Skeptizismus und Moderne - Zur Rezeption der Moralphilosophie David Humes in den Federalist Papers
Eine Untersuchung zum Verhältnis von Tugend und Institutionen
©1998
Magisterarbeit
103 Seiten
Zusammenfassung
Inhaltsangabe:Einleitung:
Was ist Tugend? Der Gegenbegriff zu Laster. Dieser moralische Sinn wurde dem Wort aber erst unter dem Einfluss des christlichen Weltbildes beigelegt. Ursprünglich, und das ist für das deutsche Wort Tugend der westgermanische Sprachraum, bedeutete es "Tauglichkeit, Kraft, Vortrefflichkeit". Die gleiche Bedeutung hatten die Wörter arete und virtus, wobei sich von letzterem sowohl der unpolitische "Virtuose" als auch das politische "Triumvirat" herleiten. Virtus wiederum ist von vir (= der Mann) abgeleitet, so dass ein Triumvirat nur das politische Bündnis dreier vortrefflicher Männer sein kann.
Im heutigen englischen Wort virtue ist die ursprüngliche Bedeutung teils konserviert, jedoch angereichert um die sexuelle Konnotation "Keuschheit", was auf einen tiefgreifenden Wandel des Tugendbegriffes verweist. Es wird aber auch deutlich, dass weder das Wort selbst noch seine ursprüngliche Bedeutung aufgegeben wurden. Es wurde nur modifiziert und in die jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit - des Mittelalters, der Neuzeit etc. - übersetzt.
Noch in der englischen Restaurationsphase nach der Glorious Revolution sowie in der amerikanischen Verfassungsdebatte am Ende des 18. Jahrhunderts wurde virtue ganz selbstverständlich als politischer Begriff gebraucht.
Am Ende des 20. Jahrhunderts hat das Wort Tugend einen eigentümlich alteuropäischen Klang. Tugend gilt nicht mehr als politischer Begriff, Keuschheit ist als "Wert an sich" weitgehend aus der Mode gekommen, und auch die preußischen Sekundärtugenden sind vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte eher suspekt geworden. Nur von moralphilosophischer Seite wird konstatiert, dass die "moralische Krise der Gegenwart" auf den "Verlust der Tugend" zurückzuführen sei.
Schon diese wenigen Sätze verdeutlichen sowohl das ehrwürdige Alter als auch das Schillernde dieses Begriffes sowie die Tatsache, dass Begriffe dank ihrer stetigen Übersetzung sehr viel länger in Gebrauch sind als die historische und politische Konstellation dauert, in der sie entstehen. Das schlagende Beispiel in dieser Hinsicht ist natürlich die aristotelische Begriffssprache, "die nie darin aufging, eine jeweils einmalige Wirklichkeit widerzuspiegeln. Kraft ihrer elastischen Binnensystematik, die unterschiedlichste Aspekte freigibt, diente sie in Wiederholung und Anpassung, Wirklichkeitsbefunde zu erheben, kritisch zu sichten und rechtlich zu ordnen, immer dabei Macht und Einfluss der sozial verschieden situierten […]
Was ist Tugend? Der Gegenbegriff zu Laster. Dieser moralische Sinn wurde dem Wort aber erst unter dem Einfluss des christlichen Weltbildes beigelegt. Ursprünglich, und das ist für das deutsche Wort Tugend der westgermanische Sprachraum, bedeutete es "Tauglichkeit, Kraft, Vortrefflichkeit". Die gleiche Bedeutung hatten die Wörter arete und virtus, wobei sich von letzterem sowohl der unpolitische "Virtuose" als auch das politische "Triumvirat" herleiten. Virtus wiederum ist von vir (= der Mann) abgeleitet, so dass ein Triumvirat nur das politische Bündnis dreier vortrefflicher Männer sein kann.
Im heutigen englischen Wort virtue ist die ursprüngliche Bedeutung teils konserviert, jedoch angereichert um die sexuelle Konnotation "Keuschheit", was auf einen tiefgreifenden Wandel des Tugendbegriffes verweist. Es wird aber auch deutlich, dass weder das Wort selbst noch seine ursprüngliche Bedeutung aufgegeben wurden. Es wurde nur modifiziert und in die jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit - des Mittelalters, der Neuzeit etc. - übersetzt.
Noch in der englischen Restaurationsphase nach der Glorious Revolution sowie in der amerikanischen Verfassungsdebatte am Ende des 18. Jahrhunderts wurde virtue ganz selbstverständlich als politischer Begriff gebraucht.
Am Ende des 20. Jahrhunderts hat das Wort Tugend einen eigentümlich alteuropäischen Klang. Tugend gilt nicht mehr als politischer Begriff, Keuschheit ist als "Wert an sich" weitgehend aus der Mode gekommen, und auch die preußischen Sekundärtugenden sind vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte eher suspekt geworden. Nur von moralphilosophischer Seite wird konstatiert, dass die "moralische Krise der Gegenwart" auf den "Verlust der Tugend" zurückzuführen sei.
Schon diese wenigen Sätze verdeutlichen sowohl das ehrwürdige Alter als auch das Schillernde dieses Begriffes sowie die Tatsache, dass Begriffe dank ihrer stetigen Übersetzung sehr viel länger in Gebrauch sind als die historische und politische Konstellation dauert, in der sie entstehen. Das schlagende Beispiel in dieser Hinsicht ist natürlich die aristotelische Begriffssprache, "die nie darin aufging, eine jeweils einmalige Wirklichkeit widerzuspiegeln. Kraft ihrer elastischen Binnensystematik, die unterschiedlichste Aspekte freigibt, diente sie in Wiederholung und Anpassung, Wirklichkeitsbefunde zu erheben, kritisch zu sichten und rechtlich zu ordnen, immer dabei Macht und Einfluss der sozial verschieden situierten […]
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Drews, Franziska: Skeptizismus und Moderne - Zur Rezeption der Moralphilosophie David
Humes in den Federalist Papers: Eine Untersuchung zum Verhältnis von Tugend und
Institutionen / Franziska Drews.- Hamburg: Diplomarbeiten Agentur, 1999
Zugl.: Dresden, Univ., Magister., 1998
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Dipl. Kfm. Dipl. Hdl. Björn Bedey, Dipl. Wi.-Ing. Martin Haschke & Guido Meyer GbR
Diplomarbeiten Agentur, http://www.diplom.de, Hamburg 1999
Printed in Germany
TECHNISCHE UNIVERSITÄT DRESDEN
Philosophische Fakultät
Institut für Politikwissenschaft
Magisterarbeit
zum Thema:
Skeptizismus und Moderne
zur Rezeption der Moralphilosophie David Humes
in den Federalist Papers.
