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Karl Ritter von Halt

Ein Lebensweg zwischen Sport und Politik

©1999 Doktorarbeit / Dissertation 339 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Trotz der weltweiten Popularität des Sports ist die Sportgeschichte bis heute als Teildisziplin der historischen Wissenschaften ein Randgebiet geblieben. Dabei bietet der Sport als gesellschaftliches Massenphänomen und beliebtes Objekt tagespolitischer Auseinandersetzung und Inanspruchnahme genug Anknüpfungspunkte für historisch ergiebige Betrachtungen, die auch dem wachsenden Interesse an Kultur- und Sozialgeschichte genüge tun.
Der Name des lange Jahre amtierenden Präsidenten des NOK für Deutschland, Karl Ritter von Halt, stand in der Vergangenheit eindeutig im Schatten Carl Diems, der durch sein breites Engagement vielfältigen Anlaß für Bewertungen lieferte. Von Halt hingegen bietet sich als Untersuchungsobjekt in besonderer Weise an, um die Auswirkungen der Wechselbeziehungen zwischen Sport und Politik am Beispiel eines ehrenamtlichen Funktionärs, der sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene tätig war, darzustellen und zu beleuchten.
Die Verbindung zwischen Sport und Politik wurde bisher vorwiegend im Hinblick auf die Geschichte von Organisationen, Verbänden und Boykotten untersucht. Die Hintergründe und Motive der handelnden Personen blieben dabei zwangsläufig im Dunkeln. Am Beispiel von Halts soll in dieser Arbeit versucht werden, die Lebensgeschichte eines Athleten und Sportfunktionärs durch die einzelnen Abschnitte deutscher Geschichte und Sportgeschichte zu verfolgen, um mit diesem biographischen Ansatz eine neue sporthistorische Dimension zu eröffnen. Dabei rückt die Frage nach der personellen und ideologischen Kontinuität in vier Epochen deutscher Geschichte in den Vordergrund.
Erschöpfende Untersuchungen über die politischen Implikationen des Sports liegen bisher fast ausschließlich für die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vor. Die wenigen lebensgeschichtlichen Betrachtungen von Spitzenfunktionären beschränkten sich ausschließlich auf einen einzelnen Abschnitt deutscher Geschichte. Aus diesem Sachverhalt, der dem Verfasser bereits bei den Recherchen für seine Diplomarbeit an der Deutschen Sporthochschule Köln auffiel, erwuchs die Überlegung, mit der Biographie eines hochrangigen Funktionsträgers einen weiten Bogen von der Etablierungsphase des Sports in der wilhelminischen Kaiserzeit über seine Blüte in der Weimarer Republik, der anschließenden Gleichschaltung im Dritten Reich bis hin zur Rückkehr in den Kreis der geachteten Sportnationen nach 1949 zu schlagen.
Die […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Heimerzheim, Peter: Karl Ritter von Halt: ein Lebensweg zwischen Sport und Politik /
Peter Heimerzheim.- Hamburg: Diplomarbeiten Agentur, 1999
Zugl.: Köln, Sporthochschule, Diss., 1999
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tung für evtl. verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.
Dipl. Kfm. Dipl. Hdl. Björn Bedey, Dipl. Wi.-Ing. Martin Haschke & Guido Meyer GbR
Diplomarbeiten Agentur, http://www.diplom.de, Hamburg 1999
Printed in Germany


A
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P O R T G E S C H I C H T E
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P O R T H O C H S C H U L E
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Geschäftsführender Leiter: Prof. Dr. M. Lämmer
Karl Ritter von Halt -
ein Lebensweg zwischen Sport und Politik
von der Deutschen Sporthochschule Köln
zur Erlangung des akademischen Grades
Doktor der Sportwissenschaft
genehmigte Dissertation
vorgelegt von
Peter Heimerzheim
aus
Köln
Köln 1999

Erster Referent:
Prof. Dr. M. Lämmer
Zweiter Referent:
Prof. Dr. W. Joch
Vorsitzender des
Promotionsausschusses:
Prof. Dr. H. D. Horch
Tag der mündlichen Prüfung:
8. Juli 1999
Hierdurch versichere ich an Eides Statt: Ich habe
diese Arbeit selbständig und nur unter Benutzung der
angegebenen Quellen angefertigt; sie hat noch keiner
anderen Stelle zur Prüfung vorgelegen. Wörtlich
übernommene Textstellen, auch Einzelsätze oder Teile
davon, sind als Zitate kenntlich gemacht worden.
Peter Heimerzheim

