesellschaft
Die Welt an der Schwelle zum 21. Jahrhundert ist vom Standpunkt eines Betrachters aus der westli-
chen Welt einerseits beängstigend klein und überschaubar, andererseits aber äußerst komplex und
kompliziert geworden. Dieses Dilemma ist mitverantwortlich für einen fortschreitenden Orientie-
rungsverlust des Einzelnen. Die ins allgemeine Bewußtsein dringenden globalen Probleme nehmen
zu, während die Einbettung des einzelnen Lebens in einen übergreifenden Sinnzusammenhang nicht
mehr garantiert ist. Fragen gebären neue Fragen, und die Antworten, die darauf gegeben werden,
sind unverständlich und unbefriedigend. Die Unsicherheit wächst und damit die Sehnsucht nach
einfachen Antworten. Diese sogenannten einfachen Antworten aber sind immer falsch und ein
Schritt zurück in die Zeit vor der `Befreiung des Bewußtseins aus der selbstverschuldeten Unmün-
digkeit.' Die kritische Vernunft sucht nach Ursachen und Verantwortlichen.

5
Die Weltsicht hat sich in den letzten hundert Jahren radikal verändert. Verantwortlich dafür sind in
erster Linie natürlich die wissenschaftlich- technischen Fortschritte, aber auch die einschneidenden
politisch- gesellschaftlichen Entwicklungen in diesem Jahrhundert. Die enormen Erkenntnisse in
der Kern- und Astrophysik und die Weiterentwicklungen in der Chemie, Biologie und Medizin
brachten die Menschheit mehrfach an den Rand einer Katastrophe, die das Ende der gesamten
Menschheit zur Folge gehabt hätte. Andererseits aber eröffnete die Umsetzung der bahnbrechenden
Erkenntnisse als Technologien in einer sich frei entwickelnden Wirtschaft völlig neue Möglichkei-
ten zur Erleichterung und Verschönerung des Lebens des `westlichen Teils der Menschheit'. Diese
wirtschaftliche Entwicklung erzeugte einen Reichtum in der westlichen Welt, der dank der demo-
kratischen Strukturen der großen Mehrheit der dort Lebenden zugute kam und kommt. Der Reich-
tum äußert sich jedoch nicht nur in der automobilen Normalität und dem allgemein hohen Lebens-
standard der Bürger dort. Deutlich werden die Potenzen der westlichen Demokratien auch, wenn
man die relativ hohe Allgemeinbildung der Bevölkerung betrachtet, wenn man das ständig wach-
sende Maß an Freizeit ins Kalkül zieht, die nicht zuletzt auch zum Reisen in immer entferntere
Länder genutzt wird, und wenn man die Möglichkeiten betrachtet, die sich erst seit kurzem durch
die Computerisierung aller gesellschaftlichen Sphären ergeben. Aber heutzutage ist der Bürger nicht
einmal gezwungen, seine Wohnung zu verlassen, um sich über sich und die Welt zu informieren.
Täglich, ja stündlich bringen die Massenmedien, vor allem Zeitungen, Radio und Fernsehen, aber
seit kurzem auch das Internet, jede Art von Informationen zum interessierten Empfänger: vom
Dachstuhlbrand in der Nebenstraße, über Koalitionsstreitigkeiten in der Regierung bis hin zu Erd-
beben in Taiwan und dem Ozonloch über der Antarktis.
1
Die Welt ist im Wohnzimmer und mit ihr
das Bewußtsein, daß alles irgendwie zusammenhängt und jeden Einzelnen betrifft. Die Welt ist
überschaubar. Man braucht acht Stunden mit dem Auto von Berlin nach München, aber nur sieben
mit dem Flugzeug von Frankfurt/M. nach New York. Die Welt ist beängstigend klein. Von Berlin
sind es nur 1000 km bis nach Tschernobyl. Ganz abgesehen davon, daß das Wissen über die globa-
len Auswirkungen des ungebremsten Bevölkerungswachstums in Asien und Afrika und der Abhol-
zung der südamerikanischen Regenwälder oder eben des Ozonlochs zum Allgemeingut des westli-
chen Bewußtseins gehört.. Aber die Welt wird mit jeder neuen Nachricht komplexer und damit
1
So schreibt z.B. R. Münch: ,,Kommunikation dringt in die hintersten Winkel der Gesellschaft ein, und sie umspannt
den ganzen Erdball. Wir sind in ein riesiges Netzwerk einer weltumspannenden Kommunikiation eingefügt. Es gibt
kein Ereignis, keine Katastrophe auf der Welt, die uns nicht präsent gemacht werden können und damit nicht berühren.
Alle Ereignisse der Welt bestimmen uns heute." R. Münch, Dialektik der Kommunikationsgesellschaft, Frankf./M.
1991, S. 88

6
komplizierter.
2
Vieles von dem, was an neuen Informationen auf den Rezipienten einstürzt, läßt sich
nicht in einfache Kausalzusammenhänge einordnen und damit nicht als gut oder schlecht einstufen.
Dafür wäre es notwendig, mehr Informationen aus anderen Blickwinkeln zu bekommen und sich
mit den Hintergründen zu beschäftigen. Das aber ist aus mehreren Gründen so gut wie unmöglich.
Erstens fehlt dem Rezipienten die Zeit. Die Flut der Informationen ist gewaltig und reißt nicht ab.
Zweitens fehlt dem Rezipienten die Distanz. Die Informationen kommen permanent und von über-
all. Eine Reflexion bedarf jedoch der Ruhe und vor allem aller zu einem bestimmten Thema verfüg-
baren Fakten. Drittens aber fehlen dem Rezipienten in der Regel diese Fakten und das dazugehörige
Hintergrundwissen. Er hat, soweit es sich nicht um einen Fachmann auf dem jeweiligen Gebiet
handelt, nur eine einzige Möglichkeit, zu mehr Informationen und Fakten zu gelangen: die Mas-
senmedien.
2.1. Massenmedien als Weltvermittler
Die Rolle, die die Massenmedien in der westlichen Gesellschaft heute spielen, ist derart umfassend
und von enormer Bedeutung, daß sie wohl kaum zu überschätzen ist. Massenmedien informieren,
bilden und unterhalten und prägen das Leben der Menschen. N. Luhmann hat völlig recht, wenn er
schreibt, daß wir alles, was wir über die Gesellschaft und die Welt, über Geschichte und Natur wis-
sen, durch die Massenmedien wissen.
3
Das mag übertrieben klingen, aber wenn man sich Luhmanns
Definition von Massenmedien anschließt, nach der Massenmedien alle Einrichtungen der Gesell-
schaft sind, die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Hilfsmittel bedienen
4
, wird
klar, wie sehr das gesellschaftliche und das individuelle Wissen mit den Massenmedien zusammen-
hängt. Die großen Ereignisse der Weltpolitik, zum Beispiel Klimakonferenzen, Friedensverhand-
lungen im Nahen Osten oder Staatsbesuche, werden bedeutungsträchtig ins Bild gesetzt und zu
Schlagzeilen verarbeitet. Wer wüßte sonst von ihnen? Die großen Katastrophen auf der Welt, wie
Erdbeben, Überschwemmungen oder Dürreperioden, Wirbelstürme oder Vulkanausbrüche mit ihren
Opfern und Schäden kennen die Nichtbetroffenen nur über die Medien. Wären es sonst weltweite
Katastrophen? Wenn man dagegen an die weltgrößten Sportereignisse, wie die Olympischen Spiele
2
Weiter heißt es bei Münch: "Mit unserem Wissen über diese weltweite Verflechtung steigt aber auch unser Bewußt-
sein der Ohnmacht." R. Münch, a.a.O., S. 88
3
Vgl. N. Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S.9

7
oder die Fußballweltmeisterschaften, denkt, erkennt man, daß sie ohne mediale Verbreitung heute
gar nicht mehr vorstellbar sind. Flugzeugabstürze, Eisenbahnunglücke, aber auch Modenschauen,
Filmpremieren oder Papstbesuche sind Medienereignisse erster Ordnung. Bei einigen Ereignissen,
wie etwa bei Kriegen und Attentaten ist es nicht immer eindeutig, ob das Geschehen durch die Mas-
senmedien vermittelt wird, oder ob nicht vielmehr das durch die Massenmedien Vermittelte das
Geschehen ist. Ich komme im nächsten Abschnitt darauf zurück. Zunächst ist es jedoch nicht nur
die Vermittlung eines Wissens von der Welt, wodurch die Massenmedien das gesellschaftliche und
individuelle Leben prägen. Darüber hinaus muß man eine Orientierungskraft der Medien, bezogen
auf die Konsum- und Lebensgewohnheiten der Rezipienten, konstatieren. Das gilt keineswegs nur
für die direkte Werbung, in der der Einzelne als Nutzen kalkulierendes und selbstbewußt entschei-
dendes Individuum angesprochen wird
5
. Das gilt in gleichem Maße für Filme, Vorabendserien oder
Sportübertragungen, die Eß- und Trinkgewohnheiten, Kleidungscodes oder jeweils `angesagte'
Schuhmarken beeinflussen.
6
Auch das soziale Leben befindet sich in einer Situation der permanen-
ten Beeinflussung durch die Massenmedien. Radio und Fernsehen fehlen in so gut wie keinem
Haushalt, und die Zahl der Sender ist kaum noch zu überblicken. Vom Radiowecker über die Zei-
tung bis hin zur Tagesschau, vom Video über CD und DVD bis zum Internet sind Massenmedien
ein integraler Bestandteil des modernen westlichen Lebens. Sie bestimmen mit über den Tagesab-
lauf im Familienleben, wie das Fernsehprogramm, sorgen für soziale Kontakte, zum Beispiel das
Kino. Sie sind aber vor allem einer der mächtigsten Wirtschaftsfaktoren der gesamten Gesellschaft.
Ein weiterer entscheidender Bereich der Einflußnahme durch die Massenmedien ist damit ange-
sprochen: Sie wirken entscheidend auf das Freizeitverhalten der Rezipienten ein. Die Medienindu-
strie ist gleichzeitig auch eine riesige Unterhaltungsindustrie. Einerseits gibt sie auch hier Orientie-
rungshilfen dafür, womit das Individuum seine Freizeit ausfüllen kann, andererseits ist sie sofort zur
Stelle, jegliche freie Zeit selbst mit ihren Angeboten auszufüllen. Das Hauptgewicht liegt dabei auf
der Unterhaltung. Die Entwicklung der letzten Zeit hat gezeigt, daß auch die anderen medialen Be-
reiche, wie die Information oder die Werbung, immer mehr unterhaltenden Charakter bekommen.
So wird zum Beispiel Information derart mit der Unterhaltung verschmolzen, daß es für den Rezi-
pienten immer schwerer wird zu erkennen, ob das, was er geboten bekommt, Information oder doch
4
N. Luhmann, a.a.O., S. 10
5
Vgl. N. Luhmann, a.a.O., S. 132
6
Jürgen Habermas schreibt : ,,Kommt hinzu, daß diese Unterhaltung selbst - und zwar nicht nur die durch Zeitschriften
vermittelte -, daß die Programme der Massenmedien auch in ihrem nichtkommerziellen Teil das Konsumverhalten an-
regen und auf bestimmte Muster festlegen." J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankf./M. 1993, S. 287f.

8
eigentlich eher Unterhaltung ist. Es gibt auch schon einen Namen dafür. Man spricht von `Infotain-
ment'.
Der nächste Punkt ist vielleicht der entscheidenste für das Verständnis der Bedeutung der Massen-
medien in der heutigen Gesellschaft. Zugleich vereinigen sich in diesem Punkt alle zuvor bespro-
chenen Bereiche. Im europäischen Mittelalter waren es die katholische Kirche und ihre religiösen
Postulate, die das gesellschaftliche Leben bestimmten. Religiöser Glaube und religiöses Handeln
bestimmten das Denken und Sein der Menschen, gaben ihrem Leben und Tod Mittelpunkt und Sinn.
Heute sind die Massenmedien zu einer, wenn nicht zu der Instanz geworden, die die Welt und das
Leben erklärt, die moralische Urteile fällt und die allgemein verbindliche Normen und Vorstellun-
gen prägt. Das Leben ist heute ohne Massenmedien schlechterdings nicht mehr vorstellbar. Mas-
senmedien begleiten die Menschen durch ihr Leben und stiften Sinn.
7
2.2. Massenmedien und die Konstruktion von Realität
Die Massenmedien vermitteln also den Rezipienten die Welt. Jedenfalls etwas, das diese für die
Welt - oder ein Abbild von ihr - halten. Aber handelt es sich wirklich um die Welt? Ist das von den
Massenmedien Vermittelte wirklich die `Realität'? Oder wird nicht vielmehr etwas zur `Realität'
dadurch, daß es vermittelt wird? Ist all das, was die Rezipienten in den Massenmedien als reale
Welt wahrnehmen, nicht eigentlich eine durch die Vermittlung der Massenmedien gefilterte, ver-
fremdete, eingeschränkte, portionierte, vorgeformte, beeinflußte, interpretierte Welt? Genauge-
nommen ist die `Realität', die durch die Massenmedien vermittelt wird, eine konstruierte, also eine
`Realität der Massenmedien'. Läßt sich ausgehend von dieser Erkenntnis nicht die Wirkungsweise
der Massenmedien in der Gesellschaft verstehen? Und führt von dort nicht vielleicht ein Weg zur
Beseitigung der eventuellen Defizite in den Massenmedien und im Umgang mit ihnen? Nachfol-
gend sollen einige Ansätze kurz vorgestellt werden, aus denen sich verschiedene Schlußfolgerungen
zu Funktion und Verantwortung der Massenmedien ableiten lassen.
7
Luhmann spricht vom `Mythos' des ,,Dienstes am Menschen", den die Massenmedien schaffen. Sie schreiben sich die
Aufgabe zu, dem informationsbedürftigen, moralisch haltlosen und steuerlos in den Verhältnissen treibenden Menschen

9
2.2.1. Systemtheoretischer Ansatz
Im Luhmannschen Ansatz der Konstruktivistischen Systemtheorie werden die Massenmedien zu
einem eigenständigen, geschlossenen sozialen System. Er spricht von einem autopoietischen Sy-
stem, dessen Eigendynamik auf Selbstorganisation und Selbstreferenz beruht
8
. Das heißt nach
Luhmann, daß das System ausschließlich sich selbst und seine Differenz zur Umwelt ständig repro-
duziert. Das eigene System bildet für die Massenmedien die 1.Realität. Die 2.Realität ist dann das,
was für sie und durch sie für andere als Realität erscheint. Damit ist das, was der Rezipient schließ-
lich als Realität erfährt, die 2.Realität: Die Massenmedien beobachten, und die Rezipienten beob-
achten das Beobachten.
9
Realität ist also nichts weiter als ein Indikator für eine erfolgreiche Konsi-
stenzprüfung im System selbst und wird im System durch Sinngebung erarbeitet.
10
Mit anderen
Worten, Realität ist immer die des Systems und immer ein Korrelat der eigenen Operationen, also
eine eigene Konstruktion. Damit steht aber auch fest, daß die Welt, wie sie ist, nicht von der Welt,
wie sie beobachtet wird, unterschieden werden kann.
11
Die Massenmedien stellen sich uns also als ein abgeschlossenes System dar, das ausschließlich
selbstkonstruierte Wirklichkeitsentwürfe zirkulieren läßt. Folgt man diesem Ansatz, so lassen sich
daraus zwei Dinge ableiten. Erstens ist die Erwartung falsch, daß die Medien die Wirklichkeit ab-
bilden würden.
12
Wirklichkeit ist hier nichts anderes als das System der Massenmedien, daß sich
den veränderten Umweltbedingungen anpaßt. Damit wird natürlich auch die Forderung nach wah-
ren und objektiven Aussagen gegenstandslos. Wahrheit ist ein Produkt der Medien und ebenso wie
die Objektivität abhängig von den dort Beschäftigten, also den Journalisten. Ergo läßt sich konsta-
tieren, daß die Kriterien des Anspruchs an die Medien falsch sind. Der Kritik an den Medien, sie
würden die Wirklichkeit verzerren und nicht die Wahrheit wiedergeben, wäre somit der Boden ent-
zogen. Zweitens ist es aber auch so, daß die Rezipienten wenig Möglichkeiten haben, die `Realität'
der massenmedialen Wirklichkeit mit einer wie auch immer gearteten anderen zu vergleichen und
eventuellen Differenzen zu erkennen. Sie können höchstens zwischen der Wirklichkeit des einen
eine `geistige Orientierung' zu geben. a.a.O., S. 136. In diesem Sinne liegt die Assoziation mit dem allumfassenden und
liebenden Schoß der Kirche recht nahe.
8
Vgl. N. Luhmann, a.a.O., S. 24-27; später faßt er noch einmal zusammen, wenn er davon spricht, daß das Ziel des
systemimmanenten Handelns die Autopoiesis ist, in diesem Fall die endlose Reproduktion von Kommunikation aus den
Resultaten der Kommunikation. a.a.O., S. 150
9
N. Luhmann, a.a.O., S. 14; später heißt es noch einmal explizit: ,,Realität der Massenmedien, das ist die Realität der
Beobachtung zweiter Ordnung.", a.a.O., S. 153
10
N. Luhmann, a.a.O., S. 19
11
N. Luhmann, a.a.O., S. 27
12
Luhmann spricht von einer `transzendentalen Illusion.', a.a.O., S. 14

10
Mediums und der Wirklichkeit eines anderen Mediums unterscheiden. Zudem gibt es zumindest
zwei Wirklichkeitsbereiche. Einerseits konstruieren Journalisten als Medienmacher Wirklichkeit,
andererseits tut das aber auch das Publikum mit seiner bedeutungszuweisenden Rezeption..
13
Die Journalisten helfen also bei der Konstruktion von Wirklichkeit. Sie werden für ihre Konstrukte
verantwortlich gemacht, und an sie geht die Forderung nach mehr Ethik in den Massenmedien.
Aber können die Journalisten wirklich etwas an der Situation ändern? Wenn wir den Luhmannschen
Ansatz ernst nehmen, nach dem die Massenmedien ein operational geschlossenes System sind, dann
nicht. Jede Außensteuerung, wozu auch ethische Forderungen gehören, ist unmöglich. Durch die
Selbstorganisation und Selbstreferenz und vor allem durch die ausschließliche Zirkulation eigener
Wirklichkeitskonstruktionen sind die Massenmedien gegenüber jeder moralischen Intervention von
außen unzugänglich.
14
Doch es gibt Gründe, die völlige Abgeschlossenheit des Systems Massen-
medien in Frage zu stellen. Die Selbstorganisation wird problematisch, wenn man bedenkt, daß sie
in Unternehmen organisiert sind, die den Gesetzen des Marktes unterworfen sind. Die Selbstrefe-
renz wird spätestens dann zweifelhaft, wenn man in Betracht zieht, daß Medien für Rezipienten
gemacht werden. Auf diesen wichtigsten journalistischen Grundsatz, daß Relevanz für die Öffent-
lichkeit oberster Maßstab ist, komme ich später noch einmal zurück.
2.2.2. `Ptolemäischer' versus `Kopernikanischer' Ansatz
Man kann sich dem Problem der Weltvermittlung durch die Massenmedien aber auch ganz anders
nähern. Wenn man annimmt, daß es eine objektive Realität außerhalb des Menschen gibt, und die-
ser sie zumindest partiell erkennen kann - für die Behandlung schwieriger erkenntnistheoretischer
Fragen ist hier nicht der richtige Ort -, gibt es zwei Möglichkeiten, die Aufgabe und Funktion der
Medien bei ihrer Vermittlung einzuschätzen. W. Schulz hat 1989 die einschlägige Literatur durch-
13
Zur Konstruktion von Wirklichkeit: Siehe die luzide Arbeit der beiden Wissenssoziologen Peter L. Berger und Tho-
mas Luckmann ,,Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" (erstmals Frankf./M., 1969, dann oft wiederauf-
gelegt), Auflage 1992, v.a. S. 139 ff; die Autoren fassen hier die gesamte Gesellschaft als ständigen dialektischen Pro-
zeß von Externalisierung, Objektivation und Internalisierung, also als ständige Konstruktion von Wirklichkeit. Wenn
wir die Theorie auf unser konkretes Beispiel anwenden, wird klar, daß die Journalisten quasi doppelt Wirklichkeit kon-
struieren. Einmal mit ihrer Arbeit, in der sie Realität konstruieren (externalisieren), welche durch das Erscheinen in den
Medien objektiviert wird. Das zweite Mal, indem sie das Ergebnis als Rezipienten internalisieren und damit teilhaben
an der gesellschaftlichen Konstruktion. Dadurch werden sowohl die Medien als auch das journalistische Konstrukt zu
gesellschaftlicher Wirklichkeit.
14
Siehe N. Luhmann, a.a.O., z. B. S.34

11
forscht und die beiden Positionen einander gegenübergestellt.
15
Nach der einen, der sogenannten
`ptolemäischen' Auffassung, werden die Massenmedien gesehen als passive Mittler der objektiven
Realität. Sie sollen und können als Instrument der Gesellschaft ein möglichst getreues und genaues
Abbild der Gesellschaft wiedergeben.. Wenn sie dies jedoch nicht tun, und sie tun es meist nicht, so
wird das als Fehlleistung verbucht. Das ist dann im Sinne der `Ptolemäer' Verzerrung und Unaus-
gewogenheit oder gar Dilettantismus, wofür die Medien gerügt und kritisiert werden müssen.
16
Die-
se Gruppe von Medienwissenschaftlern und -kritikern ist es auch, die lautstark nach mehr Kontrolle
und mehr Ethik in den Medien ruft.
Die zweite Gruppe wird von Schulz `Kopernikaner' genannt. Für sie sind die Medien als fester Be-
standteil in die Gesellschaft integriert. Andererseits kann es aber keine autonome und von der Mas-
senkommunikation unabhängige Realität geben. Weiter heißt es bei Schulz: ,,Statt dessen werden
die Medien als aktives Moment in dem sozialen Prozeß begriffen, aus dem eine Vorstellung von
Wirklichkeit erst hervorgeht. Ihre Aufgabe besteht darin, die Stimuli und Ereignisse in der sozialen
Umwelt zu selektieren, zu verarbeiten, zu interpretieren. Auf diese Weise nehmen sie teil am kol-
lektiven Bemühen, eine Realität zu konstruieren und diese - durch Veröffentlichung - allgemein
zugänglich zu machen, so daß eine gemeinsame Basis für soziales Handeln entsteht."
17
Hier liegt es
in der Natur der Dinge, daß die Medien immer nur selektive Ausschnitte der Realität liefern kön-
nen. Eine breite Palette verschiedener Medien mit verschiedenen Blickwinkeln auf die Realität sind
jedoch in der Lage, einen recht repräsentativen Überblick zu geben. Gerade deshalb dienen sie,
richtig benutzt, als kompetenter Gesprächspartner in den Diskursen der Gesellschaft und können
dem kundigen Rezipienten eine Orientierungshilfe sein. In diesem Fall ist der richtige Umgang mit
den Massenmedien entscheidend.
18
Hier ergeht also kein klagender Ruf nach mehr Ethik an die
Medien, sondern es werden vielmehr auch und vor allem die Rezipienten in die Pflicht genommen.
Genau dieser Punkt wird weiter unten noch ausführlich behandelt werden.
W. Früh hat nach eingehendem Studium der entsprechenden Fachliteratur zum Thema `Realitäts-
vermittlung durch Massenmedien'
19
einen starken wechselseitigen Einfluß von Medien und Publi-
kum auf die vermittelte Realität konstatiert und zusammenfassend festgestellt, daß es sowohl für
15
W. Schulz, Massenmedien und Realität. Die `ptolemäische' und die `kopernikanische' Auffassung. In: M. Kaase/W.
Schulz (Hrsg.), Massenkommunikation. Theorien, Methoden, Befunde, Opladen 1989, S. 135-149
16
Vgl. W. Schulz, a.a.O., S. 141
17
W. Schulz, a.a.O., S. 142; verblüffend ist hier die Parallele zu den oben angeführten Überlegungen von Ber-
ger/Luckmann.
18
Vgl. dazu auch W. Früh, Realitätsvermittlung durch Massenmedien, Opladen 1994, S.29
19
Siehe W. Früh, a.a. O., S. 21-52

12
das Überwiegen der einen Seite als auch für das der anderen empirische Evidenzen gibt. Weiter
heißt es bei ihm: ,,Möglicherweise sind sowohl die Medien aktiv und erfolgreich, indem sie Themen
vorgeben und in der Lage sind, einen bestimmten Typus von Botschaften als Kernaussage zu über-
mitteln, als auch das Publikum, indem es die Themen interpretiert, in seine Vorstellungswelt ein-
gliedert und dabei nach Inhalt und Struktur zum Teil deutlich verändert bzw. ergänzt."
20
Offen bleibt für Früh die Frage nach den Bedingungen, unter denen der Einfluß der einen oder der
anderen Seite überwiegt.
Für das hier verhandelte Thema sind folgende Annahmen entscheidend: Entgegen Luhmann geht
der Autor davon aus, daß die Welt, die uns von den Massenmedien vermittelt wird, objektiv exi-
stiert und damit kein reines und ausschließliches Konstrukt der Medien selbst ist. Weiter wird be-
hauptet, daß der menschlichen Natur zufolge nur selektive Ausschnitte aus der objektiven Welt
wahrgenommen werden können. Für die Vermittlung dieser selektiven Ausschnitte ist die gesell-
schaftliche Instanz der Massenmedien zuständig, die durch Auswahl und Präsentation der Aus-
schnitte die objektive Realität strukturieren und damit eine bestimmte mediale Realität konstruieren.
Das aber ist nicht die Realität, die vom Publikum rezipiert wird. Im Prozeß der Rezeption geschieht
eine bedeutungszuweisende Interpretation durch das Publikum, wobei Wirklichkeit noch einmal,
diesmal aber sozial, konstruiert wird. Damit wäre Wirklichkeit ein doppeltes Konstrukt, das eine
mediale und eine soziale Komponente hat. Für eine möglichst gute, in diesem Fall also für den ein-
zelnen Menschen als Orientierung dienende und für die Gesellschaft hilfreiche Vermittlung von
Welt ist also das Zusammenspiel beider Komponenten unerläßlich. Es reicht daher nicht aus, ethi-
sche Forderungen an die Massenmedien zu stellen. Vielmehr kann nur eine gleichzeitige normative
Orientierung des Publikums und vor allem die Verbindung der beiden Ansätze zum gewünschten
Ergebnis führen.
2.3. Medienmacht und ihre Grenzen
Das, was soeben als wertfreies Faktum konstatiert wurde, daß Massenmedien immer nur selektive
Ausschnitte aus der objektiven Realität vermitteln, wird unter einem anderen Blickwinkel aber zu
einem ethischen Hauptproblem der medialen Konstruktion von Realität. Einen Ausschnitt als einen
20
W. Früh, a.a.O., S. 52

13
Teilbereich eines Ganzen zur Veröffentlichung auszuwählen und damit zu exponieren, während die
anderen Ausschnitte (vorerst) unbeachtet bleiben, ist ein Akt des Willens und damit Gegenstand
ethischer Betrachtung. Ein weiterer entscheidender Punkt bei der Beantwortung der Frage nach der
ethischen Verantwortung der Medien ist die Tatsache, daß die Medien für das Publikum eine exklu-
sive Informationsumwelt schaffen. Für das Publikum ist diese Umwelt `real.'
21
Diese `Realität' ist
jedoch nicht objektiv, sondern von Menschen für Menschen gemacht. Daher können an sie und ihre
Macher ethische Maßstäbe angelegt werden. Ein letzter wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang
schließt sich an den zuvor genannten an. Sind die Massenmedien für das Publikum die ausschließli-
che Informationsumwelt, so hat dieses damit auch nur eine einzige Quelle, um sich über die Welt zu
informieren: die Massenmedien.
22
Diese drei Punkte, also die freie Auswahlmöglichkeit von Aus-
schnitten aus der gesamten wahrnehmbaren Wirklichkeit, die Schaffung einer exklusiven Informa-
tionsumwelt und vor allem die exponierte Stellung der Massenmedien als einzige Informations-
quelle des subjektiven Weltwissens begründen den Glauben an die Omnipotenz der Medien. Im
Bewußtsein breiter Schichten sind die Massenmedien zur vierten Macht im Staate , neben Legislati-
ve, Exekutive und Jurikative, aufgestiegen. Bei vielen liegt die Medienmacht sogar darüber. Aber
diese Zuschreibung von fast grenzenloser Macht birgt in sich auch gleichzeitig das Gefühl eigener
Machtlosigkeit, ja Ohnmacht. Und damit einher geht die Angst vor dem Mißbrauch der Machtfülle.
Manipulationsvorwürfe sind schon feste Topoi in der Auseinandersetzung mit den Massenmedien.
23
Sicher gibt es im Journalismus `schwarze Schafe', genauso wie es sie im Staatsapparat oder in der
Justiz gibt. Sicher gibt es auch Medien, zum Beispiel etliches aus dem Verlagshaus Springer, die
ganz bewußt und offen tendenziöse Darstellungen bringen. Vieles, was im Fernsehen gesendet
wird, scheint den Schluß nahezulegen, daß wir fast nur von Sexualität und Kriminalität umgeben
sind.
24
Abhandlungen über journalistische Fehlleistungen, wie etwa beim Gladbecker Geiseldrama
oder bei der `Barschelaffäre', füllen inzwischen Bände. Und selbst `aufklärerische' Schriften über
sogenannte `Medienlügen', also wissentlich oder unwissentlich gemachte Falschaussagen, Vorver-
urteilungen, nicht eingetroffene Voraussagen oder Falschmeldungen sind auf dem Markt und ver-
21
Vgl. W. Früh, a.a.O., S. 56
22
Vgl. W. Früh, a.a.O., S. 58. Er spricht hier zwar davon, daß die Gesamtheit der Massenmedien ,,...für den größten
Teil des subjektiven Weltwissens eine sehr wichtige, wenn nicht gar die einzige Informationsquelle darstellt." Nimmt
man aber die zuvor gemachte Aussage der von den Massenmedien geschaffenen exklusiven Informationsumwelt ernst,
so erübrigt sich so gut wie jede Relativierung.
23
Luhmann schreibt, daß das Bewußtsein, von den Medien als alleinige Wissensquelle abhängig zu sein, das Mißtrauen
schürt. Sie geraten so unter Manipulationsverdacht. N. Luhmann, a.a.O., S. 9

14
kaufen sich gut.
25
Doch ist dies eine bunte Palette von Einzelfällen und kann nicht ohne weiteres
auf die Massenmedien in ihrer Gesamtheit angewendet werden. Sicherlich gibt es bei den Massen-
medien, wie in anderen Bereichen der Gesellschaft auch, Defizite, aber ein allgemeiner Manipulati-
onsverdacht ist ganz bestimmt falsch. Die meisten Vorwürfe und Beschuldigungen betreffen Teilbe-
reiche des Gesamtkomplexes Massenmedien und können auch dort entsprechend analysiert und
gelöst werden.
26
Die eigentliche Funktion der Massenmedien und ihre Macht bleiben davon unbe-
rührt.
27
Aber haben die Medien wirklich eine Macht, die sich mit der der katholischen Kirche im Mittelalter
vergleichen läßt? Sind sie omnipotent und beherrschen sozusagen `ex cathedra' das Publikum? Ich
habe schon verschiedene Argumente dafür gebracht, daß dem nicht so ist. Ich will sie hier zusam-
menfassen und durch andere ergänzen. Dabei soll gezeigt werden, daß durch die Wechselwirkung
mit dem Publikum einerseits die Macht der Medien begrenzt wird, andererseits aber deutet sich
damit die Richtung der normativen Orientierung in der Massenkommunikation hier schon an. Mas-
senmedien sind Teil einer demokratischen, rechtsstaatlichen Gesellschaft. Das heißt, sie unterliegen
der Begrenzung und Kontrolle durch Politik und Recht. Medien werden von Menschen gemacht.
Die Macher selbst sind reale Personen mit Biographien, bestimmten Sozialisationen, mit Gefühlen ,
Wünschen und Vorstellungen. Und sie sind natürlich auch Rezipienten, in der Zeit ihrer Sozialisati-
on, aber auch als Journalisten. Sie haben also Publikumserfahrungen und -vorstellungen, die per-
manent in ihre Tätigkeit eingehen. Medien werden für Menschen gemacht. Die Resonanz des Pu-
blikums ist das entscheidende Kriterium für den Erfolg oder Mißerfolg, letztlich sogar für die Exi-
stenz oder Nichtexistenz eines Mediums. Die Massenmedien werden für einen Markt produziert,
auf dem sie sich verkaufen müssen. Deshalb suchen Medien ihre Themen nach ihrer Relevanz für
Öffentlichkeit der potentiellen Käufer aus. Damit aber ist es die Öffentlichkeit, die die Ausschnit-
tauswahl der Medien steuert. Auf der anderen Seite geht das Publikum ständig aktiv mit den Me-
dieninformationen um. Keine wird eins zu eins übernommen. Im Zuge der oben beschriebenen
24
Das bleibt nicht ohne Wirkung auf einen Großteil der Rezipienten: Ich höre meine 70jährige Nachbarin regelmäßig
sagen, daß sie ja im Dunkeln schon lange nicht mehr auf die Straße geht und ich mich doch gehörig vorsehen solle vor
den vielen Mördern. Die würden ja immer schlimmer werden.
25
Z.B. B. Müller-Ullrich, Medienmärchen. Gesinnungstäter im Journalismus, München 1996
26
Ich denke da z.B. an eine adäquate Journalistenausbildung, die den jungen Medienschaffenden ein klares Bild von
ihrem Platz und ihren Aufgaben im Gesamtprozeß des gesellschaftlichen Lebens gibt. Außerdem sollte eine Art `Pro-
dukthaftung' für journalistische Erzeugnisse eingeführt werden, wonach eine schlampige Recherche oder eine falsche
Behauptung auch für den, der sie macht, Konsequenzen hat.
27
,,Die Hunde bellen, aber die Karawane zieht weiter."

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Erscheinungsjahr
2000
ISBN (eBook)
9783832425258
ISBN (Paperback)
9783838625256
Dateigröße
683 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Freie Universität Berlin – Soziologie, Philosophie und Sozialwissenschaften
Note
2,5
Schlagworte
massenmedien kommunikation öffentlichkeit medientheorie ethik
Produktsicherheit
Diplom.de
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Titel: Möglichkeiten normativer Orientierungen in der Massenkommunikation
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