Eine Untersuchung zum Verhältnis
von Tugend und Institutionen
eingereicht von:
Franziska Drews
Wittenberger Straße 4
01309 Dresden
Mat.-Nr. 2284379
11. Fachsemester
Hauptfach:
Politikwissenschaft
Nebenfächer:
Philosophie
Kommunikationswissenschaft
Gutachter:
1. Prof. Dr. Hans Vorländer
2. Prof. Dr. Thomas Rentsch
Dresden, den 18. Dezember 1998
Inhalt
Einführung
1
1
Die Rehabilitation der Sinnlichkeit und die Tugend
6
1.1
Zu Kontext und Struktur von Normbegründung
in der abendländischen philosophischen Tradition
6
1.2
Eudaimonia oder Apatheia? Tugendlehren der Antike
7
1.2.1 Aristoteles
7
1.2.2 Die Stoa
12
1.3
Neostoizismus, Rationalismus und Aufklärung
19
1.3.1 Zur Bedeutung des Neostoizismus für den neuzeitlichen Tugendbegriff
19
1.3.2 Natur und Naturmodell
21
1.3.3 Vernunft als Funktion
23
1.3.4 Die Theorie des modernen Staates und die Institutionalisierung der Tugend
27
2
Glück oder Tugend die moralphilosophische Frage
32
2.1
Zum historischen Kontext der Philosophie David Humes
32
2.1.1 Religiöse und politische Konfliktlinien in Schottland
nach der Glorious Revolution
32
2.1.2 Die finanzielle Revolution und der britische Tugend-Diskurs
an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert
34
2.2
Zur Moralphilosophie David Humes
37
2.2.1 Humes philosophischer Ausgangspunkt
37
2.2.2 Erkenntnistheoretische Grundbegriffe perceptions, impressions und ideas
39
2.2.3 Kausalität als Gewohnheit
41
2.2.4 Naturwissenschaft als Metaphysik
43
2.2.5 Of the passions eine Theorie der Gefühle
46
2.2.6 Egoismus und Sympathie
48
2.2.7 Tatsachen und Werte - die Sein-Sollen-Dichotomie
53
2.2.8 Natürliche und künstliche Tugenden
56
2.2.9 Tugend und Interessen
58
2.3
Zur politischen Philosophie David Humes
61
2.3.1 Ursprünge in Wäldern und Wüsten - Gesellschaft als Prozess
61
2.3.2 Das Spannungsverhältnis von Autorität und Freiheit
66
2.3.3 Die Idee einer vollkommenen Republik
67
3
Tugend und Institutionalisierung -
zur Rezeption der Philosophie David Humes in den Federalist Papers
70
3.1
Pursuit of happiness und der Ort der Tugend
70
3.2
Politische Klugheit als Prämisse factions, refinement und
die Frage nach der ,,richtigen" Größe der neuen Republik
72
3.3
Novus ordo saeclorum - eine Gründung vor aller Augen
78
Zusammenfassung
84
Abkürzungsverzeichnis
89
Literaturverzeichnis
90
1
That Reason, Passion, answer one great Aim;
That true Self-Love and Social are the same;
That Virtue only makes our Bliss below;
And all our Knowledge is, Ourselves to know.
(Alexander Pope, 1733)
Einführung
Was ist Tugend? Der Gegenbegriff zu Laster. Dieser moralische Sinn wurde dem Wort
aber erst unter dem Einfluss des christlichen Weltbildes beigelegt. Ursprünglich, und das
ist für das deutsche Wort Tugend der westgermanische Sprachraum, bedeutete es ,,Taug-
lichkeit, Kraft, Vortrefflichkeit" (Duden, 1995, 762). Die gleiche Bedeutung hatten die
Wörter arete und virtus, wobei sich von letzterem sowohl der unpolitische ,,Virtuose" als
auch das politische ,,Triumvirat" herleiten (Wittstock, 1979, 169; 177). Virtus wiederum ist
von vir (= der Mann) abgeleitet, so dass ein Triumvirat nur das politische Bündnis dreier
vortrefflicher Männer sein kann.
Im heutigen englischen Wort virtue ist die ursprüngliche Bedeutung teils konserviert,
jedoch angereichert um die sexuelle Konnotation ,,Keuschheit", was auf einen tiefgreifen-
den Wandel des Tugendbegriffes verweist. Es wird aber auch deutlich, dass weder das
Wort selbst noch seine ursprüngliche Bedeutung aufgegeben wurden. Es wurde nur modi-
fiziert und in die jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit - des Mittelalters, der Neuzeit etc.
- übersetzt.
Noch in der englischen Restaurationsphase nach der Glorious Revolution sowie in der
amerikanischen Verfassungsdebatte am Ende des 18. Jahrhunderts wurde virtue ganz
selbstverständlich als politischer Begriff gebraucht.
Am Ende des 20. Jahrhunderts hat das Wort Tugend einen eigentümlich alteuropäischen
Klang. Tugend gilt nicht mehr als politischer Begriff, Keuschheit ist als ,,Wert an sich"
weitgehend aus der Mode gekommen, und auch die preußischen Sekundärtugenden sind
vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte eher suspekt geworden. Nur von moralphilo-
sophischer Seite wird konstatiert, dass die ,,moralische Krise der Gegenwart" auf den
,,Verlust der Tugend" (MacIntyre, 1987) zurückzuführen sei.
Schon diese wenigen Sätze verdeutlichen sowohl das ehrwürdige Alter als auch das
Schillernde dieses Begriffes sowie die Tatsache, dass Begriffe dank ihrer stetigen Überset-
zung sehr viel länger in Gebrauch sind als die historische und politische Konstellation
2
dauert, in der sie entstehen. Das schlagende Beispiel in dieser Hinsicht ist natürlich die
aristotelische Begriffssprache, ,,die nie darin aufging, eine jeweils einmalige Wirklichkeit
widerzuspiegeln. Kraft ihrer elastischen Binnensystematik, die unterschiedlichste Aspekte
freigibt, diente sie in Wiederholung und Anpassung, Wirklichkeitsbefunde zu erheben,
kritisch zu sichten und rechtlich zu ordnen, immer dabei Macht und Einfluss der sozial
verschieden situierten Menschen im Auge behaltend" (Koselleck, 1994, 20f). Allein der
Sprachgebrauch legt also historische Kontinuitäten nahe, wo möglicherweise lediglich
strukturelle Gemeinsamkeiten bestehen, und Verluste da, wo es sich möglicherweise nur
um den unvermeidlichen Wandel ,,in der Zeit" handelt. Das liegt - wie im obigen Zitat
bereits angedeutet - nicht zuletzt an der Verbindung von Sprachgebrauch und Macht. Dies
ist gerade auch bei philosophischen Grundbegriffen der Fall, obwohl sie auf den ersten
Blick eher unpolitischen, ja geradezu ahistorischen Charakter zu haben scheinen.
Analysiert man philosophische Begriffe jedoch kontextuell, d. h. im Hinblick auf ihren
Status innerhalb eines ganzen Begriffsnetzes, zeigen sich Denkstrukturen, die ihrerseits
Weltbilder gerieren oder, um mit Heidegger zu sprechen, die Frage nach dem Sinn von
Sein aufwerfen (und beantworten sollen).
Die vorliegende Magisterarbeit ist ein Versuch, den Tugendbegriff solchermaßen
kontextuell zu untersuchen und zwar unter der leitenden Fragestellung, weshalb dieser aus
der griechischen Philosophie stammende Begriff, der über Jahrhunderte als Bindeglied bei
der Verknüpfung von Seins- und Wertfrage fungiert hatte, in der Neuzeit dieser Binde-
gliedfunktion nicht länger gerecht wurde, sich in der Philosophie der Aufklärung endgültig
in einen öffentlichen das public good betreffenden - und in einen privaten Aspekt spaltete
und in seiner Bedeutung als politischer Begriff allmählich ausgehöhlt wurde.
Diesen Vorgang, der sich aus vielen, zum Teil sehr verwickelten Theoriesträngen zusam-
mensetzt, sehe ich jedoch nicht als ,,Verlustgeschichte", sondern eingebettet in eine
allmähliche Verschiebung eines ganzen Begriffsnetzes, die die Struktur eines
Paradigmenwechsels hat (Vgl. Kuhn, 1993, 115). Folgt man Kondylis, handelt es sich
dabei um die ,,Rehabilitation der Sinnlichkeit" (Kondylis, 1986, 42) in Form der
Entdeckung des Menschen als Naturwesen und der ontologischen Aufwertung der Natur
als dem Menschen würdiger Erkenntnisgegenstand. Damit löste der Naturbegriff Gott als
summum bonum ab, was im Zusammenhang mit dem sog. Verlust der Transzendenz zu
sehen ist, den man kurz gefaßt als Verlust der Heilsgewissheit, der certitudo salutis, im
Gefolge der Reformation und als Verlust der Wahrheitsgewissheit als Folge der Begrün-
3
dung des heliozentrischen Weltbildes charakterisieren kann und der den Beginn der Neu-
zeit markiert (Vgl. Arendt, 1992, 267 277).