2
INHALT
Seite
1
Einleitung
4
2
Zum Stand der Forschung
6
3
Untersuchungsgegenstand und
Vorgehensweise
8
4
Der Sportler
11
4.1 Jugend im Kaiserreich
11
4.2 Die Königliche Turnschule Oberwiesenfeld
14
4.3 Banklehre und Sportler im Turnverein
17
4.4 Erste sportliche Erfolge
20
4.5 Die Olympischen Spiele 1912 in Stockholm
23
4.6 Sportler und Übungsleiter
27
5
Der Soldat
29
5.1 Kriegsbegeisterung?
29
5.2 An der Front
35
5.3 Exkurs: Die Kriegstagebücher als biographische Quelle
37
5.4 Vom Stellungs- zum Bewegungskrieg
41
5.5 ,,Einer unserer schneidigsten Offiziere"
44
5.6 Sturmangriff
46
5.7 Der Ritterschlag
49
5.8 Kriegsgefangenschaft
52
6
Der Sportlehrer
58
6.1 Start ins Zivilleben
58
6.2 Übungsleiter und Athlet
61
6.3 Sportlehrer an der Münchener Infanterieschule
63
6.4 Promotion
68
6.5 Das Lehrbuch ,,Die Leichtathletik"
73
7
Der Sportwart
77
7.1 Abschied im Zorn von der Turnerschaft
77
7.2 Im Vorstand der Deutschen Sportbehörde für Athletik
80
7.3 Die Olympischen Spiele 1928 in Amsterdam
86
8
Im Internationalen Olympischen Komitee
89
8.1 Der deutsche Sport und die Weltwirtschaftskrise
89
8.2 Die Wahl in das IOC
91
8.3 Vorsitzender der Deutschen Sportbehörde für Athletik
95
8.4 Die Olympischen Spiele 1932 in Los Angeles
98
8.5 Die ,,Nurmi-Affäre"
101
8.6 Am Vorabend der nationalsozialistischen
Machtergreifung
104
9
,,Führer" der deutschen Leichtathleten
111
9.1 Vom ,,unpolitischen Sportfunktionär" zum Parteimitglied
111
9.2 ,,Gleichschalter" oder ,,gleichgeschaltet"?
119
9.3 Außenpolitische Umsetzung der innenpolitischen
Neuordnung: Die IOC-Session in Wien 1933
127
9.4 Der Kampf um die Zuständigkeit für den Handballsport
131
10
Die Olympischen Spiele 1936
133

3
10.1 Vorbereitung und Organisation der Olympischen
Winterspiele
133
10.2 Die ,,Judenfrage"
139
10.3 Die Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen
147
10.4 Die Leichtathletik bei den Olympischen Spielen
in Berlin
151
11
Exkurs: Der Bankier
157
11.1 Personalchef der Deutschen Bank
157
11.2 Der ,,Freundeskreis Heinrich Himmler"
163
11.3 Im Vorstand der Deutschen Bank
167
11.4 Das Novemberpogrom
173
12
Auf dem Höhepunkt der Macht?
178
12.1 Der Sport in Deutschland nach den Olympischen
Spielen 1936
178
12.2 Neue Ämter
185
12.3 Die Berliner Gesellschaft
193
12.4 Die ausgefallenen Winterspiele 1940
195
12.5 Sport im Krieg
205
12.6 Erfolgloser Einsatz an verschiedenen Fronten
221
12.7 Das Volkssturmbatallion auf dem Reichssportfeld
229
13
Im Lager
232
13.1 Die ,,Verhaftung"
232
13.2 Buchenwald
237
13.3 Die Entlassung
242
14
Rückkehr nach Olympia
246
14.1 Vergangenheitsbewältigung und Rehabilitierung
246
14.2 Widerstand der Alliierten Hohen Kommission
256
14.3 Kontinuität und Zäsuren in Sport und Beruf
262
14.4 Die gesamtdeutsche Olympiamannschaft
273
15
Rückzug in Raten
290
15.1 Die Amateurfrage
290
15.2 Rückkehr in das Exekutivkomitee des IOC
295
15.3 Der Machtwechsel
299
16
Verbitterung und Tod
302
17
Zusammenfassung
306
Quellen- und Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis

4
1
Einleitung
Trotz der weltweiten Popularität des Sports ist die Sportgeschichte
bis heute als Teildisziplin der historischen Wissenschaften ein
Randgebiet geblieben. Dabei bietet der Sport als gesellschaftliches
Massenphänomen
und
beliebtes
Objekt
tagespolitischer
Auseinandersetzung und Inanspruchnahme genug Anknüpfungspunkte für
historisch
ergiebige
Betrachtungen,
die
auch
dem
wachsenden
Interesse an Kultur- und Sozialgeschichte genüge tun.
1
Der Name des lange Jahre amtierenden Präsidenten des NOK für
Deutschland, Karl Ritter von Halt, stand in der Vergangenheit
eindeutig im Schatten Carl Diems, der durch sein breites Engagement
vielfältigen Anlaß für Bewertungen lieferte.
Von Halt hingegen bietet sich als Untersuchungsobjekt in besonderer
Weise an, um die Auswirkungen der Wechselbeziehungen zwischen Sport
und Politik am Beispiel eines ehrenamtlichen Funktionärs, der sowohl
auf nationaler als auch auf internationaler Ebene tätig war,
darzustellen und zu beleuchten.
Die Verbindung zwischen Sport und Politik wurde bisher vorwiegend im
Hinblick auf die Geschichte von Organisationen, Verbänden und
Boykotten untersucht. Die Hintergründe und Motive der handelnden
Personen blieben dabei zwangsläufig im Dunkeln. Am Beispiel von
Halts soll in dieser Arbeit versucht werden, die Lebensgeschichte
eines Athleten und Sportfunktionärs durch die einzelnen Abschnitte
deutscher Geschichte und Sportgeschichte zu verfolgen, um mit diesem
biographischen Ansatz eine neue sporthistorische Dimension
zu
eröffnen.
Dabei
rückt
die
Frage
nach
der
personellen
und
ideologischen Kontinuität in vier Epochen deutscher Geschichte in
den Vordergrund.
Erschöpfende Untersuchungen über die politischen Implikationen des
Sports
liegen
bisher
fast
ausschließlich
für
die
Zeit
der
nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft
vor.
2
Die
wenigen
lebensgeschichtlichen
Betrachtungen
von
Spitzenfunktionären
beschränkten sich ausschließlich auf einen einzelnen Abschnitt
deutscher Geschichte.
3
Aus diesem Sachverhalt, der dem Verfasser
bereits bei den Recherchen für seine Diplomarbeit
4
an der
Deutschen
Sporthochschule Köln
auffiel, erwuchs die Überlegung, mit der
Biographie eines hochrangigen Funktionsträgers einen weiten Bogen
von der Etablierungsphase
des Sports
in der wilhelminischen
Kaiserzeit
über
seine
Blüte
in der
Weimarer Republik
,
der
anschließenden Gleichschaltung im
Dritten Reich
bis hin zur Rückkehr
in den Kreis der geachteten Sportnationen nach 1949 zu schlagen.
1
Vgl.dazu C. E
ISENBERG
, ,,Sportgeschichte. Eine Dimension der modernen
Kulturgeschichte", in:
Geschichte und Gesellschaft
23(1997)3, S.295ff.
2
Hier sind vor allem die im Literaturverzeichnis aufgeführten Arbeiten von
H. B
ERNETT
zu nennen. Den außenpolitischen Bereich hat H. J. T
EICHLER
umfassend dargestellt:
Internationale Sportpolitik im Dritten Reich
,
Schorndorf 1991.
3
Auch für diese These bietet sich Diem als Beispiel an, vgl. H. J.
T
EICHLER
, ,,Die Rolle Carl Diems in der Zeit und im zeitlichen Umfeld des NS-
Regimes", in: SZGS 10(1996)3, S. 56ff. Vgl.dazu auch die methodisch
überzeugende Entgegnung von H. D
WERTMANN
, ,,Die Rolle Carl
Diems
im
nationalsozialistischen Regime", in: SZGS 11(1997)2, S. 7ff.
4
Das bundesdeutsche NOK und die gesamtdeutsche Olympiamannschaft
1949 -
1956
, Diplomarbeit DSHS Köln, 1992.

5
Die immer wieder aufflackernde Diskussion um die Rolle Diems in der
Zeit des Nationalsozialismus hat gezeigt, daß eine ausschließliche
Fokussierung
auf
die
Zeit
zwischen
1933
und
1945
keine
differenzierte
und
gerechte
Beurteilung
einer
Lebensleistung
ermöglicht. Hans-Joachim Teichler weist deshalb zurecht daraufhin,
daß ,,eine isolierte Betrachtung des Wirkens von 1933 bis 1945 [...]
zudem auch eine Auseinandersetzung mit vielen [...] noch aus der
Zeit des Kaiserreichs stammenden Grundüberzeugungen verhindern"
würde.
5
Diesem Ansatz fühlt sich der Verfasser verpflichtet.
5
,,Die Rolle Carl Diems",S.15 [vgl. Anm. 3].

