Lade Inhalt...

Die Emigration deutscher Wissenschaftler in die Türkei 1933-1945

Voraussetzungen - Bedingungen - Wirkungen

©1998 Magisterarbeit 122 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Heutzutage scheint uns die Türkei nicht mehr so weit, wie im 18. Jahrhundert. In Deutschland leben heute ca. 2 Millionen Türken. Sie stellen damit die größte Gruppe von Ausländern in Deutschland. Obwohl die Türkei ein beliebtes Urlaubsland der Deutschen ist, bleibt ihre Geschichte der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Dies trifft besonders auf die Emigration von deutschen Wissenschaftlern in die Türkei während des "Dritten Reiches" zu, und das obwohl es dazu einige Veröffentlichungen gegeben hat. Erst seit die Türkei Natomitglied ist (1952) und vor allem seit sie die Vollmitgliedschaft zur Europäischen Union im April 1987 beantragt hat, rückt das Land in das Blickfeld Europas.
Schon kurz nach der Ablehnung der Europäischen Union, die Türkei als Vollmitglied aufzunehmen, bestimmten gegenseitiges Mißtrauen und beiderseitige Vorwürfe die zwischenstaatlichen Beziehungen. Das Gefühl der Freundschaft trat immer mehr in den Hintergrund. Die Schlagworte auf deutscher Seite betreffen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei sowie die „Kurdenfrage“. Im Gegenzug dazu wirft die Türkei den Deutschen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus vor. An die Stelle der Erinnerungen über den gemeinsamen Waffengang im Ersten Weltkrieg und die freundliche Aufnahme von verfolgten Wissenschaftlern und Künstlern im "Dritten Reich" tritt mehr und mehr die Wahrnehmung einer Bedrohung durch radikale Moslime. Ich sehe diese Arbeit als einen Beitrag dazu, die gegenseitige Wahrnehmung wieder zu öffnen und den Blick auf Gemeinsamkeiten zu lenken.
Die vorliegende Arbeit "Die Emigration von deutschen Wissenschaftlern in die Türkei 1933 - 1945. Voraussetzungen - Bedingungen - Wirkungen" beschäftigt sich mit der Emigration rassisch und politisch verfolgter deutscher Wissenschaftler in die Türkei während der Naziherrschaft in Deutschland. Dabei faßt die Arbeit den Begriff "Wissenschaftler" weiter und versteht darunter nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch Musiker, Künstler und Architekten. Bei den Wissenschaftlern, die in die Türkei emigrierten, handelte es sich zumeist um Universitätsprofessoren, denen mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland die Möglichkeit genommen wurde, weiter dort zu arbeiten und zu leben.
Gang der Untersuchung:
Im Mittelpunkt der Arbeit stehen, wie aus dem Untertitel bereits hervorgeht, die Voraussetzungen, Bedingungen und Wirkungen der Emigration in die Türkei. Es wird sich die Frage stellen, […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Velten, Klaus: Die Emigration deutscher Wissenschaftler in die Türkei 1933-1945:
Voraussetzungen - Bedingungen - Wirkungen / Klaus Velten ­
Hamburg: Diplomarbeiten Agentur, 2000
Zugl.: Hamburg, Universität, Magister, 1998
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbeson-
dere die der Übersetzung, des Nachrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen
und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf ande-
ren Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur
auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von
Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestim-
mungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland in der jeweils gel-
tenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen
unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtes.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in
diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß
solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu
betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können Feh-
ler nicht vollständig ausgeschlossen werden, und die Diplomarbeiten Agentur, die Auto-
ren oder Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine Haf-
tung für evtl. verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.
Dipl. Kfm. Dipl. Hdl. Björn Bedey, Dipl. Wi.-Ing. Martin Haschke & Guido Meyer GbR
Diplomarbeiten Agentur, http://www.diplom.de, Hamburg 1999
Printed in Germany


1
Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung
3
1.1
Aufgabenstellung und Aufbau der Arbeit
3
1.2
Quellen- und Literaturlage
7
2.
Voraussetzungen für die Emigration in die Türkei
10
2.1
Deutsch-türkische Beziehungen vor der Gründung
der Türkischen Republik
10
2.2
Atatürk und die Gründung der Türkischen Republik 1923
15
2.3
Reformen
18
2.3.1
Allgemeine Reformen
18
2.3.2 Der Beginn der Universitätsrefrom
20
2.4
Die Vertreibung deutscher Wissenschaftler aus dem ,,Dritten Reich"
24
2.5
Die Vermittlung der Wissenschaftler durch die ,,Notgemeinschaft
deutscher Wissenschaftler im Ausland"
28
2.5.1
Die Entstehung der Organisation
28
2.5.2
Die Vermittlungstätigkeit der Organisation
30
2.5.3
Probleme bei der Vermittlung der Wissenschaftler
32
3.
Arbeits- und Lebensbedingungen in der Türkei
37
3.1
Die Anstellungsverträge
37
3.2
Der Beginn der Lehrtätigkeit an der Universität Istanbul
38
3.3
Andere Emigrantengruppen
43
3.4
Probleme der Professoren
46
3.4.1
Das Sprachproblem
47
3.4.2
Soziale und seelische Schwierigkeiten
50
3.4.3
Alltägliche Probleme
53
3.5
Erleichterungen in der Emigration
54
3.6
Die Arbeit von Emigranten in Ankara
55

2
3.6.1
Das staatliche Konservatorium
56
3.6.2
Die Fakultät für Sprache, Geschichte und Geographie
60
3.6.3
Deutsche Mediziner in Ankara
61
3.6.3.1
Das Musterkrankenhaus
61
3.6.3.2
Das staatliche Hygieneinstitut
63
3.6.4
Das landwirtschaftliche Hochschulinstitut
64
3.6.5
Ernst Reuter in Ankara
66
3.6.5.1 Reuters Private Lebenssituation
68
3.6.5.2 Reuters Kontakte zum offiziellen Deutschland
70
3.7
Emigrierte Architekten
72
3.8
Der Scurla-Bericht
74
3.8.1
Zur Person Scurla
75
3.8.2
Aufbau des Scurla-Berichtes
77
3.8.3
Der Fragebogen von 1938
78
3.8.4
Scurla und die Universität Istanbul
78
3.8.5
Scurlas Aussagen über Emigranten in Ankara
90
4.
Wirkungen der Emigranten
92
4.1
Der Weggang der Emigranten
92
4.2
Wirkungen der Emigranten auf das türkische Universitätswesen
94
4.3
Wirkungen der Emigranten auf die Forschung
97
4.4
Weitere Wirkungsformen der Emigration
100
5.
Schlußbetrachtung
103
6.
Quellen- und Literaturverzeichnis
107
6.1
Quellen und Publikationen mit Quellenwert
107
6.2
Literatur
108

3
1.
Einleitung
1.1
Aufgabenstellung und Aufbau der Arbeit
,,Wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen ..."
1
Ganz so fern ist uns die Türkei heute nicht mehr, wie sie zu Goethes Zeiten zu sein
schien. In Deutschland leben heute ca. 2 Millionen Türken. Sie stellen damit die größte
Gruppe von Ausländern in Deutschland. Obwohl die Türkei ein beliebtes Urlaubsland
der Deutschen ist, bleibt ihre Geschichte der deutschen Öffentlichkeit weitgehend
unbekannt. Dies trifft besonders auf die Emigration von deutschen Wissenschaftlern in
die Türkei während des ,,Dritten Reiches" zu, und das obwohl es dazu einige
Veröffentlichungen gegeben hat. Erst seit die Türkei Natomitglied ist (1952) und vor
allem seit sie die Vollmitgliedschaft zur Europäischen Union im April 1987 beantragt hat,
rückt das Land in das Blickfeld Europas.
2
Schon kurz nach der Ablehnung der Europäischen Union, die Türkei als Vollmitglied
aufzunehmen, bestimmten gegenseitiges Mißtrauen und beiderseitige Vorwürfe die
zwischenstaatlichen Beziehungen. Das Gefühl der Freundschaft trat immer mehr in den
Hintergrund. Die Schlagworte auf deutscher Seite betreffen
Menschenrechtsverletzungen in der Türkei sowie die ,,Kurdenfrage". Im Gegenzug dazu
wirft die Türkei den Deutschen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus vor. An die Stelle
der Erinnerungen über den gemeinsamen Waffengang im Ersten Weltkrieg und die
freundliche Aufnahme von verfolgten Wissenschaftlern und Künstlern im ,,Dritten Reich"
tritt mehr und mehr die Wahrnehmung einer Bedrohung durch radikale Moslime.
3
Ich
sehe diese Arbeit als einen Beitrag dazu, die gegenseitige Wahrnehmung wieder zu
öffnen und den Blick auf Gemeinsamkeiten zu lenken.
Die vorliegende Arbeit ,,Die Emigration von deutschen Wissenschaftlern in die Türkei
1933 - 1945. Voraussetzungen - Bedingungen - Wirkungen" beschäftigt sich mit der
Emigration rassisch und politisch verfolgter deutscher Wissenschaftler in die Türkei
1
Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie erster Teil, Stuttgart 1986, S.26.
2
Steinbach, Udo: Die Türkei im 20. Jahrhundert. Schwieriger Partner Europas, Bergisch Gladbach
1996, S. 7/ 8.
3
Steinbach, S. 9/ 10.