Natürlich ist es im Rahmen einer Magisterarbeit nicht möglich, eine Kontextanalyse zu
leisten, die zumindest alle wichtigen philosophischen Theorien der Neuzeit hinsichtlich des
Status ihrer jeweiligen Tugendbegriffe innerhalb der Theorie zu untersuchen hätte, um die
Strukturen des o. g. Paradigmenwechsels aufzuzeigen. Vielmehr kann nur ein kleiner
Ausschnitt dieses umfassenden Vorganges untersucht werden. Die Grundlage hierfür
sollen folgende Thesen bilden:
1.
Tugendbegriffe erfüllen ihre Funktion als Bindeglied bei der Verflechtung von
Seins- und Wertfrage, solange sie die Verbindung zwischen dem jeweiligen Menschenbild
der Anthropologie und der Ontologie herstellen, so daß hieraus Normen abgeleitet
werden können. Sie haben den Charakter von Leitideen, aus denen Handlungsanweisungen
(beispielsweise in Form der vier Kardinaltugenden) für ein gelingendes eben tugendhaf-
tes Leben abgeleitet werden. Daher müssen Tugendbegriffe in beiden Sphären verortet
sein, im Sein und im Sollen.
2.
Ändert sich der Inhalt der Ontologie (wie es zu Beginn der Neuzeit geschah) oder
trennt man Sein und Sollen - wie David Hume es in seiner Philosophie tat und damit dem
Skeptizismus der Moderne die theoretische Basis schuf , ,,hängt" der Tugendbegriff mit
einem Ende quasi in der Luft und muß neu verortet werden, soll er seiner Bindeglied-
funktion weiterhin gerecht werden. Dies kann bedeuten, dass der Tugendbegriff sich
inhaltlich wandelt, jedoch strukturell, in seiner Funktion als Leitidee beibehalten wird.
Dies geschah in der Philosophie der Aufklärung, in die Humes Werk gehört, indem
Tugend nicht mehr im Intellekt, sondern in den Sinnen - den passions - fundiert wird. Es
ist aber auch möglich, daß der Tugendbegriff seine Bindegliedfunktion verliert und
inhaltlich ausgehöhlt wird. In diesem Fall wird er von neuen Leitbegriffen abgelöst und
verschwindet allmählich aus dem Sprachgebrauch, auch wenn er als Wort erhalten bleibt.
3.
Die Rehabilitation der Sinnlichkeit ermöglichte diese Neufundierung der Tugend
zwar; dies führte jedoch dazu, dass der Mensch als Naturwesen im Theoriegefüge nunmehr
eine logisch zweideutige Stellung einnahm: Sinnlich war er Teil der Natur, geistig stand er
über der Natur. Ausgehend von diesem logischen Zwiespalt, der sich jedenfalls formal-
logisch als tatsächlich unüberbrückbar erweisen sollte, trennten sich die Wege von
4
Rationalismus und Empirismus. Die Philosophie David Humes, der den Empirismus
erkenntnistheoretisch begründete, ist deshalb so interessant für die Frage nach den Konse-
quenzen dieses logischen Zwiespaltes für den Tugendbegriff, weil er den neuzeitlichen
Primat der Anthropologie vor der Ontologie konsequent zu Ende dachte und die erste
Moralphilosophie entwickelte, die auf eine metaphysische Rückbindung von Ethik und
Politik gänzlich verzichtet und die, indem sie Sein und Sollen strikt trennt, eine spezifisch
moderne konventionalistische Ethik begründet. Seine Tugendlehre wurde von den
Federalists rezipiert, die auf dieser Basis eine ganz neue politisch-institutionelle Lösung
des Tugendproblems entwickelten.
4.
Der Tugendbegriff spaltete sich jedoch nicht allein aus logischen Gründen, sondern
vor allem auch, weil die neuzeitliche Trennung von Staat und Religion dazu führte, dass er
als politischer Begriff spätestens im 17. Jahrhundert an die Grenzen seiner
Leistungsfähigkeit kam. Obwohl die amerikanische Verfassungsdebatte den Charakter
eines Tugend-Diskurses hatte, gingen sowohl Federalists als auch Anti-Federalists implizit
bereits von einem gespaltenen Tugendbegriff aus, da sich am Ende des 18. Jahrhunderts
die spezifisch bürgerliche Trennung in staatliche (öffentliche) und gesellschaftliche
(private) Sphäre und, damit einhergehend, die begriffliche Unterscheidung von public good
und private interest weitgehend durchgesetzt hatte. Der auch in Amerika rezipierte, aus der
Philosophie der Antike stammende, Tugendbegriff wird zumindest auf Seiten der
Federalists oft nur rhetorisch verwendet, was darauf hindeutet, daß der klassisch-
republikanische Tugendbegriff allmählich vom neuen Leitbegriff des Interesses verdrängt
wird.
Um die o. g. Thesen zu erhärten, muss beim Tugendbegriff der griechischen Philosophie
angesetzt werden, da alle späteren Tugendlehren im Rekurs auf diesen formuliert wurden.
Deshalb sollen hier exemplarisch der aristotelische Tugendbegriff und die Stoa einbezogen
werden. Die neuzeitliche Trennung von Staat und Religion ist die entscheidende Zäsur
bezüglich der politisch-theoretischen Analyse des Tugendbegriffes politische Macht
musste auf säkularer Basis neu begründet werden. Exemplarisch hierfür soll Hobbes`
Vertragstheorie stehen, weil sie sowohl für die britische als auch für die amerikanische
politische Theoriebildung, die ja das Thema der vorliegenden Arbeit ist, von besonderer
Wichtigkeit war. Für die philosophische Analyse neuzeitlicher Tugendbegriffe ist hingegen
der Wandel des summum bonum bzw. die Bestimmung des Menschen als Naturwesen und
5
die hieraus resultierenden logischen Probleme bezüglich der Neuverknüpfung von Seins-
und Wertfrage maßgeblich. Um die Strukturen dieses oben als Paradigmenwechsel
beschriebenen Vorganges wenigstens punktuell zu erfassen, wird daher im ersten, dem
theoretischen Teil der Arbeit welchem die These von der ,,Rehabilitation der Sinnlich-
keit" (Kondylis, 1986, 42) zu Grunde liegt - auf den Wandel einiger wichtiger philo-
sophischer Grundbegriffe eingegangen.
Auf dieser Grundlage wird im zweiten Teil der Arbeit die Philosophie David Humes unter-
sucht, wobei es nicht darum gehen kann, Humes Gesamtwerk gerecht zu werden. Mein
hauptsächliches Interesse gilt seiner Tugendlehre, die im Sinne der obigen Thesen im
Zusammenhang mit seinem Naturbegriff und seinem Vernunftbegriff untersucht werden
soll. Die Basis für seine Tugendlehre bilden nach Humes eigenem Bekunden die Analyse
der Affekte und die Analyse der Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Daher wird neben der
Affektenlehre seine Erkenntnistheorie hier insoweit einbezogen, wie es sich um Schlüssel-
begriffe und -analysen handelt, die für das Verständnis seiner empirischen Methode und
deren Konsequenzen für seine Moralphilosophie unverzichtbar sind. Anschließend wird
Humes politische Philosophie anhand einiger ausgewählter Essays exemplarisch
dargestellt. Deren Fragestellungen wurden für die im dritten Teil der Arbeit behandelte
Rezeption der Humeschen Philosophie durch die Federalists wichtig.