6
2
Zum Stand der Forschung
Die biographische Forschung nimmt innerhalb der Sportgeschichte,
trotz gelegentlicher gegenteiliger Behauptungen
6
, noch immer einen
eher bescheidenen Rahmen ein. Eigenständige Monographien,
die
wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, sind, abgesehen von wenigen
Ausnahmen, lediglich in der von Horst Ueberhorst betreuten Reihe
,,Sportführer im Dritten Reich" erschienen.
7
Dazu treten einige
autobiographische
Darstellungen,
deren
wissenschaftlicher
Wert
allerdings durch ihren apologetischen Charakter gemindert wird.
8
Mit dem Leben und Wirken Karl Ritter von Halts hat sich 1936 als
erster Hermann Hess
9
auseinandergesetzt. Dabei sind Daten und
Ereignisse
bis
zum
45.
Lebensjahr
von
Halts
in
eindeutig
propagandistischer
Absicht
zusammengetragen
worden.
Erste
Bewertungen nahmen aus der Sicht der Geschichte der Olympischen
Bewegung in den fünfziger Jahren Autoren aus der damaligen DDR vor,
die von Halt, der zu dieser Zeit als Verhandlungsführer bei den
Gesprächen über die Bildung gesamtdeutscher Olympiamannschaften
Gegenspieler der ostdeutschen Sportfunktionäre war, als Beispiel der
personellen und ideologischen Kontinuität zwischen dem
Dritten Reich
und der
Bundesrepublik
vorführen und diffamieren wollten. Dabei
zählte Günther Wonneberger von Halt - nicht ohne Grund - ,,zur
Prominenz des faschistischen Staates"
10
, während Lothar Skorning
davon überzeugt war, daß ,,Halt nicht zu den Gleichgeschalteten,
sondern zu den Gleichschaltern" gehörte
11
. Irene Köhler
12
ordnete in
einem Schulbuch von Halt dem ,,engsten Kreis der faschistischen
Führer" zu.
Eine wissenschaftlichen Maßstäben genügende Untersuchung der Person
und der Lebensleistung Karl Ritter von Halts ist hingegen noch nicht
vorgelegt worden. Drei Aufsätze schneiden die Thematik lediglich an:
Die Ausführungen Bernetts
13
stellen einen kurzen Abriß dar, der sich
hauptsächlich auf die SA-Personalakten stützt. Inhaltlich setzt er
sich in erster Linie mit der Rolle von Halts in der Zeit der
nationalsozialistischen Herrschaft auseinander. Auch Karl Lennartz
6
H.
B
ERNETT
,
,,Neue
Aspekte
der
Zeitgeschichte
des
Sports",
in:
Sportwissenschaft 25(1995)2, S. 119ff., 127.
7
H.
U
EBERHORST
,
Edmund Neuendorff - Turnführer ins Dritte Reich
,
Berlin/München/Frankfurt a.M. 1970; D. S
TEINHÖFER
,
Hans von Tschammer und
Osten. Reichssportführer im Dritten Reich
, Berlin/München/Frankfurt a.M.
1973;
A.
K
RÜGER
,
Theodor Lewald - Sportführer ins Dritte Reich
,
Berlin/München/Frankfurt a.M. 1975; H. B
ERNETT
,
Guido von Mengden -
,,Generalstabschef" des deutschen Sports,
Berlin/München/Frankfurt a.M.
1976;
H.
U
EBERHORST
,
Carl
Krümmel
und
die
nationalsozialistische
Leibeserziehung
, Berlin/München/Frankfurt a.M. 1976.
8
Vgl. C
ARL
-D
IEM
-I
NSTITUT
(Hrsg.),
Carl Diem. Ein Leben für den Sport.
Erinnerungen aus dem Nachlaß
, Ratingen/Kastellaun/Düsseldorf [1974].
9
Karl Ritter von Halt
, Berlin 1936.
10
Die Körperkultur in Deutschland von 1945 bis 1961, Geschichte der
Körperkultur in Deutschland
, Bd. 4, Berlin [Ost] 1967, S. 239.
11
Leichtathletik in Vergangenheit und Gegenwart
, Bd. 1, S. 112.
12
Sportgeschichte - Der Weg zu olympischen Medaillen
, Berlin [Ost] 1981,
S. 31
13
Leichtathletik im geschichtlichen Wandel
, Schorndorf 1987, S. 274f.

7
und
Walter
Teutenberg
14
rücken
diesen
Zeitabschnitt
in
den
Vordergrund ihrer Betrachtung. Sie vertreten die nicht weiter
gestützte
These,
daß
von
Halt
,,schon
sehr
früh
dem
Nationalsozialismus nahe [stand] und [...] aus seiner Auffassung
auch kein Geheimnis [machte]".
15
Sehr viel differenzierter geht
hingegen Winfried Joch zu Werke
16
, der Daten und Fakten aus allen
Lebensbereichen von Halts
zusammengetragen
hat und auch
die
Verdienste für und um den Sport nicht außer Acht läßt. Bei den
Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag des
Deutschen Leichtathletik-
Verbands
(DLV) 1998 erfuhr von Halt keine nennenswerte Betrachtung
und Würdigung.
Ein verläßliches
Gesamtbild
läßt
sich
aus den verschiedenen
Interpretationen nicht gewinnen. Somit sind die Uneinheitlichkeit
der
bisherigen
Darstellungen
und
das
Fehlen
einer
epochenübergreifenden
Betrachtung
Anlaß
für
die
vorliegende
Untersuchung. Und das umsomehr, als die Karriere von Halts als
exemplarisch für eine Generation gelten kann, die auf der Grundlage
der
im
Kaiserreich
erworbenen
Mentalität
durch
ihre
Anpassungsbereitschaft an das nationalsozialistische Regime zur
größten Katastrophe der deutschen Geschichte maßgeblich beigetragen
hat, und sich trotzdem nach 1945 - scheinbar problemlos - in die
demokratische Gesellschaft integrieren konnte.
Es besteht die Hoffnung, daß diese Arbeit zu fruchtbaren, auch
kontroversen Diskussionen anregt und der biographische
Ansatz
Nachahmer findet.
14
,,Karl Ritter von Halt (1891-1964)", in: D
EUTSCHER
S
PORTBUND
(H
RSG
.).
Die
Gründerjahre des Deutschen Sportbundes: Wege aus der Not zur Einheit
, Bd.
2, Schorndorf 1990, S. 137ff.
15
L
ENNARTZ
/T
EUTENBERG
, ,,von Halt", S. 139.
16
,,Kontinuität und Wandel, Elend und Würde - Karl Ritter von Halt (1891 -
1964)", in: A. L
UH
/E. B
ECKERS
,
Umbruch und Kontinuität im Sport -
Reflexionen im
Umfeld
der
Sportgeschichte,
Festschrift
für
Horst
Ueberhorst
, Bochum 1991, S. 442ff.