4
während der Naziherrschaft in Deutschland. Dabei faßt die Arbeit den Begriff
,,Wissenschaftler" weiter und versteht darunter nicht nur Naturwissenschaftler, sondern
auch Musiker, Künstler und Architekten. Bei den Wissenschaftlern, die in die Türkei
emigrierten, handelte es sich zumeist um Universitätsprofessoren, denen mit der
Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland die Möglichkeit genommen
wurde, weiter dort zu arbeiten und zu leben.
Im Mittelpunkt der Arbeit stehen, wie aus dem Untertitel bereits hervorgeht, die
Voraussetzungen, Bedingungen und Wirkungen der Emigration in die Türkei. Es wird
sich die Frage stellen, welche Voraussetzungen erfüllt sein mußten, um eine Emigration
in die Türkei zu ermöglichen. Im zweiten Abschnitt der Arbeit sollen die Lebens- und
Arbeitsbedingungen, denen die Emigranten in der Türkei ausgesetzt waren, näher
untersucht werden. Dabei werden Fragen, wie zum Beispiel nach der Höhe des
Gehaltes sowie der privaten Lebenssituation der Emigranten von Bedeutung sein. Von
besonderem Interesse sind die Beziehungen der Emigranten zu den offiziellen deutschen
Stellen in der Türkei, die durch die Botschaft bzw. durch das Konsulat repräsentiert
wurden. Es wird sich hierbei die Frage stellen, welche Einflußmöglichkeiten die
deutschen Stellen hatten, um die Arbeit der Emigranten zu behindern, und aus welchen
Motiven heraus dies geschah. Dazu verwendet die Arbeit autobiographische Berichte
der Emigranten sowie den Bericht eines NS-Beamten zur Situation an den
wissenschaftlichen Einrichtungen in der Türkei. Des weiteren untersucht die Arbeit die
Auswirkungen der Emigration auf das türkische Bildungssystem. Welche
Einflußmöglichkeiten und Wirkungen besaßen die Emigranten in Bezug auf die
Forschung sowie die Wirtschaft und Politik in der Türkei?
Die Arbeit ist in drei größere Abschnitte gegliedert und folgt einem chronologischen
Ablauf der Ereignisse. Im ersten Abschnitt, der unter der Überschrift Voraussetzungen
der Emigration (2. Kapitel) steht, werden neben einer kurzen Einführung in die
Geschichte der deutsch-türkischen Beziehungen vor allem die Voraussetzungen näher
beschrieben, die eine Emigration in die Türkei erst ermöglichten. Zu diesen zählten die
Gründung der Türkischen Republik durch Atatürk (Kapitel 2.2) sowie die eingeleiteten
Reformen, mit denen der Republikgründer versuchte, das türkische Volk aus
mittelalterlichen Verhältnissen auf das Niveau der westlichen Staaten zu heben (Kapitel
2.3).

5
Die Vertreibung der jüdischen und politisch mißliebigen Wissenschaftler aus dem
,,Dritten Reich" bildete die zweite Komponente einer Emigration in die Türkei und wird
deshalb in Kapitel 2.4 behandelt. Die Arbeit verzichtet darauf, die Ursachen und
Voraussetzungen der nationalsozialistischen Vertreibungspolitik sowie die Geschichte
des jüdischen Volkes in Deutschland näher darzustellen. Vielmehr beinhaltet dieses
Kapitel kurz die gesetzlichen Maßnahmen sowie die quantitativen Auswirkungen dieser
Maßnahmen.
Das Kapitel 2.5 befaßt sich mit der ,,Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im
Ausland", die eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung der Wissenschaftler in die
Türkei gespielt hat. Neben der Entstehung der Organisation (Kapitel 2.5.1) und deren
Vermittlungstätigkeit (Kapitel 2.5.2) werden hier erste Schwierigkeiten dargestellt, die
mit der Emigration in die Türkei verbunden waren, sowie die erste Kontaktaufnahme mit
deutschen Stellen geschildert (Kapitel 2.5.3).
Der zweite größere Abschnitt der Arbeit untersucht die Arbeits- und
Lebensbedingungen der Emigranten in der Türkei (3. Kapitel). Nachdem die Arbeit die
Anstellungsverträge der Wissenschaftler näher beschrieben hat (Kapitel 3.1), geht sie
auf die Verhältnisse an der Universität Istanbul näher ein (Kapitel 3.2), an der die
meisten der emigrierten deutschen Wissenschaftler eine neue Wirkungsstätte fanden.
Das nachfolgende Kapitel 3.3 beschäftigt sich mit anderen Emigrantengruppen, die nicht
offiziell von der türkischen Regierung eingeladen wurden, und macht dadurch die
Sonderstellung der deutschen ,,Universitätsemigranten" besonders deutlich. Darüber
hinaus zeigt dieses Kapitel auch die Einflußmöglichkeiten der offiziellen deutschen Stellen
auf diese weniger privilegierten Emigrantengruppen.
Die Probleme der Emigranten in der Türkei bilden in den anschließenden Kapiteln den
Mittelpunkt. An dieser Stelle sei nur auf das Problem der fremden Sprache hingewiesen,
das in Kapitel 3.4.1 charakterisiert wird.
Die Emigranten trafen aber nicht nur auf Schwierigkeiten, die mit der Emigration
verbunden waren, sondern auch auf Erleichterungen, die das Schicksal in der Emigration
etwas vereinfachten (Kapitel 3.5).
Im weiteren Verlauf der Untersuchung werden die Arbeitsmöglichkeiten der Emigranten
in Ankara näher beschrieben. Ankara, die Hauptstadt der Türkei seit 1923, verfügte
zwar erst ab 1946 über eine Universität, hatte aber schon in den dreißiger Jahren einige

6
universitäre Einrichtungen, an denen Emigranten eine Arbeitsmöglichkeit fanden. Zu
diesen Einrichtungen zählten das staatliche Konservatorium (Kapitel 3.6.1), die Fakultät
für Sprache, Geschichte und Geographie (Kapitel 3.6.2), das Musterkrankenhaus
(Kapitel 3.6.3.1), das Hygieneinstitut (Kapitel 3.6.3.2) sowie das landwirtschaftliche
Hochschulinstitut (Kapitel 3.6.4), an dem nur sehr wenige Emigranten arbeiteten. Das
landwirtschaftliche Hochschulinstitut ging auf die Gründung durch eine deutsche
Sachverständigendelegation aus dem Jahre 1928 zurück und war deshalb eine
Einrichtung die viele offizielle ,,reichsdeutsche" Professoren beschäftigte.
Einige Emigranten standen auch in den Diensten der türkischen Regierung. Sie fungierten
dort als Berater. Am Beispiel des wohl prominentesten Türkeiemigranten Ernst Reuter
soll ihre Tätigkeit und ihr Wirken erläutert werden (Kapitel 3.6.5). Zum Abschluß dieser
Kapitel geht die Arbeit auf die Tätigkeitsfelder emigrierter deutscher Architekten ein, die
sowohl in Istanbul als auch in Ankara ihr Tätigkeitsfeld hatten. (Kapitel 3.7).
Im Anschluß beschäftigt sich die Arbeit mit dem sogenannten Scurla-Bericht. Nachdem
die Arbeit die Fundgeschichte (Kapitel 3.8), die Person Scurlas (Kapitel 3.8.1) sowie
den Aufbau des Berichtes (Kapitel 3.8.2) erläutert hat, werden in den folgenden beiden
Kapiteln Scurlas Aussagen über die Emigranten näher betrachtet, um die
Repressionsmöglichkeiten aufzuzeigen, die von deutscher Seite auf die Emigranten
ausgeübt wurden. Dabei werden zunächst, entsprechend der zahlenmäßigen Aufteilung
der Emigranten, Scurlas Aussagen über Emigranten in Istanbul (Kapitel 3.8.4) und
anschließend seine Ausführungen zu Emigranten in Ankara untersucht (Kapitel 3.8.5).
Der dritte größere Abschnitt der Untersuchung befaßt sich mit den Wirkungen der
Emigranten in der Türkei. Zunächst wird der Weggang der Emigranten (Kapitel 4.1) aus
der Türkei beschrieben und anschließend die Wirkungen der Emigranten auf das
türkische Universitätswesen (Kapitel 4.2) sowie auf die Forschung (Kapitel 4.3)
geschildert.
Das abschließende Kapitel 5 faßt die wichtigsten Aspekte der Emigration von deutschen
Wissenschaftlern aus dem ,,Dritten Reich" in die Türkei zusammen und hält die
Ergebnisse der Untersuchung fest. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis ist dieser Arbeit
beigefügt.
Zitate wurden wörtlich übernommen. Eine Korrektur grammatikalischer und
orthographischer Anachronismen erfolgte nicht. Die biographischen Angaben stützen

7
sich, sofern sie nicht aus der Forschungsliteratur entnommen worden sind, auf die Daten
der beiden Bände des ,,Biographischen Handbuches der deutschsprachigen
Emigration".
4
1.2
Quellen- und Literaturlage
Einen guten Überblick über die Geschichte der Türkei vermittelt Udo Steinbach in
seinem Buch ,,Die Türkei im 20. Jahrhundert"
5
. Es enthält unter anderem auch die
Darstellung des türkischen Freiheitskampfes und die Gründung der Türkischen
Republik. Zu empfehlen ist auch die Überblicksdarstellung von Grunebaum in der
,,Fischer Weltgeschichte"
6
.
Als Quellen für die Darstellung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Emigranten
erwiesen sich autobiographische Berichte von ehemaligen Türkeiemigranten als sehr
interessant. Hier ist besonders die Autobiographie von Fritz Neumark hervorzuheben,
die sich ausführlich mit den Erlebnissen des Verfassers in der Türkei beschäftigt.
7
In
diese Kategorie der Erinnerungen gehören auch noch die Autobiographie von Ernst
Eduard Hirsch
8
sowie Auszüge aus den Erinnerungen von Rudolf Nissen
9
.
Für die Darstellung der Vermittlungstätigkeit der ,,Notgemeinschaft deutscher
Wissenschaftler im Ausland", die die meisten der deutschen Emigranten in die Türkei
vermittelte, waren die erst 1995 veröffentlichten Erinnerungen von Philipp Schwartz,
dem Gründer der Notgemeinschaft sehr hilfreich.
10
Sie wurden im Gegensatz zu den
autobiographischen Büchern von Neumark und Hirsch, die diese erst viele Jahre nach
4
Röder Werner/ Strauss, Herbert A. (Hrsg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen
Emigration nach 1933, Bd. I, Politik, Wissenschaft, Öffentliches Leben, München/ New York/
London/ Paris 1980.
Röder, Werner/ Strauss Herbert A. (Hrsg.): International Biographical Dictionary of Central
European Emigrés 1933 - 1945, Bd. II A- K (L - Z), Arts, Sciences and Literature, München/ New
York/ London/ Paris 1983.
5
Steinbach, Udo: Die Türkei im 20 Jahrhundert. Schwieriger Partner Europas, Bergisch Gladbach
1996.
6
Grunebaum, Gustave Edmund von (Hrsg.): Der Islam II. Die islamischen Reiche nach dem Fall von
Konstantinopel, Fischer Weltgeschichte Bd. 15, Frankfurt a. M. 1971.
7
Neumark, Fritz: Zuflucht am Bosporus. Deutsche Gelehrte, Politiker und Künstler in der
Emigration 1933 - 1953, Frankfurt a. M. 1980.
8
Hirsch, Ernst Eduard: Aus des Kaisers Zeiten durch die Weimarer Republik in das Land Atatürks.
Eine unzeitgemäße Autobiographie, München 1982.
9
Nissen, Rudolf: Helle Blätter - dunkle Blätter. Erinnerungen eines Chirurgen, Stuttgart 1969.
10
Peukert Helge (Hrsg.): Philipp Schwartz. Notgemeinschaft. Zur Emigration deutscher
Wissenschaftler nach 1933 in die Türkei, Marburg 1995, S. 37 - 99.

8
den damaligen Ereignissen verfaßten, in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges vom
Verfasser niedergeschrieben. Nach Peukert sind sie vor allem auch deshalb wichtig, weil
die Emigration in die Türkei gegenüber anderen Emigrationsländern in Vergessenheit zu
geraten droht.
11
Einen lebendigen Eindruck vermitteln auch die Briefe einiger Türkeiemigranten. Zu
diesen zählen die Briefe Ernst Reuters
12
sowie die Wilhelm Röpkes
13
.
Einen Kontrast zu den eher positiven Darstellungen der Emigrationszeit in der Türkei bei
Neumark, Nissen und Hirsch bilden die Erinnerungen von Lieselotte Dieckmann, die als
ein Beispiel für eine mißglückte Emigration in die Türkei angesehen werden können.
14
Eine wichtige Quelle um die Maßnahmen der offiziellen deutschen Vertreter in der
Türkei gegen die Emigranten aufzuzeigen, stellt der schon erwähnte Bericht des
Oberregierungsrates Herbert Scurla dar, der von Grothusen aufgefunden wurde und
aufgrund seiner Länge als selbständige Quellenedition erschienen ist.
15
Diese Quelle
macht nicht nur den Umfang und die Bedeutung der Emigration deutscher
Wissenschaftler in die Türkei sichtbar, sondern dokumentiert auch in wünschenswerter
Klarheit die Haltung der nationalsozialistischen Regierung gegenüber den Emigranten.
Sie bedeutet insbesondere deshalb soviel, da sie Horst Widmann noch nicht zur
Verfügung stand, dessen bisher einzige wissenschaftliche Untersuchung zu diesem
Themenkomplex aus dem Jahre 1973 stammt.
16
Dementsprechend befaßt sich auch die
vorliegende Arbeit mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Emigranten und
offiziellen deutschen Stellen, die bei Widmann nur recht wenig Beachtung findet.
Einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der Emigration in die Türkei leistet auch
Grothusen, der nicht nur zur Entdeckung des Scurla-Berichtes beigetragen, sondern
auch zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen zu diesem Thema verfaßt hat. An dieser
11
Ebenda, S. 10.
12
Hirschfeld, Hans E./ Reichhardt, Hans J. (Hrsg.): Ernst Reuter. Schriften - Reden, 2. Bd., Artikel -
Briefe - Reden 1922 bis 1946, Frankfurt a. M./ Berlin/ Wien 1973.
13
Röpke, Eva (Hrsg.): Wilhelm Röpke. Briefe 1934 - 1966. Der innere Kompaß, Erlenbach - Zürich
1976.
14
Dieckmann, Lieselotte: Akademische Emigration in der Türkei, in: Schwarz Egon/ Wegner,
Matthias (Hrsg.): Verbannung. Aufzeichnungen deutscher Schriftsteller im Exil, Hamburg 1964, S.
122 - 126.
15
Grothusen, Klaus - Detlev (Hrsg.): Der Scurla-Bericht. Bericht des Oberregierungsrates Dr. rer.
pol. Herbert Scurla von der Auslandsabteilung des Reichserziehungsministeriums in Berlin über
seine Dienstreise nach Ankara und Istanbul vom 11. - 25. Mai 1939: ,,Die Tätigkeit deutscher
Hochschullehrer an türkischen wissenschaftlichen Hochschulen", Frankfurt a. M. 1987, S. 71 - 141.

9
Stelle sei nur auf seinen Beitrag am Zustandekommen einer Ausstellung zum Thema ,,Die
deutsch-türkischen Beziehungen von 1924 - 1938"
17
erinnert.
Eine neuere Darstellung der Emigration in die Türkei enthält das Buch von Jan Cremer
und Horst Przytulla. Es befaßt sich nicht nur mit der Gruppe der
,,Universitätsemigranten" sondern enthält auch Informationen über weniger privilegierte
Türkeiemigranten.
18
Es gibt darüber hinaus einige Veröffentlichungen, die sich mit Teilaspekten der
Emigration in die Türkei beschäftigen. Erwähnenswert an dieser Stelle ist der Aufsatz
von Matthes Buhbe, der sich mit den deutschsprachigen Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlern befaßt, welche in die Türkei emigriert sind.
19
Mit Ernst Reuter
befaßt sich ein Aufsatz von Thomas Herr, der sehr aufschlußreich war und entscheidend
zur Bearbeitung dieses Themenkomplexes beigetragen hat.
20
Einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Wirkungsgeschichte der Emigranten in der
Türkei leistet auch Regine Erichsen mit ihrem Aufsatz, der im gleichen Werk von
Herbert Strauss erschien, wie der Aufsatz von Thomas Herr.
21
16
Widmann, Horst: Exil und Bildungshilfe: Die deutschsprachige akademische Emigration in die
Türkei nach 1933, Frankfurt a. M. 1973.
17
Grothusen, Klaus - Detlev: Die Türkei in der Zeit Kemal Atatürks (1919/ 23 - 1938) und die
deutsch-türkischen Beziehungen, in: Deutsche Bibliothek Frankfurt a. M. (Hrsg.): Die deutsch-
türkischen Beziehungen von 1924 - 1938. Eine Ausstellung vom Türkischen Generalkonsulat FFM
und der Deutschen Bibliothek, Frankfurt a. M. 1987, S. 9 - 30.
18
Cremer, Jan/ Przytulla, Horst: Exil Türkei. Deutschsprachige Emigranten in der Türkei 1933 - 1945,
2. erweit. Aufl., München 1991.
19
Buhbe, Matthes: Die Emigration deutschsprachiger Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler in die
Türkei, in: Hagemann, Harald (Hrsg.): Zur deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen
Emigration nach 1933, Marburg 1997, S. 411 - 436.
20
Herr Thomas: Ein deutscher Sozialdemokrat an der Peripherie - Ernst Reuter im türkischen Exil
1935 - 1946, in: Strauss, Herbert A. (Hrsg.): Die Emigration der Wissenschaften nach 1933.
Disziplingeschichtliche Studien, München/ New York/ Paris 1991, S. 193 - 218.
21
Erichsen, Regine: Die Emigration deutschsprachiger Wissenschaftler von 1933 bis 1945 in die
Türkei in ihrem sozial- und wissenschaftshistorischen Wirkungszusammenhang, in: Strauss,
Herbert A. (Hrsg.): Die Emigration der Wissenschaften nach 1933. Disziplingeschichtliche Studien,
München/ London/ New York/ Paris 1991, S. 73 - 104.

10
2.
Voraussetzungen für die Emigration in die Türkei
2.1
Deutsch-türkische Beziehungen vor der Gründung der Türkischen
Republik
Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 begannen sich allmählich Beziehungen
in wirtschaftlichen und militärischen Bereichen zum Osmanischen Reich zu entwickeln.
Es gab zwar schon vor der Reichsgründung Beziehungen auf wirtschaftlicher wie
militärischer Ebene, diese Zusammenarbeit blieb aber ohne nennenswerte Bedeutung.
So schloß das Osmanische Reich bereits 1761 Handelsverträge mit Preußen und 1840
mit dem Deutschen Zollverein. Schuld an den bis 1871 nur schwach ausgebildeten
gegenseitigen Beziehungen war neben den Verkehrsverhältnissen das politische
Desinteresse am Osmanischen Reich in Deutschland sowie die Rücksichtnahme auf das
verbündete Österreich, denen die Deutschen die Geschäfte mit den Osmanen
überließen.
22
Eine erste militärische Zusammenarbeit ergab sich bereits 1835 durch die Reise Helmuth
von Moltkes in das Osmanische Reich. Hauptmann von Moltke weilte zusammen mit
dem Sekondelleutnant von Bergh während einer privaten Reise von Wien nach Athen im
November 1835 in Konstantinopel. Bei einer Audienz beim osmanischen Kriegsminister
bat dieser von Moltke, seine Weiterreise zu verschieben und als militärischer Berater im
Osmanischen Reich tätig zu werden. Nach Rücksprache mit dem preußischen König,
der Moltke zu diesem Zweck beurlaubte, entsandte der König noch drei weitere
Militärs zur Unterstützung der ersten deutschen Militärmission.
23
Die Moltke-Mission
blieb nicht die einzige Militärmission der Deutschen im Osmanischen Reich. Von
Kaehler über Goltz bis hin zur Liman-von-Sanders-Mission kurz vor dem Ersten
Weltkrieg zog sich die militärische Beratung des Osmanischen Reiches durch deutsche
22
Gross, Hermann: Die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen, S. 167, in: Grothusen, Klaus-
Detlev (Hrsg.): Die Türkei in Europa. Beiträge des Südosteuropa-Arbeitskreises der Deutschen
Forschungsgemeinschaft zum IV. Internationalen Südosteuropa-Kongreß der Association
Internationale d'Etudes du Sud-Est Européen (Ankara 13. - 18.08 1979), Göttingen 1979, S. 167 - 191.
23
Wallach, Jehuda L.: Anatomie einer Militärhilfe. Die preußisch-deutsche Militärmission in der
Türkei 1835 - 1919, Düsseldorf 1976, S. 18.

11
Militärs.
24
Dabei war der Einfluß, den die militärischen Berater auf die osmanischen
Militärs ausübten, sehr groß. Neben ihrer Funktion als Berichterstatter fungierten sie
auch als Auftragsbeschaffer für die deutsche Rüstungsindustrie, die sich zu einer der
wichtigsten Stützen für die Expansion des Deutschen Reiches im Osmanischen Reich
entwickelte. Der Export deutscher Waffentechnologie ins Ausland sicherte nicht nur die
Vollbeschäftigung im eigenen Land, sondern bot auch die Möglichkeit, veraltete
Waffensysteme im Ausland abzusetzen. Das Osmanische Reich schien hierfür bestens
geeignet, da durch die militärische Zusammenarbeit auch politische und ökonomische
Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen wurden. Dies war wichtig, falls das Deutsche
Reich einen Bündnispartner benötigte. Großbanken spielten dabei als Kreditgeber für
die Waffenimportländer eine wichtige Rolle.
25
Obwohl Bismarck sich gegen eine imperialistische Expansion in einem Spannungsgebiet
wie dem Osmanischen Reich aussprach, um Deutschland aus den Interessenkonflikten
im Orient herauszuhalten, wurden in seiner Amtszeit bereits die Grundlagen für die
späteren guten Beziehungen auf wirtschaftlicher wie militärischer Ebene zwischen der
Türkei und Deutschland gelegt.
26
Der Bau von Eisenbahnverbindungen zählte neben den
militärischen Beziehungen zu den wichtigsten deutschen Projekten im Osmanischen
Reich. 1887 leitete der Direktor der Württembergischen Vereinsbank, Alfred Kaulla,
der eigentlich zu Verhandlungen über Militärausrüstungen in Konstantinopel weilte, die
Gespräche über den Bau der Anatolischen Eisenbahn durch deutsches Kapital ein. Der
Sultan beabsichtigte, die Konzession für den Bau der Eisenbahn an eine Deutsche Bank
zu vergeben. Er fühlte sich durch das von Deutschland erklärte Desinteresse am Orient
am wenigsten bedroht. Kaulla empfahl das Projekt dem Direktor der Deutschen Bank,
Georg von Siemens. Bismarck warnte jedoch vor dem Projekt und lehnte eine Zusage
des Reiches für Hilfe ab, falls der Bau der Eisenbahn in Schwierigkeiten geraten würde.
Vgl. auch dazu: Arndt, Helmut v. (Hrsg.): Helmuth von Moltke. Unter dem Halbmond. Erlebnisse in
der alten Türkei 1835 - 1839, Berlin/ Stuttgart 1984.
24
Vgl. Wallach. Hier werden die einzelnen Militärmissionen näher beschrieben. Zur Liman von
Sanders-Mission Vgl.: Mühlmann, Carl: Deutschland und die Türkei 1913 - 1914. Die Berufung der
deutschen Militärmission nach der Türkei 1913, das deutsch-türkische Bündnis 1914 und der
Eintritt der Türkei in den Weltkrieg, Berlin 1926.
25
Kössler, Armin: Aktionsfeld Osmanisches Reich. Die Wirtschaftsinteressen des Deutschen
Kaiserreiches in der Türkei 1871 - 1908, New York 1981, S. 88 - 90.
26
Schenkenburger, Otto: Die Türkeipolitik des Deutschen Reiches in der Bismarckzeit, S. 81, in:
Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Spagat mit Kopftuch. Essays zur Deutsch-Türkischen Sommerakademie,
Hamburg 1997, S. 73 - 95.

12
Die Deutsche Bank erhielt die Konzession und finanzierte den Bau der ersten
Bahnetappe. In diese Zeit fiel auch die erste Orientreise von Kaiser Wilhelm II. im Jahre
1889. Bismarck hatte auch hier versucht, seine Politik der Zurückhaltung gegenüber
einem zu starken Engagement im Osmanischen Reich aufrecht zu erhalten. Sein Versuch,
dem Kaiser die Reise auszureden, mißlang. Erst nach Bismarcks Entlassung 1890 schien
der Weg frei für eine aktive Türkeipolitik des Kaisers.
27
Die zweite Orientreise des
Kaisers 1898 brachte dann endlich die Entscheidung zugunsten der Deutschen Bank,
die Eisenbahnlinie bis nach Bagdad weiterzuführen. Wilhelm II. nahm sich persönlich
des Projektes der Bagdadbahn an und drängte Georg von Siemens zum Weiterbau der
Eisenbahnlinie. Die Deutsche Bank startete ihr größtes Auslandsunternehmen, obwohl
Georg von Siemens, dem die wirtschaftlichen Vorteile aus den früheren
Bahnkonzessionen bekannt waren, nach der Fertigstellung der Bahnlinie bis Konia erst
eine Konsolidierungsphase von einigen Jahren abwarten wollte.
28
Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam es schließlich aufgrund der guten
wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen zu einem deutsch-türkischen
Bündnisvertrag, der am 2. August 1914 unterzeichnet wurde und zu gegenseitiger
Waffenhilfe gegen Rußland verpflichtete. Die Militärmission unter Liman von Sanders
erhielt noch kurz vor Kriegsausbruch eine personelle Verstärkung. Im Verlaufe des
Krieges drangen immer mehr Deutsche in alle Ebenen der türkischen Armee ein.
29
Die Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Reich und dem Osmanischen Reich
beschränkte sich aber nicht nur auf den Rüstungssektor und den Bau von
Eisenbahnlinien, sondern entfaltete sich auch auf kulturpolitischer Ebene. Schon vor dem
Beginn des Ersten Weltkrieges gab es Pläne zur Gründung einer gemeinsamen deutsch-
türkischen Hochschule. Bis zu diesem Zeitpunkt blieb das hohe Ansehen, welches das
27
Richter, Jan Stefan: Die Orientreise Kaiser Wilhelms II. 1898. Eine Studie zur deutschen
Außenpolitik an der Wende zum 20. Jahrhundert, Hamburg 1997, S. 54/ 55. (Studien zur
Geschichtsforschung der Neuzeit Bd. 9)
28
Lodemann, Jürgen/ Pohl, Manfred: Die Bagdadbahn. Geschichte und Gegenwart einer berühmten
Eisenbahnlinie, Mainz 1988, S. 41 - 43.
Vgl. dazu auch: Hübner, Reinhard: Die Bagdadbahn, Berlin 1943; Manzenreiter, Johann: Die
Bagdadbahn als Beispiel für die Entstehung des Finanzimperialismus in Europa (1872 - 1903),
Bochum 1982.
29
Wallach, s. 156 - 158.

13
deutsche Erziehungs- und Bildungssystem im Osmanischen Reich genoß, ohne
praktische Auswirkungen auf die Ausbildungsstätten der Türken.
30
Im Osmanischen Reich standen sich zwei Hochschulformen gegenüber. Dies waren auf
der einen Seite die Medrese
31
, an der in erster Linie islamisches Recht gelehrt wurde,
und andererseits die sich allmählich entwickelnde Form einer Hochschule nach
westlichen Vorbildern. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts blieben die Medresen die
einzigen Hochschulanstalten im Osmanischen Reich. Der neue Typus einer weltlich
geprägten Hochschule entstand in den Reformepochen des Tanzimat (1839 - 1861) und
des Mesrutiyet (1876 - 1908).
32
Dabei entwickelten sich zuerst Fachschulen im
Militärbereich später dann auch in der Medizin, Landwirtschaft, Bergbau und
Verwaltung. Mitte des 19. Jahrhunderts führte diese Entwicklung zu den ersten
Versuchen, eine Hochschule nach westlichem Vorbild zu gründen. Trotzdem dauerte es
bis 1900, bis sich die früheren Versuche konsolidieren konnten und mit der Gründung
des Dar-ül-fünun (Haus der Wissenschaften) in Konstantinopel eine erste Universität
entstand. Weitere Fortschritte beim Ausbau der Universität gab es in der
Jungtürkischen Revolution (1908)
33
. Das Ziel, eine Universität nach europäischem
Vorbild zu errichten, wurde aber erst in der Zeit des Kemalismus
34
erreicht. Die
30
Dahlhaus, Friedrich: Möglichkeiten und Grenzen auswärtiger Kultur- und Pressepolitik dargestellt
am Beispiel der deutsch-türkischen Beziehungen 1914 - 1928, Frankfurt a. M. / Bern/ New York/
Paris 1990, S. 186/ 187.
31
Medrese: Bildung des aus dem Aramäischen übernommenen Wortes ,,darasa": lesen, studieren -
,,ein Ort, an dem man liest, studiert". Neben der islamischen Rechtslehre wurden auch
Koranexegese, Traditionswissenschaften, Mathematik, Medizin und Literatur gelehrt. Ursprünglich
fand der Unterricht in den Moscheen statt. Die Medrese bildete eine Art von Internat, in dem die
Lehrer und Studenten gemeinsam wohnten. Als Gründer der Medresen gilt der Seldschuken-Wesir
Nizam al-Mulk ( 1018 - 1092). Vermutlich entstanden aber schon vor dieser Zeit im 10. Jahrhundert
im Osten und Nordosten Irans solche Schulen. Im 15. Jahrhundert lag die Blütezeit der Medresen in
Kairo und Persien. Mit dem Aufstieg Europas sank das Niveau an den Schulen. Heute hat die
Medrese ihre Bedeutung verloren. Aus: Kreiser, Klaus/ Wielandt, Rotraud (Hrsg.): Lexikon der
Islamischen Welt, völlig überarb. Neuausg., Stuttgart/ Berlin/ Köln 1992, S. 177 - 179.
Vgl. dazu auch: Björkman, W.: Hochschulreformen im neuen Orient (Türkei und Ägypten), S 65 - 83,
in: Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen, Jg. 34 (1931), 2. Abt., Hamburg 1931.
32
Vgl.: Grunebaum, S. 114 - 143.
33
Vgl. dazu: Hanioglu, M. Sützrü: The Young Turks in opposition, New York/ Oxford 1995.
34
Mit Kemalismus bezeichnet man die Regierungszeit von Mustafa Kemal Atatürk (1923 -1938),
dem Gründer der Türkischen Republik. Sein Regierungsprogramm, das auf den Ausbau der Türkei
abzielte, um sie so schnell wie möglich auf westliches Niveau zu heben enthielt sechs Prinzipien, die
als die Prinzipien des Kemalismus bezeichnet werden und im folgenden noch näher erläutert
werden.

14
Reorganisation und Neugründung der Universität Istanbul 1933 brachte die endgültige
Einführung einer modernen Universität in der Türkei.
35
Kurz nach dem Eintritt der Türkei in den Ersten Weltkrieg kam es zur Gründung einer
deutschen ,,Schul- und Kulturkommission" in Konstantinopel. Leiter dieser Kommission
wurde der Geheimrat Franz Schmidt, der zuletzt in der Schulabteilung des Auswärtigen
Amtes arbeitete. Das osmanische Unterrichtsministerium berief Schmidt als Beirat für
bildungspolitische Fragen. Schmidt unterbreitete dem Unterrichtsministerium einige
Vorschläge zur Verbesserung der Ausbildung an der Universität. Vom türkischen
Unterrichtsminister Schükri Bey stammte dann die Idee, deutsche Professoren an die
Universität zu holen. Schmidts Bedenken gegen diesen Plan teilte auch die Deutsche
Botschaft. Die Kritikpunkte lagen dabei in der ungenügenden wissenschaftlichen
Vorbildung der türkischen Studenten, in der Forderung, daß alle Professoren in türkisch
unterrichten sollten, und in den zu erwartenden hohen finanziellen Aufwendungen. Seine
Tätigkeit als Beirat des osmanischen Unterrichtsministeriums band Schmidt trotz seiner
geäußerten Kritik an die Weisungen des Ministers. Auf einer Deutschlandreise im Juli/
August 1915 suchte Schmidt 19 jüngere deutsche Dozenten aus, die den türkischen
Studenten methodisches Wissen vermitteln sollten, um die Grundlagen einer modernen
Geistesbildung zu schaffen.
36
Da die Bitte der türkischen Regierung um Entsendung von
deutschen Professoren die deutsche Seite nicht ganz unvorbereitet traf, konnten schon
im Herbst 1915 zu Beginn des Studienjahres die ersten 14 Professoren ihre Tätigkeit in
Istanbul aufnehmen. Unter ihnen war auch Fritz Arndt, Privatdozent für Anorganische
Chemie in Breslau, der 1933 als Emigrant die Türkei wiedersah.
37
Die türkische Sprache erwies sich als das größte Problem, mit dem sich die deutschen
Professoren konfrontiert sahen. Mit einem vom Ministerium genehmigten Freijahr, in
dem die Professoren die Sprache erlernen sollten, versuchte der Unterrichtsminister das
Problem zu beheben. Obwohl das Französische in den gebildeten türkischen Kreisen
gesprochen wurde, kam es als Unterrichtssprache nicht in Betracht, da laut Schmidt die
deutschen Professoren nicht als ,,Propagatoren der französischen Sprache"
38
auftreten
sollten. Die türkische Öffentlichkeit stand der Berufung der deutschen Professoren
35
Widmann: Exil und Bildungshilfe, S. 28 - 30.
36
Dahlhaus, S. 186 - 189.
37
Widmann: Exil und Bildungshilfe, S. 36/ 37.
38
Zit. n.: Dahlhaus, S. 189.

15
durchaus positiv gegenüber. In Deutschland reagierten die zeitgenössischen Publizisten
sowie die deutschen Beobachter vor Ort unterschiedlich. Sie schätzten die Beteiligung
der deutschen Professoren an der Umstrukturierung der Universität zum einen als
politisch bedeutsam ein. Zum anderen fürchteten Beobachter, daß Neid und Mißgunst
sich in den Reihen der türkischen Professoren entwickeln könnten, da die Bezahlung der
deutschen Professoren über den Gehältern der türkischen Professoren lagen. Als
weiterer Schwachpunkt der Berufung wurde kritisiert, daß die deutschen Professoren
nicht Schmidt unterstellt waren, sondern dem Rektor der Universität. Von offizieller
deutscher Seite gab es keine besonderen Vorgaben für die Professoren, da die
Entsendung auf einer rein türkischen Initiative beruhte.
39
Nach dem Rücktritt des
Unterrichtsministers Schükri Bey stellte sein Nachfolger Ali Münif Bey die vorliegenden
Entwürfe für die Umgestaltung der Universität in Istanbul zurück. Die Lage der
Professoren verschlechterte sich zusehends, so daß die deutschen Professoren in einer
Denkschrift im Herbst 1918 die schlechte finanzielle Lage ihrer Institute sowie ihre
eigene ungenügende Bezahlung beklagten. Mit dem Ende des Krieges stellte sich eine
weitere Tätigkeit der Professoren als unmöglich dar.
40
Dahlhaus charakterisiert die Berufung der Professoren als ein ,,Zufallsprojekt", das ohne
die nötige Vorbereitung durchgeführt wurde.
41
Auch Widmann beurteilt die
Auswirkungen der Reformansätze eher zurückhaltend. So ließ sich eine Reorganisation
der Universität in der kurzen Zeit zwischen 1915 und 1918 nicht erreichen. Widmann
weist allerdings darauf hin, daß sich ein gewisser positiver Effekt abzeichnete, der sich
aus der Einrichtung von Seminaren, der Einführung einer experimentellen Arbeits- und
Lehrweise sowie der Schaffung von Universitätsbibliotheken auf das wissenschaftliche
Klima ausgewirkt hat.
42
2.2
Atatürk und die Gründung der Türkischen Republik 1923
Die Gründung der Türkischen Republik 1923 stellt eine der Voraussetzungen dar, ohne
die eine Emigration von deutschen Wissenschaftlern in die Türkei rund zehn Jahre nach
39
Dahlhaus, S. 190 - 193.
40
Ebenda, S. 197.
41
Ebenda, S. 200.
42
Widmann: Exil und Bildungshilfe, S. 37.

16
ihrer Ausrufung nicht möglich gewesen wäre. Die großen Veränderungen, die Mustafa
Kemal, der 1934 durch ein Sondergesetz den Beinamen ,,Atatürk" (Vater der
Türken)
43
erhielt, mit der Gründung der Republik einleitete, bildeten auch die
Grundlagen für die Schaffung einer modernen Universität.
Die Beteiligung des Osmanischen Reiches am Ersten Weltkrieg an der Seite
Deutschlands war das Ergebnis der engen militärischen Beziehungen der Vorkriegsjahre.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges besetzten die Siegermächte weite Teile des
Osmanischen Reiches. Das Jahr 1918 bedeutete nicht nur das Ende des Krieges,
sondern zu gleich das Ende der Existenz des Osmanischen Reiches als selbständiges
Staatsgefüge.
44
Am 30. Oktober 1918 unterzeichnete der Großwesir den mit den Alliierten
ausgehandelten Waffenstillstand, der einer Kapitulation gleichkam. Neben der
Freilassung der alliierten Gefangenen beinhaltete der Vertrag die Demobilisierung der
Armee und die Abtretung von türkischen Landesteilen an die Siegermächte.
45
Seit dem
Waffenstillstand formierten sich in Anatolien verschiedene Gruppen, die für die
Verteidigung der nationalen türkischen Rechte eintraten. Mustafa Kemal sollte aufgrund
eines Befehls des Sultans die nationalistischen Unruhen in Zentralanatolien beenden. Am
19. Mai 1919 landete er per Schiff in Samsun und organisierte entgegen seinem Befehl
den bis dahin diffusen militärischen Widerstand gegen die Waffenstillstandsbedingungen,
die durch die Sultanregierung ausgehandelt worden waren. Kurz zuvor hatten
griechische Truppen Izmir besetzt. Auf zwei Kongressen 1919 wurde die Forderung
nach einem Vertretungsorgan für das gesamte türkische Territorium gestellt. Nach der
Auflösung des letzten osmanischen Parlaments in Istanbul aus Protest über die
Besetzung der Stadt durch britische Truppen am 16. März 1920 konstituierte sich am
23. April 1920 die ,,Große Nationalversammlung" in Ankara. Es existierten nunmehr
zwei Regierungen, die sich gegenseitig bekämpften.
46
Mit dem Vertrag von Sèvres, den
die Sultanregierung in Istanbul im Juni 1920 unterzeichnete, verzichtete die Türkei auf
alle nicht-türkischen Gebiete und akzeptierte die Aufteilung des Reiches. Lediglich
43
Steinbach, S. 93. Zur Biographie von Atatürk Vgl. : Rill, Bernd: Kemal Atatürk, Hamburg 1958;
Frank, Gerd: Allahs große Söhne. Staatengründer und Reformer. Hassan II., Iben Saud, Gamal
Abdel Nasser, Kemal Atatürk, Hussein II., Frankfurt a. M. 1990.
44
Hoffmann, Barbara/ Balkan C. : Militär und Demokratie in der Türkei, Berlin 1985, S. 13.
45
Grunebaum, S. 145.
46
Steinbach, S. 106 - 110.

17
Istanbul und Teile Anatoliens sollten den Türken verbleiben. Die Bedingungen des
Vertrages von Sèvres gaben der Nationalbewegung unter Atatürk den entscheidenden
Anstoß.
47
Es begannen nun militärische Auseinandersetzungen mit den verschiedenen
Alliierten Armeen, vor allem mit den Griechen, sowie den nationalen Minderheiten wie
Kurden
48
und Armenier
49
, die schließlich in der Gründung der Türkischen Republik
endeten. Zu diesem Zweck schlossen die türkischen Nationalisten im März 1921 einen
Vertrag mit Rußland ab. Atatürk wurde zum Oberbefehlshaber der ,,Grünen Armee"
ernannt, die sich nach dem Vorbild der Roten Armee gebildet hatte. Im Juni 1921
rückten die Griechen bei erklärter Neutralität der anderen Alliierten gegen Ankara vor.
Durch einen strategischen Rückzug und die Mobilisierung der anatolischen Bevölkerung
gelang es der türkischen nationalen Armee, die Griechen zu schlagen. Dieser Sieg
brachte der Türkei ein Abkommen mit Frankreich und Italien, die auf ihre Ansprüche
am türkischen Territorium verzichteten. Eine Offensive der Türken im Sommer 1922
zwang die Griechen zum endgültigen Rückzug. In der letzten Phase des türkischen
Befreiungskrieges eroberten die Truppen der Grünen Armee die Dardanellen zurück
und besetzten den heutigen europäischen Teil der Türkei.
50
Im Oktober 1922 verhandelten die Alliierten mit den Türken bei Mudanya am
Marmarameer über Waffenstillstandsbedingungen, die den Auftakt zum Friedensvertrag
von Lausanne bildeten. Es stellte sich die Frage, welche der zwei existierenden
türkischen Regierungen die Verhandlungen mit den Alliierten führen sollte, entweder die
Sultanregierung in Istanbul oder die nationale Regierung in Ankara. Am 1. November
1922 tagte die ,,Große Nationalversammlung" und beschloß die Aufhebung des
Sultanats. Die Regierung des Sultans löste sich auf, und sein Nachfolger bekleidete nur
noch das Amt des Kalifen, des Oberhauptes der sunnitischen Moslime. Damit war die
nationale Regierung in Ankara die einzige legitime Regierung der Türkei und
unterschrieb am 24. Juli 1923 das Abkommen von Lausanne, in dem die Türkei ihre
47
Grunebaum, S. 145/ 146.
48
Vgl. dazu:
Behrendt, Günter: Nationalismus in
Kurdistan. Vorgeschichte,
Entstehungsbedingungen und erste Manifestationen bis 1925, Hamburg 1993;Deschner, Günther:
Saladins Söhne. Die Kurden - das betrogene Volk, München 1983.
49
Feigel, Uwe: Das evangelische Deutschland und Armenien. Die Armenierhilfe deutscher
evangelischer Christen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der deutsch-türkischen
Beziehungen, Göttingen 1989.

18
volle Souveränität erlangte.
51
Am 2. Oktober übernahmen türkische Truppen Istanbul,
und kurz darauf, am 9. Oktober, wurde Ankara zur neuen Hauptstadt erklärt. Atatürk
ließ sich am 29. Oktober 1923 zum Präsidenten wählen und rief am selben Tag die
Republik aus.
52
2.3
Reformen
2.3.1
Allgemeine Reformen
In den Anfangsjahren der Republik führte Atatürk einschneidende Reformen durch.
Zunächst wurde das Kalifat am 3. März 1924 abgeschafft und gleichzeitig sämtliche sich
noch in der Türkei aufhaltende Familienangehörige des Sultans ausgewiesen.
53
Am 20.
November 1923 gründete sich die ,,Volkspartei" als Nachfolgeorganisation des
,,Vereins für die Verteidigung von Anatolien und dem Balkan", der den Aufstand gegen
die Alliierten bis 1923 organisiert hatte. Ein Jahr später änderte die Partei ihren Namen
in ,,Republikanische Volkspartei (CHP)".
54
Die CHP blieb bis nach dem Zweiten
Weltkrieg die einzige Partei in der Türkei, auch wenn es Versuche gab, eine
Oppositionspartei zu etablieren. Diese schlugen allerdings fehl, da die Partei sich zu einer
,,Interessenvertretung des osmanischen Traditionalismus und des Kompradorentums"
55
entwickelte.
Die Grundprinzipien der CHP ließen sich in sechs Punkten zusammenfassen. Diese
sechs Prinzipien bildeten die Grundlagen des Kemalismus und wurden auch mit leichten
Veränderungen in die Verfassung von 1937 aufgenommen. Zu ihnen zählten der
50
Hottinger, Arnold: Atatürks neue Türkei, S. 360 - 363, in: Kündig-Steiner, Werner (Hrsg.): Die
Türkei. Raum und Mensch, Kultur und Wirtschaft in Gegenwart und Vergangenheit, 2. rev. u. erg.
Aufl., Tübingen/ Basel 1977, S. 357 - 373.
51
Steinbach, S. 115 - 117.
52
Hottinger, S. 364.; Vgl. dazu auch: Jäschke, Gotthard: Der Freiheitskampf des Türkischen Volkes.
Einbeitrag zur politischen Geschichte der Nachkriegszeit, Berlin 1932.; Jäschke, Gotthard/ Pritsch
Erich: Die Türkei seit dem Weltkriege. Geschichtskalender 1918 - 1928, Berlin 1929.; Ziemke Kurt:
Die neue Türkei. Politische Entwicklung 1914 - 1929, Berlin/ Leipzig 1930.
53
Keskin, Hakki: Vom Osmanischen Reich zum Nationalstaat - Werdegang einer Unterentwicklung,
Berlin 1978, S 79/ 80.
54
Arslan, Riza: Die staatliche Steuerung der Industrialisierung in der Türkei (1923 - 1990), Neuried
1995, S. 31. (Deutsche Hochschuledition Bd. 39)
55
Zit. n.: Steinhaus, Kurt: Soziologie der türkischen Revolution. Zum Problem der Entfaltung der
bürgerlichen Gesellschaft in sozioökonomisch schwach entwickelten Ländern, Frankfurt a. M. 1969,
S. 103.

19
Republikanismus (Souveränität des Volkes), der Nationalismus (Absage an den
Vielvölkerstaat), der Populismus (das Volk und nicht eine politische Klasse ist Träger
der Souveränität), der Revolutionismus (die stetige Fortführung der Reformen), der
Laizismus (Trennung von Staat und Kirche) und der Etatismus (die teilweise Lenkung
der Wirtschaft durch den Staat).
56
Diese Grundlagen des Kemalismus spiegelten sich auch teilweise in der Ausgestaltung
der Reformen wieder. Zu den wichtigsten Reformen gehörten die Abschaffung der alten
Rechtsnormen durch die Einführung des schweizerischen Zivilrechts, des italienischen
Strafrechts und des deutschen Handels- und Seerechts bis 1930. Des weiteren wurde
die Polygamie verboten und die rechtliche Gleichstellung der Frau durchgesetzt. Neben
der Schließung der Klöster und Medresen führte Atatürk die Einheitsschule ein. 1928
ersetzten die Türken das arabische Alphabet durch die lateinische Schrift. Die
arabische Schrift stellte bisher ein Haupthindernis dar, um den Alphabetisierungsprozeß
voran zu treiben. Gleichzeitig hielt Atatürk mit der Einführung der neuen Schrift den
Anschluß an die internationale Wissenschaft für gewährleistet. Die Sprache der Türken,
die bisher durch viele arabische und persische Wörter entfremdet worden war, wurde
durch neue türkische Begriffe ,,türkisiert". Eine weitere Reform, mit der Atatürk
versuchte, auf schnellstem Wege das Niveau des türkischen Volkes auf das der
westlichen Staaten zu heben, war eine Kleiderreform. Neben der Abschaffung des Fez
bei den Männern verbot ein Gesetz den Schleier bei den Frauen. Beide
Kleidungsstücke hatten religiöse Bedeutung, und deren Abschaffung diente der
Ausschaltung des religiösen islamischen Einflusses.
57
Atatürk war davon überzeugt, daß
die Einführung der westlichen Kleidung auch die innere Einstellung der Türken zu seinen
Reformen positiv verändern würde. Schönberger weist jedoch in ihrem Aufsatz
daraufhin, daß legislative Eingriffe nicht allein eine Gesellschaft zu verändern vermögen.
58
Unter Historikern gibt es unterschiedliche Meinungen über die Beteiligung und
Motivation des Volkes am Befreiungskrieg und über die Politik des ersten Jahrzehnts
der Türkischen Republik, das durch die einschneidenden Reformen geprägt war.
56
Gronau, Dietrich: Mustafa Kemal Atatürk oder die Geburt der Republik, Frankfurt a. M. 1994, S.
221.
57
Keskin, S. 80/ 81.
58
Schönberger, Irene: Gedanken zur türkischen Kleidung. Vom historischen Blickwinkel auf die
Türkei zur heutigen Situation von Türken in Deutschland, S. 132 - 135, in: Reulecke, Jürgen (Hrsg.):
Spagat im Kopftuch. Essays zur Deutsch-Türkischen Sommerakademie, Hamburg 1997, S. 120 - 153.

20
Behrendt ist der Ansicht, daß es eine Lüge des türkischen Nationalismus sei, ,, daß die
Türkische Republik in einem nationalen Volkskrieg erkämpft worden sei, vielmehr
übernahm eine bestimmte Fraktion innerhalb des Staatsapparates (hauptsächlich
Armeeoffiziere) nach der Kapitulation die Macht und führte den Krieg als eine den
veränderten Bedingungen angepaßte staatliche Macht fort."
59
Auch Arslan geht davon
aus, daß Atatürk keinen großen Anhang unter der einfachen Bevölkerung fand. Er
meint, Atatürk sei selbst von einer späten Wirkung seiner Reformen ausgegangen, hoffte
aber immer, mit deren Hilfe das Volk auf westliches Niveau zu heben.
60
Hale hingegen
bestätigt zwar, daß Armeeoffiziere die Führung innehatten, betont aber die
Unterstützung durch lokale Eliten sowie durch die einfache Bevölkerung. Er beschreibt
das erste türkische Parlament als eine Zusammensetzung von Vertretern aller politischen
Richtungen, ,,from the Marxist left to the conservative religious right".
61
2.3.2
Der Beginn der Universitätsreform
Die Universitätsreform konnte erst zehn Jahre nach der Gründung der Türkischen
Republik in Gang gesetzt werden. Die Gründe für diese relativ späte Umsetzung der
Reformen lagen vor allem in der geopolitischen Lage der Universität in Istanbul
begründet. In der bisherigen Hauptstadt hatte der Kemalismus seine Gegner vor allem
unter den Professoren der alten Universität.
62
Die Universität Istanbul besaß vier alte
Fakultäten für Medizin, Recht, Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. 1925/26
eröffnete in der neuen Hauptstadt Ankara eine zweite Rechtsfakultät. Insgesamt
gesehen, konzentrierte sich das Hochschulwesen vor 1933 auf die alte
Osmanenhauptstadt Istanbul. Ankara, die neue Hauptstadt, spielte bis 1933 nur eine
untergeordnete Rolle.
63
Neben der Reorganisation und Neugründung der alten
Universität Istanbul (Dar-ül-fünun) im Jahre 1933 stellte die türkische Regierung in
59
Behrendt, S. 362.
60
Arslan, S. 29.
61
Hale, William: The Political and Economic Development of Modern Turky, London 1981, S. 34.
62
Widmann: Exil und Bildungshilfe, S. 43.
63
Kienitz, Friedrich Karl: Türkei. Anschluß an die moderne Wirtschaft unter Kemal Atatürk,
Hamburg 1959, S. 66/ 67.

21
Ankara das landwirtschaftliches Hochschulinstitut (YZE - Yüksek Ziraat Enstitüsü)
baulich fertig.
64
Die Reformgründungen vor allem in Istanbul ermöglichten erst die Emigration deutscher
Wissenschaftler in die Türkei. Obwohl es bereits organisatorische Verbesserungen der
alten Universität durch die Professorenmission während des Ersten Weltkrieges gegeben
hatte, war deren Zustand in den Augen der türkischen Regierung unzureichend. Der
türkische Unterrichtsminister Resit Galip, der in seinem Ministerium eine türkische
Reformkommission zur Steuerung und Weiterentwicklung der Reformen schuf,
beschrieb die Lage der alten Universität in einer Rede von 1933 wie folgt: ,,Im Lande
haben sich große politische und soziale Umwälzungen vollzogen. Die Universität (das
Dar-ül-fünun) blieb demgegenüber in der Rolle eines neutralen Beobachters. Im Bereich
der Wirtschaft haben sich grundlegende Ereignisse abgespielt. Das Dar-ül-fünun schien
davon nichts zu wissen. Im Rechtswesen haben sich radikale Veränderungen vollzogen.
Das Dar-ül-fünun begnügte sich damit, lediglich die neuen Gesetze in das
Unterrichtsprogramm aufzunehmen. ... Das Istanbuler Dar-ül-fünun ist schließlich zum
Stillstand gekommen, hat sich abgekapselt und hat sich in einer mittelalterlichen
Isolierung von der Außenwelt vollständig zurückgezogen."
65
Auch Atatürk unterstützte
diese Kritik. Er betonte immer wieder die Notwendigkeit von Reformen: ,,Reformen
bedeuten, anstelle der Institutionen, die in den letzten Jahrhunderten den Fortschritt der
türkischen Nation verhindert haben, neue Institutionen einzusetzen, die den Fortschritt
der Nation entsprechend den Erfordernissen von Kultur und Zivilisation sichern."
66
Die Hochschulbildung in der Türkei stand vor der Neugründung der Universität Istanbul
auf eher schmalem Fundament. 1923/24 gab es 307 Lehrkräfte und 2.914 Studenten.
1938/39 waren es bereits 855 Lehrkräfte und 10.213 Studenten. Zur Verbesserung der
Ausbildung der Studenten schickte die türkische Regierung bereits in der Zeit der
Weimarer Republik Studenten ins Ausland. 1927/28 studierten zwar erst 42 Studenten
im Ausland aber bereits 1937/38 waren es 200 bis 300 türkische Studenten.
67
64
Widmann, Horst: Hochschulen und Wissenschaft, S.549 - 566, in: Grothusen, Klaus-Detlev
(Hrsg.): Südosteuropa - Handbuch, Bd. IV, Türkei; Göttingen 1985, S. 551.
65
Zit. n.: Widmann: Exil und Bildungshilfe, S. 42.
66
Zit. n.: Aksan, Akil: Mustafa Kemal Atatürk aus Reden und Gesprächen, Heidelberg 1981, S. 37.
67
Kienitz, S. 66.

22
1931 beauftragte die türkische Regierung den Genfer Pädagogen Malche mit der
Reorganisation der Universität Istanbul. Malche kam Anfang 1932 in die Türkei und
erstellte ein Gutachten über den Zustand der alten Universität. Dazu besuchte er die
Fakultäten und Kliniken, besichtigte Labors und Bibliotheken und sprach mit den
zuständigen Politikern, Professoren und Studenten. Weiterhin entwarf er einen
Fragebogen, dessen Ergebnisse er später für sein Gutachten auswerten konnte. Am 29.
Mai 1932 legte er seinen Bericht der türkischen Regierung vor und fuhr kurze Zeit
später zurück in die Schweiz.
68
Für Malche lag der Ausgangspunkt der Motivation der
türkischen Regierung zur Durchführung einer Universitätsreform darin begründet, ,,daß
weitverbreitet das Gefühl besteht, daß zur Verbesserung der Universität etwas getan
werden muß. Ich glaube sagen zu können, daß ich denselben Eindruck gewann bei der
Audienz, die S. Ex. der Ministerpräsident mir am 18. Jan. 1932 in Ankara gewährte,
sowie bei den Gesprächen, die ich später mit S. Ex. dem Unterrichtsminister führte."
69
In seinem Bericht beschrieb Malche die räumliche Situation an der Universität als gut,
auch wenn einige Räume veraltet seien. Das Studiensystem sei das der Klassen. Eine
akademische Freiheit gäbe es nicht, und zum Ende jedes Studienjahres würden
verbindliche Prüfungen abgehalten. Neben den Vorlesungen, die weitgehend
enzyklopädischen Charakter hätten, gäbe es nur wenige Übungen und kaum Seminare.
Kritik übte Malche vor allem am Fehlen von wissenschaftlichen Publikationen in
türkischer Sprache, an der veralteten Unterrichtsmethode, sowie an den türkischen
Studenten, deren Fremdsprachenkenntnisse unzureichend seien. Des weiteren sei es
nicht möglich, türkische Hochschullehrer an der Universität auszubilden. Auch die Lage
der einzelnen Fakultäten kritisierte Malche. So befinde sich zum Beispiel die
medizinische Fakultät in Haydrapasa auf der asiatischen Seite, während die geeigneten
Krankenhäuser in Stambul auf der europäischen Seite lägen. Zudem liefen auch noch
einzelne Veranstaltungen nutzlos parallel, wie die der juristischen Fakultät und die der
höheren Handelsschule.
70
68
Der Bericht von Malche (Rapport sur l`université d`Istanbul) existiert nur in einem reservierten
Exemplar in der Bundesbibliothek in Bern als Typoskript. Gedruckt liegt er nur in türkischer Sprache
vor. Ich beziehe mich bei meinen Zitaten aus dem Bericht auf die deutsche Übersetzung in
Widmann: Exil und Bildungshilfe.
69
Zit. n.: Widmann: Exil und Bildungshilfe, S. 43.
70
Widmann: Exil und Bildungshilfe, S. 44/ 45.

23
Malche machte im letzten Teil seines Berichtes Reformvorschläge, die sich auf die
Arbeitsmittel, die Arbeitsorganisation und die Ausstrahlung der Universität nach Außen
bezogen. Zur Verbesserung der Arbeitsmittel schlug er eine grundlegende Umgestaltung
der Unterrichtsmethode vor. Weiterhin sollten die Studenten eine fremdsprachliche
Schulung durch ausländische Professoren erhalten. Die Veröffentlichung von
wissenschaftlichen Arbeiten in türkischer Sprache und die damit verbundene
Umgestaltung der Bibliotheksverwaltung zur Erhöhung des Nutzens waren zentrale
Anliegen von Malche. Daneben schlug er Änderungen im Berufungsmodus der
Universitätsprofessoren vor sowie die räumliche Verlegung einzelner Institute. Zur
Verbesserung der Außenwirkung der Universität verlangte er Fortbildungskurse für die
gebildeten Schichten, dachte aber auch an öffentliche Veranstaltungen, die eine breitere
Öffentlichkeit erreichen sollten.
71
Malches Resümee lautete folgendermaßen: ,,Die Lage
ist indessen nicht hoffnungslos. Aber sie ist ernst, das ist alles."
72
Wie schon erwähnt, gab es Gegner in der Professorenschaft, die die Reformen schon
allein deshalb ablehnten, da sie um ihre eigene Stellung fürchten mußten. In Teilen der
Professorenschaft sah man die Mängel, erwartete jedoch eine gemäßigte Reform und
erklärte sich zur Mitarbeit bereit.
73
Nur wenige Professoren waren damit einverstanden,
die eigenen Interessen zurückzustellen und sich voll und ganz für die Reformen
einzusetzen. Schwartz berichtete in seinen Erinnerungen von dem Mathematiker Kerim,
einem Mitglied der Reformkommission, der diese zynisch als den ,,Selbstmordklub
türkischer Hochschullehrer"
74
bezeichnete.
Malches Vorschläge wurden zum größten Teil von der Reformkommission übernommen
und zur Richtschnur ihrer Maßnahmen bei der Neugründung der Universität im Herbst
1933. Trotz der vielen Vorschläge die Malche abgegeben hatte, schien das
Hauptproblem, die Frage des neuen Lehrkörpers im Mai 1933 noch nicht gelöst. Das
Reformgesetz, das am 31. Mai 1933 veröffentlicht wurde, sah die Neugründung für den
1. August 1933 vor. Malches Vorschläge beinhalteten die Berufung von Professoren
aus fast allen westeuropäischen Ländern. Er wollte damit besondere kulturelle und
politische Einflüsse eines einzelnen Staates ausschließen, gab aber selbst zu, daß dieser
71
Ebenda, S, 46/ 47.
72
Zit. n.: Widmann: Exil und Bildungshilfe, S. 47.
73
Ebenda, S. 43.
74
Zit. n.: Peukert: Philipp Schwartz. Notgemeinschaft, S. 44.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1998
ISBN (eBook)
9783832421212
ISBN (Paperback)
9783838621210
Dateigröße
1023 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Hamburg – Geschichtswissenschaft
Note
2,0
Schlagworte
türkei juden nationalsozialismus emigration istanbul
Zurück

Titel: Die Emigration deutscher Wissenschaftler in die Türkei 1933-1945
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
122 Seiten
Cookie-Einstellungen