6
1
Die Rehabilitation der Sinnlichkeit und die Tugend
1.1
Zu Kontext und Struktur von Normbegründung
in der abendländischen philosophischen Tradition
Die griechische Philosophie war mit ihrer Trennung zwischen Geist und Sinnlichkeit für
unsere Tradition prägend. Bekanntermaßen wurden Geist und Sinnlichkeit dabei nicht als
gleichwertig aufgefasst. Vielmehr war ihr Verhältnis immer hierarchisch: Die ontologische
und damit auch moralphilosophische Abwertung der Sinnlichkeit als niedere Schicht des
Seins, als zu formende Materie, als sterblicher Körper, als Triebe und Leidenschaften, die
durch die Vernunft bzw. den Intellekt beherrscht und geformt werden müssen, ging einher
mit der Aufwertung des Geistes, welcher nicht nur als höchstes Erkenntnisvermögen,
sondern auch als Träger letzter, dem Menschen zugänglicher Wahrheiten bzw. auf
kosmologischer Ebene als reine Form oder Gottheit fungiert. Indem dieser Geistbegriff in
der Annahme einer Verbindung von menschlichem und metaphysischem bzw. göttlichem
Geist gründet (so z. B. in der Seelenlehre Aristoteles`) und sich auf Sein und Sollen
zugleich bezieht, beinhaltet er die Einheit von Ontologischem und Normativen, da er
,,nicht nur das ,wahre` Sein, sondern auch die höchste Weisheit und Güte verkörpert.
Somit erhält die normative Funktion des Geistes ontologische Unterstützung, d. h. sie
erscheint als unumgängliche Folge seines Ursprungs und daher seines Charakters"
(Kondylis, 1986, 17). Dieser Zusammenhang liegt der sowohl von der griechischen als
auch von der christlichen Tradition vertretenen Auffassung zugrunde, der Mensch sei nur
deswegen zur Tugend bzw. zum Leben nach den göttlichen Geboten fähig, weil er als
Geist- bzw. Vernunftwesen moralisch beschaffen sei. Daher erfolgten in der abend-
ländischen philosophischen Tradition alle Versuche, die Sinnfrage zu beantworten, struktu-
rell gesehen dadurch, dass die Seinsfrage mit der Wertfrage dem Sollen so verknüpft
wurde, dass das höchste Sein mit der höchsten Norm identifiziert werden kann. Damit wird
diese ebenso absolut (wahr) wie das höchste Sein. Das wiederum ermöglicht erst die
Letztbegründung von ethischen Normen, welche ihrerseits politische Herrschaft sanktio-
nieren und damit politische Ordnungen stabilisieren (Vgl. Kondylis, 1986, 342-356).
Tugenden dienen in diesem Kontext der Normbegründung als Bindeglied zwischen
Mensch und Norm, d. h. sie stellen Leitbilder für ein gelingendes Leben im Sinne der
7
jeweiligen Verflechtung von Sein und Sollen bereit. Dieses Leben gemäß der Tugend galt
stets als erlernbar (denn der Mensch ist Vernunftwesen) und bestand traditionell im
wesentlichen in der Beherrschung der eigenen Sinnlichkeit, was wiederum den Tugend-
haftesten (Tüchtigsten/Fähigsten) moralische und politische Kompetenz verleiht, die von
der Öffentlichkeit anerkannt wird.
Während sich diese Struktur von der Antike an durchhält, wandelte sich das, was als
höchstes Sein galt - und in Verbindung damit das höchste Gut - zweimal entscheidend. Der
erste Wandel vollzog sich im Übergang von der antiken zur christlichen Welt; der zweite
Wandel markiert den Beginn der Neuzeit. Inhaltlich gesehen trat beim ersten Wandel der
Ontologie ein persönlicher Schöpfergott, in dessen Offenbarung die Wahrheit gründete, an
die Stelle eines unvergänglichen, selbstverursachten Kosmos, dessen Schönheit gleich-
zeitig Ordnung war und der dadurch die Wahrheit der Welt garantierte. Dadurch verkehrt
sich die Beziehung zwischen Mensch und Welt: Die Unsterblichkeit des Einzellebens tritt
an die Stelle der (potentiellen) Unsterblichkeit des Gemeinwesens - der griechischen polis
bzw. des römischen Staates -, weil, nach einem Wort Ciceros, Staaten für die Ewigkeit
gegründet sind und weltlich-irdische Unsterblichkeit demzufolge gerade von einer politi-
schen Betätigung dem Handeln in öffentlichen Angelegenheiten erhofft werden konnte.
Demzufolge war in der griechischen polis tugendhaftes Handeln immer öffentliches
Handeln, Tugend immer politische Tugend (Vgl. Arendt, 1992, 306f).
1.2
Eudaimonia oder Apatheia? - Tugendlehren der Antike
1.2.1 Aristoteles
,,Welches ist die vollkommene Form eines Staates?", fragt Aristoteles in Buch VIII der
Politik, und er antwortet: ,,Darüber kann man erst sprechen, wenn man weiß, welches die
vollkommene Form menschlichen Lebens ist" (zit. n Dirlmeier, 1992, 374). Politik ist
demnach angewandte Ethik und Ontologie in einem. Daher ist seine bekannte Staats-
formenlehre aus seiner Tugendlehre, die er in der Nikomachischen Ethik entfaltet,
abgeleitet. Dieser Zusammenhang zeigt nahezu idealtypisch auf, was die normative Idee
der Einheit von Ethik und Politik bezüglich der Verflechtung von Seins- und Wertfrage
ursprünglich zum Inhalt hatte.
8
Ausgangspunkt dieser Einheit ist bei Aristoteles die Anthropologie. Der Mensch ist von
seiner Natur her zoon politikon, d. h. ,,auf das Leben in der richtig geordneten Gemein-
schaft hin angelegtes Lebewesen ..., dem es nicht möglich ist, das ihm gemäße Gute außer-
halb der Gemeinschaft zu finden ..." (Weber-Schäfer, 1986, 47). Auch die polis als
Zusammenschluss von im Wortsinne politischen Wesen ist demnach ein ,,Produkt der
Natur" (Rosen, 1994, 85), deren Zweck die ,,gute Ordnung" ist, mit dem Ziel der
eudaimonia, der Glückseligkeit, in welcher - modern gesprochen - Staatsziel und Lebens-
ziel des Einzelnen zusammenfallen. Dabei ist jedoch wichtig festzuhalten, dass sich der
Einzelne nur über sein Leben in der Gemeinschaft, d. h. über den Bürgerschaftsbegriff
(Vgl. Koselleck, 1994, 14 21) definiert, nicht aber Individuum im modernen Sie ist.
Als ,,höchstes Gut", d. h. als höchste Norm, wird eudaimonia bei Aristoteles wie folgt
bestimmt: Während die Gottheit als höchstes und schlechthin vollkommenes Wesen reine
Form bzw. reiner Geist ist, ewig im Besitz des Guten (d. h. des höchsten Gutes), so dass sie
kein Ziel hat, auf das sich ihr Handeln richten könnte, ist der Mensch gerade durch seine
Fähigkeit, zielgerichtet und vernunftbestimmt zu handeln, definiert. Jede seiner Hand-
lungen ist insofern teleologisch, als sie auf ein bestimmtes Gut (agathon) gerichtet ist.
Dabei gibt es eine Güterhierarchie: Einige Güter sind um ihrer selbst willen erstrebenswert,
andere sind nur Mittel zum Erlangen eines jeweils höher eingestuften Gutes. Es muss
jedoch ein höchstes Gut geben, das nur um seiner selbst willen angestrebt wird, denn
,,wenn wir annehmen wollten, jedes Gut werde nur um eines anderen und dieses wiederum
um eines wieder anderen willen erstrebt, jedes Ziel sei also immer nur Mittel und niemals
letztes Ziel, so würde alles menschliche Handeln ziellos und damit sinnlos ..." (Weber-
Schäfer, 1986, 47 Hervorhebung F. D.).
Die Existenz der eudaimonia kann aber nicht deduktiv bewiesen werden, ,,weil das Wissen
um das höchste Gut nicht Gegenstand der Wissenschaft ist, sondern der Einsicht in die
unmittelbar gegebenen ersten Prinzipien entspringt" (Weber-Schäfer, 1986, 48). Ein Indiz
für ihre Existenz ist aber die übereinstimmende Meinung ,,der Vielen wie der Denkenden;
auch wenn Uneinigkeit über die inhaltliche Bestimmung des höchsten Gutes herrscht, so
sprechen doch alle von der Glückseligkeit als der Einheit von gutem Leben und gutem
Handeln ..." (Weber-Schäfer, 1986, 48 Hervorhebung F. D.). Die Übereinstimmung aller
in dieser Frage gilt aber generell als erstes Indiz für Wahrheit: "Wenn nämlich das Wider-
sprüchliche aufgelöst wird und das Wahrscheinliche übrigbleibt, so ist ein ausreichender
9
Nachweis gegeben" (Aristoteles, zit. n. Weber-Schäfer, 1986, 48). Somit sind Sein und
Sollen bei Aristoteles empirisch verknüpft.
Die vollkommene Ausbildung der Fähigkeit zur Einsicht in die unmittelbar gegebenen
ersten Prinzipien oder das ,,erste Allgemeine", welche eudaimonia erst ermöglicht, ist die
höchste Tugend: ,,Im Ganzen ist es der Tugend eigentümlich, den Zustand der Seele gut zu
machen, dass sie sich nämlich ruhig und geordnet bewegt und unter allen ihren Teilen
Zusammenklang herrscht. Daher gilt auch der Zustand einer guten Seele als Modell einer
guten Verfassung" (Aristoteles, zit. n. Priddat, 1989, 415). Dies verweist auf den engen
Zusammenhang von Tugendbegriff und Seelenlehre. Die Tugend des guten Menschen
besteht in seiner Tauglichkeit bzw. Tüchtigkeit (dies ist die wörtliche Bedeutung von
arete), seiner natürlichen Funktion (ergon) als Mensch zu genügen: ,,Die Frage nach dem
Guten für den Menschen wird zur Frage nach der natürlichen Funktion des Menschen,
denn das, was allein der Mensch vollbringen kann, muss sein ihm eigenes Ziel sein"
(Weber-Schäfer, 1986, 51). Wie das Ziel des Menschen (eben die eudaimonia) zu errei-
chen ist, erschließt sich aus der menschlichen Seele, die sich zum Leib wie die Form zur
Materie verhält (d. h. als Beweger eines Bewegten) und deren differentia specifica gegen-
über den Tier- und Pflanzenseelen darin besteht, dass sie einem rationalen Prinzip dem
logos unterworfen ist, wodurch der Mensch als zoon logon echon an allen Seinsstufen
teilhat. Die Seele ist demnach nicht nur inneres Organ, sie wird auch als Teil des Kosmos
gesehen, und die äußere Weltordnung bestimmt den ,,inneren" Menschen.
Die Seele selbst ist dreigeteilt in einen vegetativen Teil, einen empfindenden Teil (der die
Leidenschaften und Begierden umfasst, die zwar irrational sind, aber durch Erziehung der
Kontrolle der ratio unterworfen werden können) und einen spezifisch rationalen Teil.
Daher kann die ,,wahre Aufgabe (des Menschen) als die Aktualisierung der spezifischen
Tugenden der menschlichen Seele bestimmt werden, als eine Tätigkeit der Seele in Über-
einstimmung mit dem rationalen Prinzip" (Weber-Schäfer, 1986, 52). Oder, wie Aristoteles
selbst sagt: ,,... das oberste dem Menschen erreichbare Gut stellt sich dar als ein Tätigsein
der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit. Gibt es aber mehrere Formen wesen-
hafter Tüchtigkeit, dann im Sinne der vorzüglichsten und vollendetsten" (Aristoteles, NE I.
1098a 16-17, 1992, 17).
10
Wie bestimmt Aristoteles nun die ,,vorzüglichsten und vollendetsten" Tugenden inhaltlich?
Zunächst teilt er sie in zwei Klassen ein, in ethische und dianoetische Tugenden, die
wiederum in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Die dianoetischen
Tugenden sind den ethischen übergeordnet, da sie dem höchsten Seelenteil (dem ratio-
nalen) zugeordnet sind, der es dem Menschen qua Vernunft ermöglicht, am göttlichen nous
(Geist) teilzuhaben und die Wahrheit bezüglich der ersten Prinzipien zu erkennen. Die
dianoetischen Tugenden von Aristoteles näher bestimmt als episteme, techne, phronesis
und sophia gehen also wissenschaftlicher Erkenntnis voraus und bezeichnen eine
Haltung, die dem Menschen ein Leben in der vollkommenen Glückseligkeit der Schau der
göttlichen Wahrheit (bios theoretikos) ermöglicht. Dieses Leben ist aber nur sehr wenigen
Menschen (z. B. Philosophen) erreichbar; für die meisten Menschen liegt die eudaimonia
im tugendhaften Handeln gemäß den ethischen Tugenden (bios politikos). Diese wiederum
sind ,,die lobenswerten Verhaltensweisen des irrationalen Seelenteils der Leidenschaften
und Begierden, soweit sie der Kontrolle des rationalen Seelenteils unterworfen sind ..."
(Weber-Schäfer, 1986, 52). Es wird also auf der Basis einer Wertehierarchie die Forderung
zur (Selbst-)Beherrschung des triebhaften Seelenteils bzw. der menschlichen Sinnlichkeit
erhoben, die fortan fast allen abendländischen Tugendlehren eigen war und zu den
logischen Schwierigkeiten bei der neuzeitlichen Rehabilitation der Sinnlichkeit maßgeblich
beitrug (Vgl. 1.3.2).
Inhaltlich bestimmt werden die ethischen Tugenden ,,als die Gewohnheit (ethos), die Mitte
zwischen Übermaß und Mangel zu wählen" (Weber-Schäfer, 1986, 52). So ist etwa Mut -
als Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit - keine Eigenschaft einzelner Handlungen,
sondern eine Haltung, die dem Handeln von Menschen immer schon zu Grunde liegt und
die durch Übung zur Gewohnheit werden kann. Ethische Tugend ist, ,,so zeigt sich, das
Vermögen, Güter zu verschaffen und zu erhalten, und ein Vergnügen, wohltätig zu sein mit
vielen und großen Dingen, und zwar allen gegenüber in jeder Hinsicht" (Aristoteles,
Rhetorik 1,9,4; zit. n. Priddat, 1989, 417). Die ethischen Tugenden können und müssen
also der (männlichen) Jugend anerzogen werden dieser pädagogische Aspekt findet sich
ebenfalls in allen späteren Tugendlehren wieder und stellt die Verbindung zur politischen
Gemeinschaft (später zur Gesellschaft) her. ,,Wie man zu einem wertvollen Menschen
wird, dafür gibt es drei Ansichten: durch Naturanlage, durch Gewöhnung oder durch
Belehrung. (...) Indes, von Jugend auf eine richtige Führung zu ethischer Höhe zu bekom-
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men ist schwer, wenn man nicht unter einer entsprechenden Gesetzgebung aufwächst ...
Daher muss schon die früheste Erziehung und müssen die Beschäftigungen festgelegt
werden durch das Gesetz, denn wenn sie einem ganz vertraut werden, empfindet man sie
nicht mehr als drückend" (Aristoteles, NE X. 1179b; 296f).
So wie es Aufgabe des Gesetzgebers ist, die Polis-Bürger zu erziehen und ihre Tugend zu
fördern, so erfüllt diese, obgleich sie personales Attribut ist, nur in der öffentlichen (politi-
schen) Sphäre ihren Zweck. Allerdings muss nur der vollkommene Herrscher, der zugleich
der vollkommene Mensch ist, alle Tugenden auf sich vereinen. Die Tugend des Bürgers
manifestiert sich darin, ,,dass er sich gleichermaßen auf das Herrschen wie auf das
Beherrschtwerden versteht" (Rosen, 1994, 87). In diesem Sinne galt die aufgrund ihrer
Tugend vorhandene Gleichheit der Bürger als ein ,,moralischer Imperativ" (Pocock, 1993,
144), der garantieren sollte, dass die Herrschaft ,,tatsächlich Sache der Allgemeinheit war
und nicht unter dem Deckmantel der Öffentlichkeit privaten Interessen gehorchte. Die
Republik bzw. die polis löste dieses Problem, indem sie jeden zum Teilhaber der Herr-
schaft machte, von der er regiert wurde. Zwar gingen damit Gleichheitsverhältnisse einher,
die an den einzelnen sehr hohe Anforderungen stellten; andererseits aber wurde voraus-
gesetzt, dass der einzelne gleichsam kata phusin zur Teilnahme an einer so verstandenen
Bürgerschaft, die in seiner ,Natur`, seinem ,Wesen` und in seiner ,Tugend` lag, geschaffen
war. Indessen kann Natur vielleicht entwickelt, nicht aber verteilt werden; genauso wenig
wie man nicht ein telos, sondern allenfalls die Mittel zu seiner Durchsetzung verteilen
kann. Aus diesem Grund kann auch die Tugend nicht auf eine rechtliche Angelegenheit
reduziert werden ..." (Pocock, 1993, 144 Hervorhebung F. D.), entsprach doch im
Gegenteil eine Verteilung der öffentlichen Gewalt nach den Regeln des Privatrechtes der
klassischen Definition von Korruption, ,,und wo diese herrschte, würden am Ende alle
Rechte aufgehoben sein" (Pocock, 1993, 144). Diese klassische Definition sollte im
englischen Tugend-Diskurs wiederkehren (Vgl.2.1.2). Die polis, für die eine Trennung von
Staat und Gesellschaft ein unsinniger Gedanke gewesen wäre, hat insofern ganz andere
Merkmale als der moderne Staat, der zum Schutz der Bürger vor innerer und äußerer
Gewalt sowie zur Sicherung von vorstaatlichen Rechten, Eigentum und freiem Handel
entstand. Eine solche Reduktion der Politik auf Sicherheit und Ökonomie verfehlt nach
Aristoteles den telos menschlicher Gemeinschaft, da die polis ,,um des guten Lebens willen
und nicht nur um des Lebens willen besteht" (Aristoteles, Politik III.1280a 25-b 35, zit. n.
Weber-Schäfer, 1986, 59).
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1.2.2 Die Stoa
Die Stoa wurde um 300 v. Chr. von Zenon aus Kition begründet, prägte in ständiger
Konkurrenz mit den zeitgleich entstandenen philosophischen Systemen der Epikureer und
der Skeptiker den sog. Hellenismus (Zeitraum nach dem Tode Alexanders 323 v. Chr. bis
zur Eroberung des Ptolemäerreiches durch Rom) und den philosophischen Eklektizismus
des Imperium Romanum bis hin zur Übernahme stoizistischer Elemente durch die Patristik,
als das Christentum neue Staatsreligion wurde (Vgl. Rohls, 1991, 76; Störig 1992, 190;
Rosen, 1994, 135-139).
Die in der Literatur übliche Einteilung in ältere, mittlere und jüngere Stoa soll hier im
Interesse der Betrachtung des Gesamtphänomens Stoa im Sinne der Thesen beiseite
gelassen werden, zumal sich die wesentlichen Merkmale der Stoa, wie etwa die Dreiteilung
des Systems in Logik, Physik und Ethik, der Primat der Ethik und die These vom
vernunftgemäßen Leben des Menschen, das allein naturgemäßes Leben sei, in allen drei
Perioden durchhalten.
Die ,,Grundformel" (Rohls, 1991, 77) der Stoa stammt bereits von Zenon und lautet, dass
der einzig erstrebenswerte Seelen-Zustand die apatheia ,,sich einstelle, wenn man ein-
stimmig lebe" (Rohls, 1991, 77). Sie entstand unter kynischem Einfluss (Zenon war
Schüler des Kynikers Crates) und ,,versuchte, das hellenistische Problem der Entwertung
alles Unverfügbaren mit Hilfe des sokratisch-kynischen Modells der Herrschaft der
sittlichen Vernunft über die Triebe zu lösen" (Hossenfelder, 1985, 45). Kleanthes erwei-
terte diese Grundformel später und sagte, ,,man müsse einstimmig mit der Natur leben".
Chrysipp führte dies noch weiter aus, indem er lehrte, man müsse ,,leben gemäß der Erfah-
rung der natürlichen Vorgänge" (zit. n. Hossenfelder, 1985, 61). Hinter diesem stoischen
Grundsatz des Lebens in Übereinstimmung mit der Natur steht, entgegen der neostoi-
zistischen Interpretation, auf die noch einzugehen sein wird, keine ,,metaphysische Verab-
solutierung der Natur als höchsten Wert oder unmittelbare Beglückerin, sondern das gerade
Gegenteil. Die Natur ist vollkommen gleichgültig, und weil sie gleichgültig ist, gibt es
keinen Grund, sich ihr zu widersetzen und von ihr abzuweichen. Vielmehr ist es geboten,
unser Leben gemäß den natürlichen Vorgaben, die wir erfahren, sich vollziehen zu lassen"
(Hossenfelder, 1985, 61f Hervorhebungen F. D.).
Naturgemäß zu leben ist in der stoischen Philosophie also ein aus der Unverfügbarkeits-
These abgeleiteter Grundsatz. Unverfügbar (adiaphora) sind nach stoischer Überzeugung
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alle äußeren Dinge (die Welt) für den Einzelnen, da sie ein selbständiges Sein haben. Dies
ergibt sich aus dem materialistischen Naturbegriff der stoischen Physik, der zufolge nicht
nur die Körper, sondern auch deren Eigenschaften und Zustände z. B. Tugenden und
Laster als Zustände der Seele materiell sind. An allem Körperlichen werden zwei Prinzi-
pien unterschieden: Stoff (hyle) und Vernunft (logos), die identisch mit den beiden
Charakteristika alles Seienden gesetzt werden die hyle mit der Fähigkeit zu leiden und
der logos mit der Fähigkeit zu wirken. Die hyle ist, wie bei Aristoteles, ohne Gestalt,
Eigenschaften und Bewegung. Sie ist aber die Substanz für den logos, der sie formt, quali-
fiziert und bewegt, indem er sie vollständig durchdringt. Somit ist in der Stoa der logos das
eigentliche Gestaltungsprinzip der Welt und seiner Funktion nach Gottheit bzw. göttliche
Kraft.
Diese göttliche Kraft determiniert die Natur durch den ihr immanenten logos vollständig,
da der göttliche Wille als Naturgesetz aufgefasst wird. Der Begriff des Naturgesetzes ist
mit dem Kausalitätsbegriff verbunden, welcher bereits funktional interpretiert wird: ,,Ursa-
che ist das, durch das die Wirkung entsteht, und das ist dann der Fall, wenn es unmöglich
ist, dass die Ursache gegeben ist, die Wirkung aber nicht eintritt. Im Begriff der Ursache
wird also eine notwendige Verknüpfung der Dinge gedacht, so dass auf das eine unaus-
bleiblich das andere folgt" (Hossenfelder, 1985, 86). Das Naturgesetz der Stoa unter-
scheidet sich vom neuzeitlichen Naturgesetz jedoch vor allem dadurch, dass es in Anleh-
nung an Heraklit mit dem griechischen Glauben an das Schicksal bzw. die Vorsehung
(heimarmene) verbunden ist, wonach alles Geschehen in der Welt genau vorherbestimmt
und unentrinnbar ist.
Gleichzeitig ist mit diesem Naturdeterminismus eine Teleologie impliziert, dergestalt, dass
der logos in der Natur zweckmäßig wirkt, indem er sich möglichst vollkommen realisiert
und erhält. Begründet wurde dies von den Stoikern, ,,indem sie die Selbsterhaltung zum
Zweck der Vernunft überhaupt erhoben" (Hossenfelder, 1985, 85). Am besten ist diese
selbsterhaltende Vernunft in der persönlichen Vernunft der einzelnen Seelen realisiert, und
diese zu erhalten und zu mehren ist damit gleichzeitig der höchste Zweck der Welt.
Deshalb fassen die Stoiker konsequenterweise auch die Weltvernunft als persönliche
Vernunft auf und kommen so einerseits zu einem persönlichen Gott (den sie mit Zeus
identifizieren) und andererseits zum Anthropozentrismus. Die Welt ist ,,um der vernünf-
tigen Wesen, der Götter und Menschen willen da, und zu ihrem Besten ist alles
eingerichtet" (Hossenfelder, 1985, 85).
14
Damit diese intellektualistische Metaphysik nicht die materialistische Physik widerlegt,
unterscheidet die Stoa zwischen Element und Prinzip. Auf der elementaren Ebene sind die
Körper das einfachste Seiende. Sie lassen sich zwar hinsichtlich ihrer beiden Prinzipien
hyle und logos analysieren, aber diese Prinzipien sind nur begrifflich trennbar, sie können
nicht selbständig existieren. Nur zusammen können sie wirklich sein und die Körper bilden
(Vgl. Hossenfelder, 1985, 79-82). Diesen Materialismus verbanden die Stoiker, wie oben
bereits angedeutet, mit einer sensualistischen Erkenntnistheorie. Alles Seiende ist nur
durch die Sinneserfahrung rezeptiv zugänglich. Ausgenommen hiervon ist jedoch
wiederum die Vernunft als Wirkprinzip, da ja der bloße Gedanke keine Wirklichkeit
konstituiert: ,,Alles Denken geht von der sinnlichen Wahrnehmung aus oder vollzieht sich
jedenfalls nicht ohne diese ... Und allgemein ist in einem Begriff nichts zu finden, dessen
Kenntnis man nicht aus sinnlicher Gegebenheit besitzt" (Stoicorum veterum fragmenta II
88, zit. n. Hossenfelder, 1985, 70). Die Formulierung des sensualistischen Prinzips und die
Vorstellung der Seele als tabula rasa, die nur vermittels der Sinne ausgefüllt werden kann,
welche Locke dann im 17. Jahrhundert zur Grundlage seiner Philosophie machte, ist hier
bereits vorweggenommen.
Die so ermöglichte Rationalisierung der Materie hat also die Funktion, die Herrschaft des
logos über die Sinnlichkeit abzusichern, indem die Vernunft nun die Seele die ähnlich
wie bei Aristoteles hierarchisch strukturiert ist (allerdings hat sie acht Teile) und die
mittels der Pneuma-Theorie mit der Welt verbunden wird prägt und kontrolliert (Vgl.
Hossenfelder, 1985, 82-84). Dennoch begründen die Stoiker ihre Tugendlehre ohne Rück-
griff auf die klassische Ontologie; dies im Unterschied zu Aristoteles, der ja, wie oben
bereits ausgeführt, die Wertfrage metaphysisch mittels der Bestimmung des Menschen als
Vernunftwesen fundiert (Vgl. 1.2.1). Dies gelingt durch die Analyse der eudaimonia, die
auch für die Stoa höchstes Gut blieb, als eines individuellen Phänomens. Dieser Individua-
lismus ist das grundlegend neue Element des Hellenismus gegenüber der griechischen
Klassik. An ihn konnte nicht nur die spätere christliche Lehre von der Unsterblichkeit der
Einzelseele anknüpfen. Ebenso ist ,,der im Abendland dann vorherrschende Begriff der
Glückseligkeit als einer privaten Sache, einer subjektiven Befindlichkeit, durch den Helle-
nismus geprägt worden" (Hossenfelder, 1985, 36). Eudaimonia kann vor dem Hintergrund
des bisher Gesagten nur noch in der Verinnerlichung von Ausgeglichenheit und Harmonie
bestehen, denn nicht die äußere Natur, sondern nur die auf vernünftiger Einsicht basie-
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renden inneren Einstellungen und Wertungen sind dem Menschen verfügbar. Daher rührt
auch der Primat der Ethik in der stoischen Philosophie und ihre Überzeugung, dass es dem
Menschen möglich sei, sich von allen falschen Wertsetzungen zu befreien, indem er sich
nur solche Ziele setzt, von denen er sicher ist, dass er sie auch erreichen kann.
Diese Übereinstimmung von Wollen und Können macht das ,,einstimmige Leben" auf der
Handlungsebene aus. Wie ist diese Übereinstimmung zu erreichen? Die Antwort gibt die
Tugendlehre der Stoa, deren Kern der Begriff des Affektes (pathos) ist. Pathos ist als die
innere Spannung bzw. Erregung definiert, die entsteht, wenn der Mensch seine selbst-
gesetzten Zwecke nicht erreicht und daher unglücklich ist. Demzufolge ist apatheia, die
Affektfreiheit, der glückliche Zustand, der angestrebt wird. Nur war sie jetzt ein passiver
Zustand des Einzelmenschen - nicht mehr aktiv nach außen, auf das Leben in der (politi-
schen) Gemeinschaft gerichtet. Mit dieser Terminologie knüpfte die Stoa an den sokra-
tisch-kynischen Tugendbegriff an, wonach das Wesen der Tugend in der Beherrschung des
Affektes bzw. Triebes durch die Vernunft bestand. Nur bestand für die Stoa die Beherr-
schung des Affektes in seiner vollständigen Abwesenheit. Möglich wird diese, weil die
Vernunft frei ist, ihre Zwecke (Werte) bewusst zu wählen, indem sie den Affekten - die
Stoa unterschied vier Gattungen: Lust, Unlust, Begierde und Furcht - zustimmen muss,
bevor diese handlungswirksam werden. Auch im Menschen wirkt also der Kontroll-
mechanismus des logos über die Sinnlichkeit mittels Rationalisierung.
Diese Zustimmung ,,liegt bei uns und ist freiwillig" (Stoicorum veterum fragmenta I 61,
zit. n. Hossenfelder, 1985, 47), d. h. wir können und müssen die Zwecke unseres Handelns
selbst setzen, und solange unsere Vernunft nicht falsch urteilt, kann kein Affekt entstehen.
Falsche Urteile der Vernunft, die natürlich vorkommen und dazu führen, dass irrational,
unkontrolliert, ,,affektiert" gehandelt wird, sind im Wortsinne pathologisch (pathos heißt
auch Krankheit), während die Vernunft ,,an sich" gesund und aufrecht (orthos) ist und
richtig urteilt. Fehlgeleitet werden kann die Vernunft jedoch durch ,,die verführerische
Macht der Außendinge" und die ,,schlechte Unterweisung seitens der Mitmenschen"
(Hossenfelder, 1985, 50). Es ist jedoch möglich, das ,,Aufrechtbleiben der Vernunft"
mittels Philosophie zu trainieren hierin liegt der pädagogische Aspekt der stoischen
Ethik.
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Weil ein Affekt aber ,,fehlgeleitete" Vernunft ist, sind falsche Zwecksetzungen nicht
Ursache, sondern Folge des Affektes. Aufgrund dieser genialen Konstruktion brauchten
die Stoiker Affekte weder zu unterdrücken noch zu leugnen, da ihre Ursache immer eine
freiwillige Vernunftentscheidung ist, so dass auch Fehlurteile der Vernunft letztlich aus
einer freien Entscheidung entspringen (Vgl. Hossenfelder, 1985, 46-51). Die Zustimmung
der Vernunft zum Affekt ist in der stoischen Ethik der Ort, an dem die Willensfreiheit
angesiedelt ist. Wie allerdings die Vernunft selbst als frei zu begründen ist, darauf gibt die
Stoa keine überzeugende Antwort. Immerhin wurde das Freiheitsproblem im Hellenismus
erstmals aufgeworfen, wenn es auch in der Stoa gleich dahingehend beantwortet wurde,
dass tugendhaftes Leben darin besteht, von der Freiheit keinen Gebrauch zu machen. Nur
der freiwillige Verzicht darauf, sich überhaupt Zwecke zu setzen, ermöglichte vor dem
Hintergrund der Unverfügbarkeit der Welt ein affektfreies und somit ein glückliches
Leben, welches darin besteht, sich passiv zu verhalten, asketisch zu leben und sich von der
Weltvernunft führen zu lassen.
Verfügbar war nur der Akt der Wertsetzung selbst, die innere Einstellung zu den unver-
änderlichen Dingen, die praktische Einsicht, die phronesis. Das bedeutet, dass es gar keine
äußeren Güter gibt, sondern das einzige Gut ist eben diese Einsicht in die wahren Wert-
verhältnisse, und nur in ihr besteht die Tugend. Die Tugend ist demnach bereits die
Verwirklichung des höchsten Gutes. Die eudaimonia wiederum ist als höchstes Gut Selbst-
zweck, sie ist der telos, ,,um dessentwillen alles getan wird, während es selbst um keines
anderen Zweckes willen getan wird" (Stoicorum veterum fragmenta III 16, zit. n. Hossen-
felder, 1985, 54). Daraus ergibt sich folgender argumentativer Zirkel, an dem sich für die
Stoa exemplarisch die oben beschriebene Struktur von Normbegründung aufzeigen lässt:
,,Glück ist der innere Frieden, die seelische Ausgeglichenheit und Harmonie. Tugend ist
die Herrschaft der Vernunft über den Trieb, indem sie ihm nur erreichbare Zwecke gestat-
tet. Dadurch verhindert sie den Affekt und bewirkt den inneren Frieden, und insofern ist
die Tugend Ursache des Glücks. Zugleich besteht aber der innere Friede in nichts anderem
als darin, dass der Trieb sich nicht gegen die Vernunft auflehnt, sondern willig und ent-
spannt ihren Zwecken folgt, so dass Vernunft und Trieb ,einstimmig` handeln. Die Tugend
ist also der Sache nach mit dem Glück identisch" (Hossenfelder, 1985, 55).
Dieser Zirkel bzw. der ihm zu Grunde liegende ethische Naturalismus ist solange unpro-
blematisch, wie fraglos vorausgesetzt wird, dass aus dem Sein ein Sollen abgeleitet werden
kann. Die gesamte Antike und auch viele Philosophien der Neuzeit waren von dem
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Glauben durchdrungen, dass sich aus der Erkenntnis der ,,wahren" Natur der Dinge und
des Menschen zwangsläufig die ,,wahren Werte" ergeben (Vgl. 1.1).
Die phronesis ist also die höchste Tugend, die sich in den anderen Tugenden nur konkre-
tisiert. Dieser Tugend-Monismus hat seine Analogie in der einen göttlichen Vernunft, dem
Naturgesetz. Ethisch ist das Unverfügbare (die Natur/die Außenwelt) aus den genannten
Gründen gleichgültig, so dass ein Leben in Bedürfnislosigkeit und Selbstbeherrschung das
einzig Angemessene für einen Stoiker ist, da dieses ,,mit der objektiven Vernünftigkeit der
Natur übereinstimmt" (Rohls, 1991, 80). Wie ist auf dieser Grundlage der völligen Gleich-
gültigkeit der Außenwelt eine Verbindung von Ethik und Politik denkbar?
Da Tugend als innerer Zustand eben als apatheia charakterisiert ist, hat dies zur Folge,
dass eudaimonia von jedermann gleichermaßen erreichbar ist. Als vernunftgeleitete Wesen
sind alle Menschen gleich, es gibt ,,keinen relevanten Unterschied zwischen Griechen und
Barbaren, Männern und Frauen, Freien und Sklaven mehr. Ja, mehr noch: auf dem Hinter-
grund der Überlegung, dass auch die Götter Vernunftwesen sind, fällt auch der grund-
legende Unterschied zwischen Menschen und Göttern weg" (Rohls, 1991, 81). Damit wird
der Würde der Einzelperson in der Stoa ein viel höherer Stellenwert eingeräumt als in der
griechischen Philosophie bis dahin denkbar. Dieser ,,neue Individualismus" wirkt insofern
in die Zukunft, als er eine Universalisierung von ethischen Normen zumindest nahelegt. In
dieser Richtung wirkte auch der in der stoischen Physik entfaltete Begriff des einen gött-
lichen Willens, der den Charakter eines Naturgesetzes hat und daher Natur teleologisch
strukturiert. Von ihm aus können die Beziehungen zwischen Menschen, die kraft ihres
logos mit dem der Natur immanenten göttlichen logos verbunden sind, naturrechtlich
definiert werden. Das natürliche Recht ist dann ,,das in der vernünftigen Weltordnung
wurzelnde Gesetz, das als solches ewig, unwandelbar und für alle Völker gleichermaßen
gültig ist" (Rohls, 1991, 81). Das Naturrecht wurde als eine für den vernunftbegabten
Menschen in der natürlichen Weltordnung erkennbaren Norm aufgefasst, und die so
entstandene Rechtsgemeinschaft umfasste alle Menschen. Das eröffnete die Möglichkeit,
das positive Recht naturrechtlich zu fundieren, was jedoch in der Antike noch nicht
geschah. Vielmehr ging man ganz selbstverständlich davon aus, ,,dass die Rechts-
ordnungen der Völker schon mehr oder weniger mit diesem Naturrecht übereinstimmten"
(Nippel, 1993, 41). So übernahm Cicero die stoische Naturrechtskonzeption, um das
römische Recht als das Recht eines Weltreiches zu präsentieren und römische Herrschaft
zu legitimieren. Dafür wurde z. B. das Konzept des bellum iustum, das ursprünglich nur die
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Erscheinungsjahr
- 1998
- ISBN (eBook)
- 9783832416218
- ISBN (Paperback)
- 9783838616216
- Dateigröße
- 981 KB
- Sprache
- Deutsch
- Institution / Hochschule
- Technische Universität Dresden – Unbekannt
- Note
- 1,0
- Schlagworte
- skepsis federalist david hume institutionalisierung tugend
- Produktsicherheit
- Diplom.de