8
3
Untersuchungsgegenstand und Vorgehensweise
Das Lebenswerk der zu untersuchenden Person, in diesem Fall Karl
Ritter von Halt, steht bei einer Biographie zwangsläufig im
Mittelpunkt der Betrachtung, doch im folgenden soll versucht werden,
darüber hinaus ein Bild von der Wechselbeziehung zwischen Sport und
Politik im Leben von Halts zwischen 1891 und 1964 zu gewinnen. Der
Blick richtet sich daher nicht nur auf die persönliche, sondern auch
auf die geschichtliche und sportgeschichtliche Entwicklung des 20.
Jahrhunderts. Die Vorzüge des biographisch-individuellen Ansatzes
wie die Konkretion der allgemeinen Entwicklungen im persönlichen
Bereich und die diachrone Perspektive gilt es dabei in der
Bearbeitung mit generalisierenden Fragestellungen wie beispielsweise
dem Ineinanderwirken von Freiheit und Zwang im politischen und
persönlichen Handeln zu verbinden.
17
Die durch tiefe wirtschaftliche,
gesellschaftliche,
alltagsgeschichtliche
und
politische
Brüche
gekennzeichnete Geschichte Deutschlands und des deutschen Sports
wird dabei durch die Lebensgeschichte von Halts gewissermaßen
zusammengehalten.
Die Grundlage der Untersuchung bilden die verfügbaren Quellen, bei
deren Auswertung angesichts der weit verstreuten Aktenbestände und
des Fehlens eines geschlossenen Nachlasses kein Anspruch auf
Vollständigkeit erhoben werden kann. Private Aufzeichnungen fehlen,
abgesehen von den Tagebüchern des Ersten Weltkriegs, weitgehend.
Neben
die
Beleuchtung
der
Auswirkungen
der
politischen
Rahmenbedingungen
auf
den
Sport
treten
Betrachtungen
aus
wirtschaftsgeschichtlicher Warte, da von Halt als Prokurist des
jüdischen Bankhauses
H. Aufhäuser
und später als Vorstandsmitglied
der
Deutschen Bank
auch in dieser Hinsicht äußerst interessante
Ansatzpunkte bietet, die dank der vergleichsweise guten Quellen- und
Literaturlage
18
tiefgehende Einblicke in sein Verhalten im Beruf und
in den ehrenamtlichen Funktionen in der Zeit des
Dritten Reichs
erlauben.
Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Erfahrungen
eines
Menschen,
der
seine
Primärsozialisation
politisch
im
Kaiserreich und - in Bezug auf den Sport - im nationalgesinnten
Lager der Turner erfahren hat. Eine quellenkritische Auswertung
überlieferter Berichte
19
sowie die Untersuchung von Lorenz Peiffer
20
17
vgl. dazu die methodisch grundlegenden Ausführungen von U. H
ERBERT
,
Best.
Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903 -
1989
, Bonn 1996, S. 19ff.
18
Hier ist vor allem das umfangreiche Historische Archiv der Deutschen
Bank in Frankfurt a.M. zu nennen. Eine umfassende Bearbeitung der
Geschichte des größten Deutschen Bankinstituts liefert der Jubiläumsband
von L. G
ALL
u. a.: Die Deutsche Bank 1870 - 1995, München 1995. Auch die
Geschichte des Bankhauses Aufhäuser ist dokumentiert und kommentiert: E.
M
OSER
/R. W
INKLER
:
Wegmarken - 125 Jahre Bankhaus H. Aufhäuser
, München 1995.
19
Dabei
ist
neben
verschiedenen
nachträglich
verfaßten
Augenzeugenberichten von langjährigen Wegbegleitern vor allem die durch
VON
H
ALT
authorisierte ausführliche Lebensbeschreibung von H. H
ESS
zu erwähnen.
20
Die Deutsche Turnerschaft - Ihre politische Stellung in der Zeit der
Weimarer Republik und des Nationalsozialismus
, Ahrensburg 1976.

9
und weitere
Ausarbeitungen
über
die
politische
Haltung
der
Turnerschaft bieten hier eine vielversprechende Basis. Die dabei
gewonnen
Erkenntnisse
im Hinblick
auf
Grundüberzeugungen
und
Handlungsschemata können anhand der erstmals zur Verfügung stehenden
Tagebücher, die von Halt während des Ersten Weltkriegs geführt hat
und die als autobiographische Quelle einer genauen und ausführlichen
Untersuchung unterzogen werden sollen, verifiziert werden.
Inwieweit
das
extreme
Kriegserlebnis,
das
einschließlich
Gefangenschaft länger als fünf Jahre dauerte, das Weltbild von Halts
nachhaltig geprägt oder verändert hat, soll anhand verschiedener
Veröffentlichungen
21
aus seiner
Feder
in der Phase
bis
zur
Währungsreform 1923 untersucht werden, wobei vor allem zu klären
ist, ob und welche Beziehungen und inhaltliche Übereinstimmungen zu
den revisionistischen oder gar völkischen Strömungen bestanden.
22
Der endgültige Wechsel in das Lager des bürgerlichen und nach
eigenem damaligen Verständnis ,,unpolitischen" Sports bewirkte bei
von Halt Mitte der zwanziger Jahre eine Hinwendung
zu den
internationalen Organisationen des Sports, denen er bis zu seinem
Tod durch die Mitgliedschaft im
Internationalen Olympischen Komitee
verbunden blieb. Da die Archivalien aus dieser Zeit verlorengegangen
sind, muß dabei in erster Linie auf entsprechende Beiträge in
einschlägigen Sportfachzeitschriften zurückgegriffen werden.
23
Der
Übergang
von
der
ersten
deutschen
Demokratie
zum
nationalsozialistischen
Führerstaat
stellt
bei von
Halt
eine
besondere Herausforderung dar, mutiert der vorher ,,unpolitisch"
erscheinende
und
auf
den
ersten
Blick
vornehmlich
sachlich
orientierte Spitzenfunktionär doch in wenigen Monaten zum ,,Führer
der deutschen Leichtathleten" und Parteimitglied. Da eine genaue
Untersuchung der Motive und einzelnen Schritte dieses Wandels bisher
für keinen vergleichbaren Amtsträger im Sport vorgelegt wurde
24
, soll
21
Neben dem Lehrbuch
Die Leichtathletik. Eine Einführung für alle in
Technik, Training und Taktik der Leichtathletik
, Stuttgart 1922, das über
den fachlichen Teil hinaus mit einer Reihe von politischen Bemerkungen
versehen ist, steht dabei vor allem die an der Universität München im Fach
Staatswirtschaft vorgelegte Dissertation mit dem Titel
Die Pflege der
Leibesübungen
an
Hochschulen.
Ein
Beitrag
zur
regenerativen
Bevölkerungspolitik
, München 1922, zur Verfügung.
22
Zu den politischen Entwicklungen in München zwischen dem Ersten
Weltkrieg und der nationalsozialistischen Machtergreifung hat D. C. L
ARGE
eine aufschlußreiche Bearbeitung vorgelegt
, Hitlers München - Aufstieg und
Fall der Hauptstadt der Bewegung
, München 1998. Entsprechend umfassende
Betrachtungen über die Verstrickung des deutschen Sports in den Abschnitt
des nationalen Revanchismus zwischen 1918 und 1923 gibt es hingegen nicht.
Aus diesem Grund mußte zum Ausleuchten des sportpolitischen Hintergrunds
auf Beiträge in verschiedenen Sport- und Tageszeitungen zurückgegriffen
werden.
23
Diese sind glücklicherweise reichlich vorhanden. Die Existenz von zwei
Leichtathletik-Zeitschriften, wobei
Der Leichtathlet
vom Berliner Limpert-
Verlag und
Start und Ziel
von der Sportbehörde für Leichtathletik als
Verbandsorgan herausgegeben wurde, belegt generell das enorme Interesse an
der Sportart in der Zeit zwischen 1925 und 1933.
24
Diese Lücke schloß W. M
ASER
für den Bereich der Kultur mit der Biografie
Heinrich George - Mensch aus Erde gemacht
, Berlin 1998.

10
dies im Rahmen dieser Untersuchung ausführlich geschehen. Auch dabei
wird
in
Ermanglung
autobiographischer
Aufzeichnungen
auf
Zeitschriftenbeiträge
und
die
Ausführungen
von
Halts
im
Entnazifizierungsverfahren
zurückgegriffen.
25
Der
Grad
seiner
späteren Verstrickung in die nationalsozialistische Außen- und
Innenpolitik
soll
anhand
ausgewählter
Themenkomplexe
wie
der
Olympischen Winterspiele
1936 in Garmisch-Partenkirchen und ihrer
ausgefallenen Neuauflage 1940 in Augenschein genommen werden.
Zum Schluß steht nach einem Abschnitt über die Zeit der Inhaftierung
in verschiedenen sowjetischen Speziallagern von Halts Integration in
die demokratisch
verfaßte
Gesellschaft
der
Bundesrepublik
im
Blickpunkt. Dabei soll untersucht werden, ob und unter welchen
Bedingungen
die
in
sporthistorischen
Publikationen
bisher
durchgängig behauptete Kontinuität zwischen dem
Dritten Reich
und
der Bundesrepublik bestanden hat.
26
Für den Zeitraum zwischen 1950 und 1964 steht eine kaum zu
überblickende Fülle von Primärquellen zur Verfügung, die durch die
Akten ostdeutscher Provenienz weiter ergänzt werden.
27
Die Position
von Halts
soll
dabei
unter
anderem
in
einer
ausführlichen
Untersuchung seiner Rolle beim Zustandekommen der gesamtdeutschen
Olympiamannschaften unter
die Lupe
genommen
werden,
die als
Brennpunkt der innerdeutschen Politik bisher noch nicht Gegenstand
einer
umfassenden,
wissenschaftlichen
Maßstäben
genügenden
Bearbeitung gewesen sind.
25
Die
entsprechenden
Akten
sind
ebenfalls
bisher
von
der
sportgeschichtlichen Forschung nicht untersucht worden. Sie befinden sich
im
Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchiv
, Düsseldorf, NW-1091-18067.
26
So K. L
ENNARTZ
/W. T
EUTENBERG
, die ihn als ,,beispielhaft für die personelle
Kontinuität im Sport" sehen, ,,Karl Ritter von Halt", S. 142.
27
Die
Hoffnung
auf
eine
umfassende
Akte
des
Ministeriums
für
Staatssicherheit
der
ehemaligen
DDR
erfüllte
sich
trotz
mehrfacher
Recherchen in der
Gauck-Behörde
nicht. Dort ließen sich lediglich im
Zusammenhang mit von Halts Mitgliedschaft im
Freundeskreis Heinrich Himmler
1969 angefertigte Vorgänge ermitteln, Hauptabteilung IX/11, RHE 36/67 UVR.

11
4
Der Sportler
4.1 Jugend im Kaiserreich
Karl Ferdinand Halt kam am 2. Juni 1891 als ältestes Kind des
Kunstschlossermeisters Karl Halt und dessen Frau Katharina Halt,
geborene Gaab, in München zur Welt. Sein Vater, ein gebürtiger
Schwabe aus Ludwigsburg, war einige Jahre zuvor in die bayerische
Hauptstadt gezogen, weil er sich dort bessere Arbeitsmöglichkeiten
und
größeren
Verdienst
erhoffte.
Halts
Mutter,
gebürtige
Münchenerin, stammte wie der Vater aus einer alten Handwerksfamilie,
deren Vorfahren sich bis in die Zeit der Zünfte zurückverfolgen
lassen.
Politisch und wirtschaftlich waren die letzten Jahre des 19.
Jahrhunderts bewegte Zeiten. Die Industrialisierung hatte
aus
Deutschland nach der Reichsgründung eine Großmacht werden lassen.
Die Bevölkerung nahm zwischen 1880 und 1910 um fast 50 Prozent zu.
Die Einwohnerzahl der bayerischen Metropole erhöhte sich in dieser
Zeit von 230.000 auf 596.000.
28
Den größten Teil des gewaltigen
Bevölkerungswachstums machten Zuwanderer wie Karl Halt Senior aus.
Nach der Geburt des ersten Kindes in der Münchener Goethestraße in
der Nähe des Hauptbahnhofs bezog die Familie im aufstrebenden
Schwabing, dem damals nördlichsten Teil der Residenzstadt, der im
November 1890 eingemeindet worden war, eine kleine Wohnung.
In der ehemaligen Hauptstadt des bayerischen Königreichs hatte man
sich zwanzig Jahre nach der Gründung des
Deutschen Reichs
mit der
Staatsgründung und dem damit verbundenen Verlust der politischen
Eigenständigkeit - wenn auch schweren Herzens - abgefunden. Im Krieg
gegen Frankreich 1870/71 hatten die Bayern bereits an der Seite
Preußens gekämpft. Bei der anschließenden Reichsgründung durften
die
Wittelsbacher
nur
nach
energischer
Intervention
einige
Sonderrechte behalten.
Nach dem Tod des vorher schon entmachteten Landesfürsten war 1886
Prinzregent Luitpold an die Macht gekommen. Unter ihm erlangte die
,,Liberalitas Bavariae" ihre größte Blüte
29
. In der aufgeschlossenen
Atmosphäre Münchens fanden namhafte Künstler wie Franz von Lenbach,
Wassily Kandinsky und Franz Marc, die in anderen Teilen des Reichs
wegen kritischer politischer Äußerungen Schwierigkeiten bekommen
hatten, die Möglichkeit künstlerischer Entfaltung. Die nach wie vor
ungelösten sozialen und politischen Spannungen waren damit jedoch
noch lange nicht überwunden. Die Einheimischen, in der Regel
konservativ und monarchistisch eingestellt, standen den zugereisten
Intellektuellen,
die
fortan
einschlägige
Schwabinger
Cafés
bevölkerten, reserviert gegenüber.
30
Ein Jahr nach der Geburt von Karl Halt kam seine Schwester Berta zur
Welt, ein weiteres Jahr später wurde Bruder Ferdinand geboren. Die
28
Diese Summe entspricht einer Zunahme um 159 Prozent, vgl: R. B
AUER
/ E.
P
IEPER
,
München. Die Geschichte einer Stadt
, München 1993, S. 205.
29
Vgl. U. N
ÖHBAUER
,
Die Chronik Bayerns
, 3. Aufl., Gütersloh/München 1994,
S. 375ff.
30
Zur sogenannten Schwabinger Bohéme: L
ARGE
,
Hitlers München,
S. 30ff.

12
wirtschaftliche Lage der Familie war dank der Festanstellung des
Vaters zwar bescheiden, aber vergleichsweise erträglich. Das Pro-
Kopf-Einkommen
der
Bewohner
Münchens
hatte
mit
dem
Bevölkerungswachstum Schritt gehalten und sich zwischen 1880 und
1910 verdoppelt
31
, wenn sich der Reichtum auch in den Händen weniger
konzentrierte. Handwerker wie Karl Halt Senior konnten sich zum
unteren Bereich der in dieser Zeit neu entstehenden Mittelschicht
zählen. Der Aufstieg in höhere Gesellschaftsebenen war ihnen jedoch
durch das fehlende Adelsprädikat und die geringe Anerkennung ihres
Standes durch das Großbürgertums verstellt. Ein Malus, den die
Mehrzahl
der ,,Mittelständler"
durch
deutliche
Abgrenzung
zur
proletarischen
Arbeiterschaft
und
unbedingter
Loyalität
zu
Kaiserreich und bayerischer Monarchie auszugleichen versuchte.
Als Karl Halt drei Jahre alt war, stürzte ein schweres Unglück die
Familie in große Schwierigkeiten. Bei einem Einsatz der Freiwilligen
Feuerwehr
verunglückte
sein
Vater
nach
einer
Benzinexplosion
tödlich. In einer Münchener Zeitung wurde er als Held gefeiert, ,,der
sein Leben für andere gelassen" habe
32
. Die Brandkatastrophe, bei der
insgesamt neun Feuerwehrleute, darunter der Bruder von Karl Halt
Senior, Julius Halt, starben oder schwer verletzt wurden, fand große
öffentliche Anteilnahme. Der Prinzregent des Hauses Wittelsbach
zeigte an der Genesung der Opfer ,,lebhaftes Interesse"
33
, was den
ältesten Sohn des Toten nicht unbeeindruckt ließ. Dank eines
Wohltätigkeitskonzertes und einer Unterstützungszahlung durch eine
private
Wohlfahrtsorganisation
sowie
eine
Einmalzahlung
des
Münchener Stadtmagistrats in Höhe von 1000 Reichsmark stand die
Familie zumindest nicht völlig mittellos da.
Die Mutter, damals 27 Jahre alt, sah sich und die drei Kinder nach
dem Tod des Ernährers vor große wirtschaftliche Probleme gestellt
und zog in eine preiswertere Wohnung um. Zwei Jahre nach dem Tod des
Ehemannes heiratete Katharina Halt ihren Schwager, den bei der
Brandexplosion schwerverletzten Kaufmann Julius Halt, von dem sie
1897 eine Tochter mit Namen Olga gebar. Julius Halt war bei der
Münchener Firma Heinrich Ries als Buchhalter beschäftigt und
verfügte über ein gesichertes Einkommen.
Über das Verhältnis Karl Halts, der als Halbwaise bereits früh mit
den tragischen Seiten des Lebens Bekanntschaft machen mußte und ohne
Vater aufwuchs, zum neuen Ehemann der Mutter ist wenig bekannt. Heß
schreibt, daß er seinen ,,neuen Vater aus alter Gewohnheit" auch
weiterhin ,,Onkel" nannte
34
. In die Rolle des Vaters scheint Julius
Halt demnach für Karl Halt nicht gerückt zu sein, auch wenn dieser
die Beziehung rückblickend als ,,gut" bezeichnete.
35
Die finanziellen Probleme hatten durch die neuerliche Verbindung der
Mutter ein Ende, die Familie zog wieder in den Münchener Norden in
31
Ebenda.
32
Volks-Zeitung
, München, 11. August 1894. Kopie im Besitz des Verfassers.
33
Münchner Neueste Nachrichten
, undatierter Zeitungsauschnitt. Kopie im
Besitz des Verfassers.
34
H
ESS
,
von Halt
, S. 11.
35
Elfriede Rahn-Kaun, Bronzemedaillengewinnerin im Hochsprung 1936, in
einem Gespräch mit dem Verfasser.

13
die Nähe des Oberwiesenfeldes um, wo Julius Halt ein kleines Haus
besaß. Hier besuchte Karl Halt vier Jahre lang die Volksschule,
bevor er 1901 die Aufnahmeprüfung für die
Königliche Luitpold-
Kreisrealschule
bestand. Bereits mit sieben Jahren begann er sein
erstes Tagebuch
36
. In der Volksschule stach er vom ersten Tag an
durch großen Ehrgeiz hervor. ,,Er blieb immer der Musterschüler der
Klasse. Unter sechzehn Noten fanden sich meist sechzehn Einser."
37
Auch das Interesse an Musik war groß. