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Eine Analyse der ökonomischen Rahmenbedingungen der Türkei unter besonderer Berücksichtigung des geplanten EU-Beitritts

©2004 Diplomarbeit 54 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Kaum ein Thema hat in letzter Zeit so oft die Titelseiten der Zeitungen geprägt wie das Thema der EU-Erweiterung. Wer vor anderthalb Jahrzehnten vorausgesagt hat, dass osteuropäische Staaten Vollmitglieder von Nato und EU würden, ist als Phantast belächelt worden. Doch wir schreiben nun das Jahr 2004 und am 1. Mai diesen Jahres wurde die Europäische Union um zehn neue Mitgliedsländer erweitert, nämlich um fünf zentraleuropäische Länder – Polen, Slowakische Republik, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn – drei baltische Länder – Estland, Lettland, Litauen – sowie die beiden Mittelmeerinseln Malta und Zypern. Mit den neuen Mitgliedern festigt die EU ihre Position als zweitstärkste Wirtschaftsmacht der Erde. In der Union leben mit den etwas 74 Millionen neu hinzugekommenen Bürgern nun fast 455 Millionen Menschen – mehr als in den USA und Japan zusammen.
Die Erweiterung der EU kommt nach Überzeugung der Mehrheit jedoch zu früh – zu früh in Bezug auf die Entwicklung der neuen Mitglieder, aber auch zur Unzeit in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Schwächephase einiger bisheriger EU-Mitgliedsländer. In dieser entscheidenden Phase der europäischen Entwicklung ist es riskant, über weitere Beitrittswünsche zu diskutieren, ehe die Bevölkerung Vertrauen gefasst hat, dass die jetzige Erweiterung verkraftet wird und nicht schwerwiegende Risiken für die bisherigen Mitgliedsländer mit sich bringt. Trotz dieser Bedenken führt die Europäische Union zurzeit Beitrittsverhandlungen mit Bulgarien und Rumänien, mit dem Zieldatum für einen Beitritt am 1. Januar 2007. Daneben hat auch die Türkei einen Kandidatenstatus; über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei soll im Dezember 2004 vom Europäischen Rat eine Entscheidung getroffen werden.
Genau dieses Land, die Türkei, hat sich als Staat und Gesellschaft dem Ziel der EU-Mitgliedschaft verschrieben. Energischer als irgendeiner seiner Amtsvorgänger treibt der gemäßigt-islamische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sein Land auf dem Weg in die EU voran. So hat die Türkei zur Erfüllung der Verpflichtungen, einerseits in ihrer Gesetzgebung Reformen durchgeführt, die von unabhängigen Beobachtern als „revolutionär“ bezeichnet werden. Die Regierung hat in nur 14 Monaten mehr innenpolitische Reformen verabschiedet als alle anderen Kabinette zusammen, seit die Türkei 1987 die EU-Aufnahme beantragte. Zugleich besitzt sie auf höchster Ebene den klaren Willen, diese Reformen […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Einführung

Kaum ein Thema hat in letzter Zeit so oft die Titelseiten der Zeitungen geprägt wie das Thema der EU-Erweiterung. Wer vor anderthalb Jahrzehnten vorausgesagt hat, dass osteuropäische Staaten Vollmitglieder von Nato und EU würden, ist als Phantast belächelt worden. Doch wir schreiben nun das Jahr 2004 und am 1. Mai diesen Jahres wurde die Europäische Union um zehn neue Mitgliedsländer erweitert, nämlich um fünf zentraleuropäische Länder – Polen, Slowakische Republik, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn – drei baltische Länder – Estland, Lettland, Litauen – sowie die beiden Mittelmeerinseln Malta und Zypern. Mit den neuen Mitgliedern festigt die EU ihre Position als zweitstärkste Wirtschaftsmacht der Erde. In der Union leben mit den etwas 74 Millionen neu hinzugekommenen Bürgern nun fast 455 Millionen Menschen – mehr als in den USA und Japan zusammen.

Die Erweiterung der EU kommt nach Überzeugung der Mehrheit jedoch zu früh – zu früh in Bezug auf die Entwicklung der neuen Mitglieder, aber auch zur Unzeit in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Schwächephase einiger bisheriger EU-Mitgliedsländer. In dieser entscheidenden Phase der europäischen Entwicklung ist es riskant, über weitere Beitrittswünsche zu diskutieren, ehe die Bevölkerung Vertrauen gefasst hat, dass die jetzige Erweiterung verkraftet wird und nicht schwerwiegende Risiken für die bisherigen Mitgliedsländer mit sich bringt. Trotz dieser Bedenken führt die Europäische Union zurzeit Beitrittsverhandlungen mit Bulgarien und Rumänien, mit dem Zieldatum für einen Beitritt am 1. Januar 2007. Daneben hat auch die Türkei einen Kandidatenstatus; über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei soll im Dezember 2004 vom Europäischen Rat eine Entscheidung getroffen werden.

Genau dieses Land, die Türkei, hat sich als Staat und Gesellschaft dem Ziel der EU-Mitgliedschaft verschrieben. Energischer als irgendeiner seiner Amtsvorgänger treibt der gemäßigt-islamische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sein Land auf dem Weg in die EU voran. So hat die Türkei zur Erfüllung der Verpflichtungen, einerseits in ihrer Gesetzgebung Reformen durchgeführt, die von unabhängigen Beobachtern als „revolutionär“ bezeichnet werden. Die Regierung hat in nur 14 Monaten mehr innenpolitische Reformen verabschiedet als alle anderen Kabinette zusammen, seit die Türkei 1987 die EU-Aufnahme beantragte.[1] Zugleich besitzt sie auf höchster Ebene den klaren Willen, diese Reformen umzusetzen. Ihr Ziel ist es, einen weiteren wichtigen Meilenstein auf dem Weg zur Mitgliedschaft zu erreichen und zum Zwecke eines unverzüglichen Beginns der Verhandlungen das Ihrige auf die bestmögliche Weise rechtzeitig zu erfüllen.[2]

Unterstützt werden die Türken von den USA, die sich aus strategischen Gründen dafür einsetzen, dass die Westbindung des NATO-Partners Türkei durch einen EU-Beitritt weiter gefestigt wird. Das Schwanken Berlins zwischen Distanzierung und Fürsprache illustriert dagegen die ambivalente Haltung der EU gegenüber der Türkei. Zwar erklärte Frankreichs Präsident 1999, „Geschichte und Ambitionen“ machten die Türkei zu einem europäischen Staat, aber letztlich schrecken die meisten EU-Regierungen vor einer tatsächlichen „Eingemeindung“ zurück. Sie erkennen zwar den strategischen Sicherheitsgewinn einer nach Europa hin orientierten Türkei an, haben aber Mühe mit der Vorstellung einer EU-Mitgliedschaft dieses Landes jenseits des Bosporus. Die einen haben christlich-abendländische Vorbehalte gegenüber einem muslimischen Mitgliedsstaat. Andere sehen in den Tiefen Anatoliens ein bodenloses Fass für endlose Transferzahlungen aus den EU-Kohäsionsfonds.[3]

Er sei „sehr gute Hoffnung“, dass die Regierung in Ankara die Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU bis Ende des Jahres erfüllen werde, sagte dagegen Gerhard Schröder am 24.2.2004 bei seinem Besuch bei Recep Tayyip Erdogan in der Türkei. Zum Abschluss des zweitägigen Gipfeltreffens der Nato in Istanbul am 27. und 28. Juni sagte Schröder, das „selbstbewusste und nicht überhebliche Auftreten der Gastgeber und die gelungene Selbstdarstellung der Türkei als modernes Land hätten bei einigen Mitgliedstaaten ihre Wirkung sicher nicht verfehlt“. Deutschland sei für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen“.[4] EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen unterstützt das Werben Schröders für eine Mitgliedschaft der Türkei. „Dahinter steckt eine große strategische Überlegung“, die von allen europäischen Regierungschefs geteilt werde, sagte Verheugen im Deutschlandfunk. „Nämlich, dass es für die politische und wirtschaftliche Sicherheit Europas in Zukunft von zentraler Bedeutung sein kann, ein Land wie die Türkei als einen festen und stabilen Partner zu haben“. Er lässt kaum Zweifel daran, dass die Kommission, so es nach ihm geht, für die Aufnahme von Verhandlungen in absehbarer Zeit plädieren wird.[5]

Der Vorsitzende des Bundestags-Europaausschusses, Matthias Wissmann (CDU), warf Schröder dagegen vorschnelle Äußerungen vor. „Ich kann dem Bundeskanzler nur raten, die Erwartungen, die in der Türkei bestehen, zu dämpfen und sie nicht anzuheizen“, sagte Wissmann der „Leipziger Zeitung“.[6] Die „Welt“ berichtet, eine Mitgliedschaft der Türkei, wäre teurer als die gesamte Osterweiterung. Sie würde den Haushalt des Staatenbündnisses zum Kollabieren bringen. Deutschland als größte Volkswirtschaft der EU müsste demnach knapp 22% dieser zusätzlichen Belastungen schultern. Das wären mehr als 3 Mrd. EUR pro Jahr, die Berlin nach Brüssel zusätzlich überweisen müsste, berichtet „Die Welt“. Und Edmund Stoiber warnt in Interviews, mit einem Staat wie der Türkei, „die einen ganz anderen gesellschaftlichen Hintergrund hat, sprenge man die politische Union“, die Integrationsfähigkeit werde überfordert und eine europäische Vision mit diesem „Erweiterungswahn“ zerstört.[7]

2. Ziel und Inhalt der Arbeit

Zweifellos gibt es Spielregeln und diese sind bekannt. Auf dem Europäischen Rat im Dezember 2004 ist es nicht die Türkei, die entscheiden wird, sondern es sind die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten. Da das Resultat dieser Entscheidung uns alle betreffen wird, liegt es auf der Hand, dass dieses Thema in der Türkei und auch in den EU-Ländern, insbesondere in dem führenden EU-Mitgliedsland Deutschland, mit dem die Türkei rege und vielseitige Beziehungen unterhält, im Mittelpunkt einer lebhaften Diskussion steht und stehen wird.

Aus dieser Situation heraus ergeben sich zwei zentrale Problemstellungen, die das weitere Vorgehen der türkischen Regierung bis zum besagten Termin bestimmen werden:

- Die Erfüllung der politischen Kriterien: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Minderheitenschutz und die Zypern-Politik.
- Die Erfüllung der wirtschaftlichen Kriterien: Funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten.

Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt in der Analyse der ökonomischen Rahmenbedingungen unter besonderer Berücksichtigung des geplanten türkischen EU-Beitritts. Die politischen und kulturellen Kriterien finden aufgrund der Themenstellung in dem Maße Beachtung, insoweit sie die Erfüllung der wirtschaftlichen Kriterien beeinflussen. Die Debatte über die EU-Beitrittsperspektive der Türkei erfolgt kontrovers anhand verschiedener Argumentationslinien. Zentrale Fragen sind vor allem, wie die europäische Identität zu bestimmen ist und ob die Türkei grundsätzlich der EU beitreten sollte. Beide Aspekte werden in dieser Arbeit nicht behandelt. Die zentrale Aufgabenstellung dieser Arbeit liegt vielmehr in der Untersuchung der ökonomischen Rahmenbedingungen und Beitrittskriterien (Kopenhagen-Kriterien) der Türkei und deren Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und den geplanten EU-Beitritt. Zu beachten sind dabei zum einen eine funktionsfähige Marktwirtschaft, sowie die Wettbewerbsfähigkeit im Binnenmarkt. Unter diesen Gesichtspunkten werden Ursachen und Konsequenzen der Wirtschafts- und Finanzkrise Ende 2000 und Anfang 2001 erläutert. Dabei wird die aktuelle Situation der türkischen Finanzmärkte unter besonderer Berücksichtigung des geplanten EU-Beitritts bewertet und wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Beseitigung ökonomischer Beschränkungen hinsichtlich der geplanten Beitrittsverhandlungen erarbeitet. Abschließend gilt es die Frage zu diskutieren, inwieweit die Türkei die Fähigkeit besitzt bis Ende 2004 diese Kriterien zu erfüllen und ein Ausblick bzw. eine Prognose für die weitere Entwicklungen der ökonomischen Rahmenbedingungen dieses Landes werden gemacht.

3. Historischer Hintergrund

Die Beziehungen der Türkei und der EU entwickeln sich nicht im leeren Raum, sondern in einem vertraglich vereinbarten Rahmen. Mit ihrem offiziellen Antrag am 31. Juli 1959 auf Assoziierung mit der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hat die Türkei bereits vor über 43 Jahren die Basis für eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union (EU) gelegt. Mit der Unterzeichnung des Assoziationsabkommens am 12. September 1963 – dem Ankara-Abkommen - ist die Türkei seit dem 1. Dezember 1964 assoziiertes Mitglied der EU.

Das Abkommen enthält in Art. 28 bereits eine Beitrittsperspektive: „Sobald das Funktionieren des Abkommens es in Aussicht zu nehmen gestattet, dass die Türkei die Verpflichtungen aus dem Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft vollständig übernimmt, werden die Vertragsparteien die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft prüfen.“[8] Dieses Abkommen hatte zum Ziel, die Türkei und die EWG sukzessive – zuerst durch die Schaffung einer Zollunion bis hin zu dem Endziel einer Vollmitgliedschaft – näher zu bringen. Das Zusatzprotokoll vom 13. November 1970 stellte einen weiteren Schritt in Richtung Zollunion dar. Es beinhaltete eine detaillierte Aufbauskizze dieser Zollunion. Neben der beidseitigen Abschaffung der Zölle sollte sich die Türkei nun zudem um eine Harmonisierung der Gesetze mit dem EG-Recht bemühen. Nach 23 Jahren Assoziation mit der Gemeinschaft stellte die türkische Regierung am 14. April 1987 einen Antrag auf den EU-Beitritt, der aber im Dezember 1989 vorerst abgelehnt wurde.[9] Doch mit Beschluss des Assoziationsrates EG - Türkei vom Dezember 1995 wurde auf der Grundlage des Assoziationsabkommens mit der Türkei eine Zollunion begründet. Auch bekräftigte der Europäische Rat am 13. Dezember 1997 auf dem EU-Gipfel in Luxemburg die Beitrittsperspektive des Assoziierungsabkommens und stellt ausdrücklich fest, dass die Türkei für einen Beitritt zur Europäischen Union in Frage kommt.[10]

Nach knapp 2 Jahren folgte dann auf dem EU-Gipfel in Helsinki am 11. Dezember 1999 der offizielle Status des Beitrittskandidaten. Entscheidend für den Meinungsumschwung in der EU waren deutliche Reformsignale der Regierung unter Ministerpräsident Bülent Ecevit, die verbesserten nachbarschaftlichen Beziehungen zu Griechenland sowie die Befürwortung eines EU-Beitritts durch die amerikanische Regierung. Mit der Anerkennung der Türkei als Beitrittskandidat ist dem Land nach langjähriger Zusammenarbeit mit der EU ein weiterer bedeutender Schritt auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft gelungen. Auf dem Kopenhagener EU-Gipfel am 13. Dezember 2002 wurde der Türkei, im Gegensatz zu dessen Erwartungen, dann aber kein festes Datum für den Beginn des Beitrittsverhandlung genannt, welches insbesondere von EU-Ländern wie England, Italien, Spanien und Griechenland sowie vom Nato-Verbündeten, den Vereinigten Staaten von Amerika gefordert wurde.

Nach dem EU-Kompromiss soll die Türkei hinsichtlich politischer und wirtschaftlicher Reformen Ende 2004 abermals bewertet werden und der Europäische Rat soll auf der Grundlage eines weiteren Berichts über die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien und einer Empfehlung der Kommission über den Beginn von Beitrittsverhandlungen entscheiden. Diese Vereinbarungen waren die politische Entscheidung darüber, dass der in Art. 49 EU-Vertrag verwandte Begriff des „europäischen Staates“ nicht von kulturellen, religiösen, historischen oder geographischen Aspekten abhängig ist, sondern von der Bereitschaft zur aktiven Wahrnehmung der Grundsätze und Grundwerte der EU.

Doch was beinhaltet die die Türkei betreffende Entscheidung auf dem Gipfeltreffen der EU im Dezember 2004 eigentlich?

Wenn man sich dem Datum Dezember 2004 auf dieser vertraglichen und historischen Grundlage nähert, so sollte man sich im Klaren sein, welche Bedeutung die zu treffende Entscheidung haben wird und welche nicht. Es ist zu beobachten, dass die gegenwärtig verkündeten Botschaften einiger politischer Persönlichkeiten und Meinungsmacher des öffentlichen Lebens, leicht so aufgefasst werden können, als wäre die Entscheidung im Dezember zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gleichbedeutend mit einer EU-Mitgliedschaft der Türkei. Doch bis zur eventuellen Vollmitgliedschaft der Türkei wird noch einige Zeit vergehen. Die Entscheidung darüber wird erst dann von den Parlamenten der einzelnen EU-Mitgliedsländer und vom EU-Parlament einerseits und dem Parlament der Türkei andererseits getroffen, wenn sämtliche Kriterien in dem noch einzuleitenden Verhandlungsprozess erfüllt sind. Mit anderen Worten, das „Ja“ zur Türkei im Dezember 2004 wird nicht die Mitgliedschaft zur Folge haben, sondern lediglich die großen aufgewendeten Energien der Türkei zur Angleichung an die politischen Normen der EU und den an den Tag gelegten starken Willen sowie die erzielten Erfolge anerkennen und würdigen. Diese Vereinbarungen werden im Grunde dafür sorgen, dass die Beziehungen im vertraglichen Rahmen bleiben.[11]

4. Analyse der ökonomischen Rahmenbedingungen

Die Bereitschaft der EU, neue Mitglieder aufzunehmen, wurde mit einem Katalog von Bedingungen – den so genannten Kopenhagener Kriterien – verknüpft, die von Seiten der beitrittswilligen Staaten als Voraussetzung für den Beitritt zu erfüllen sind. Dies beinhaltet politische Kriterien wie eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten. Es erfordert aber auch wirtschaftliche Kriterien wie eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten.

Der Werdegang der Beziehungen zwischen den Beitrittsländern und der EU und der Fortschritt der Aspiranten auf dem Weg zum Beitritt werden seit November 1998 in einem regelmäßig erstellten Bericht der Europäischen Kommission ausführlich bewertet. Dieser Bericht, auch Fortschrittsbericht genannt, ist gemäß den oben genannten Kopenhagener Kriterien gegliedert. Da sich diese Arbeit mit den wirtschaftlichen Aspekten des Beitritts der Türke zur EU befasst, werden im Folgenden hauptsächlich die wirtschaftlichen Kriterien erörtert.

4.1. Funktionsfähige Marktwirtschaft

4.1.1. Reformtempo

Unter dem Eindruck der schweren Finanzkrise im Winter 2000/2001 wurde von der türkischen Regierung im Mai 2001 ein neues Stabilisierungsprogramm formuliert, dass stärker auf die fundamentalen Strukturprobleme der türkischen Wirtschaft fokussiert ist. Im Mittelpunkt der Reformziele stehen insbesondere die Restrukturierung des öffentlichen Sektors und des Bankwesens sowie Liberalisierungsmaßnahmen, die die Basis für ein von der Privatwirtschaft getriebenes Wirtschaftswachstum bilden sollen. Das neue Reformprogramm schließt die formale Vorgabe eines Inflationsziel und dessen Kontrolle durch eine unabhängige Zentralbank ein.[12] Gesetze zur Förderung von Auslandsinvestitionen, der Abbau administrativer Hemmnisse für ausländische Investoren, erhöhte Transparenz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, ein verstärkter Kampf gegen die Korruption, eine Insolvenzgesetzgebung, eine Steuerreform sowie der Abbau überzähliger Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor sind weitere Ziele.

Dem laufenden Reformprogramm gingen mit dem Mitte 1998 aufgelegten Antiinflationsprogramm und dem im Dezember 1999 definierten dreijährigen Antiinflations- und Strukturanpassungsprogramm zwei wesentliche Reformpakete voran, die jedoch aufgrund der fehlenden Umsetzung wichtiger Teilbereiche (u.a. Schaffung einer Gesetzesgrundlage zur Privatisierung im Telekommunikations- und Energiesektor, Strukturreform der Sozialversicherung, Schaffung einer unabhängigen Bankenaufsicht), politischer Unsicherheiten sowie ökonomischer Instabilitäten (u.a. Russlandkrise 1998, außenwirtschaftliches Ungleichgewicht sowie daraus resultierende starke Wechselkurseinbrüche) scheiterten.

Nachdem die im November 2002 im Rahmen von vorzeitigen Wahlen mit starker parlamentarischer Mehrheit gebildete Einparteienregierung das Reformtempo infolge einer vorrangigen Konzentration auf politische Reformen und die Irakkrise zunächst spürbar gedrosselt hatte, nahm sie den Reformkurs auf der Grundlage des von der Vorgängerregierung konzipierten Reformprogramms zwischenzeitlich wieder auf. Die Reformanstrengungen der Regierung, die entsprechend den Kopenhagener Kriterien für eine funktionierende Marktwirtschaft vor allem auf die Preis- und Außenhandelsliberalisierung, auf der Grundlage eines durchsetzbaren Rechtssystems, sowie auf die Entwicklung des Finanzsektors und die weitgehende Eliminierung von Markteintritts- und Marktaustrittsbarrieren gerichtet sind, werden vom IWF und von der Weltbank technisch und finanziell begleitet. Am 1. August 2003 genehmigte der IWF die Auszahlung der fünften Tranche der laufenden Bereitschaftskreditvereinbarungen, die im Februar 2002 über einen Gesamtbetrag von ca. 16 Mrd. USD (12,8 Mrd. Sonderziehungsrecht) abgeschlossen war, in Höhe von ca. 420 Mio. EUR.[13]

Der türkische Ministerpräsident äußerte sich mit den Worten: „Unser Wille, strukturelle Reformen mit Entschiedenheit fortzuführen, ist vollkommen.“ Der Reformprozess in seinem Land sei unumkehrbar. Als Beleg dafür zog er eine Umfrage heran. Nach der seien die größten Erwartungen der Türken an die Mitgliedschaft in der EU, „in einem demokratischen Land zu leben, in dem die Menschenrechte geachtet werden“. Das türkische Volk nehme die EU „nunmehr in ihrer eigentlichen Bedeutung und Zielsetzung wahr und bekennt sich dazu“, sagte Erdogan.[14]

4.1.2. Privatisierungsinitiativen

Wie man weiß, stellt die Privatisierung heute eines der wichtigsten wirtschaftspolitischen Instrumente für ein liberales Wirtschaftssystem dar. In den 80er Jahren hat die Türkei den Entschluss gefasst, den Staatseinfluss im Bereich der Wirtschaft einzuschränken und staatliche Unternehmen zu privatisieren.[15] Doch nach diesem vergleichsweise frühen Beginn des Privatisierungsprozesses im Jahr 1985 ist die Türkei mittlerweile deutlich hinter Staaten mit einer ähnlich wirtschaftlichen Ausgangssituation in Mittel- und Südamerika (Argentinien, Chile, Mexiko) und in Mittel- und Osteuropa (Tschechien, Ungarn, Polen) zurückgefallen.

Targets of the privatization Program:

- to minimize state involvement in the industrial and commercial activities in the economy
- to provide legal and structural environment for free enterprise to operate
- to decrease the financial burden of State Economic Enterprises on the national budget
- to transfer privatization revenues to the major infrastructure projects
- to expand and deepen the existing capital market by promoting wider share ownership
- to provide efficient allocation of resources.[16]

Mit Ausnahme des Jahres 2000, als der Verkauf eines Mehrheitsanteils an dem Ölunternehmen POAS und einer dritten GSM-Mobilfunklizenz die Privatisierungserlöse über die Marke von 5 Mrd. USD trieben, lagen die Privatisierungseinnahmen seit 1990 regelmäßig unter den Erwartungen von rund 1 Mrd. USD per annum. Der öffentliche Sektor nimmt nach wie vor einen Anteil von rund 20 % an der Wertschöpfung ein. Als Folge des insgesamt enttäuschenden Privatisierungsverlaufs konnten bislang noch keine signifikanten Kapitalzuflüsse aus dem Ausland angeworben werden.

Zurzeit läuft der Privatisierungsprozess in der Türkei auf verschiedenen Ebenen ab. Das wichtigste Instrument für die Privatisierung der Staatsunternehmen ist die staatliche Privatisierungsinstitution ÖIB. Daneben wurden Privatisierungen in einigen Sektoren auch durch spezifische Gesetze geregelt und werden von verschiedenen Behörden bzw. Kommissionen organisiert. Dementsprechend wird z. B. die Privatisierung der Türkischen Telekom und die Ausschreibung der oben angeführten Vergabe von GSM-Lizenzen von speziell zu diesem Zweck gegründeten, gesonderten Kommissionen durchgeführt. Für 2,5 Mrd. USD wurde auf diesem Weg eine Lizenz an das Is Bankasi-Telecom Italia Konsortium, die Fusion der türkischen Isbank mit der Telecom Italien, verkauft. Die Privatisierung der staatlichen Banken unterliegt ähnlichen, speziellen Bestimmungen.

[...]


[1] Vgl. Schröder macht den Türken Mut, in: Handelsblatt v. 24.02.2004, S. 2.

[2] Vgl. Irtemcelik, Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU, v. 17.10.2003, S. 1.

[3] Vgl. EU muss ihr Verhältnis zur Türkei klären, in Börsen-Zeitung v. 01.11.2002, S.6.

[4] Chirac: Weg der Türkei in die Union ist unumkehrbar, in: FAZ v. 29.06.2004, S. 3.

[5] Vgl. Klau, Kommentar: Die türkische Frage, in: ftd v. 01.06.2004

[6] Schröder hält an Türkei-Kurs fest, in: ftd v. 24.02.2004

[7] Schröder-Reise heizt Türkei-Streit an, in: RP ONLINE v. 22.02.2004

[8] Auswärtiges Amt, Beziehungen EU – Türkei, www.auswaertiges-amt.de v. 08.01.2004

[9] Vgl. Belke/Terzibas, Die Integrationsbemühungen der Türkei aus ökonomischer Sicht, in: Diskussionspapiere aus dem Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Hohenheim, Nr. 230, S. 4,5.

[10] Vgl. Auswärtiges Amt, Beziehungen EU – Türkei, www.auswaertiges-amt.de v. 08.01.2004

[11] Vgl. Irtemcelik, Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU, v. 17.10.2003, S. 1

[12] Vgl. zu den Reformprogrammen Schulz/Siegfried, EU-Beitrittskandidat Türkei, Mai 2003, S. 2ff.

[13] Vgl. Quaisser/Reppegather, EU-Beitrittsreife der Türkei und die Konsequenzen einer EU-Mitgliedschaft, in: Working Papers Nr. 252 v. Januar 2004, S. 10.

[14] Schröder: Türkei ist auf gutem Weg in die EU, in: FAZ v. 27.04.2004, S.5.

[15] Vgl. Tekin, 20 Jahre Privatisierung in der Türkei, in: TU International 54, v. August 2003, S. 41.

[16] Republic Of Turkey Prime Ministry Privatization Administration 2003, www.oib.gov

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2004
ISBN (eBook)
9783832417062
ISBN (Paperback)
9783838617060
DOI
10.3239/9783832417062
Dateigröße
636 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Duale Hochschule Baden-Württemberg, Villingen-Schwenningen, früher: Berufsakademie Villingen-Schwenningen – Wirtschaft
Erscheinungsdatum
2004 (Dezember)
Note
2,2
Schlagworte
marktwirtschaft binnenmarkt bankensystem außenhandel wirtschaftssituation
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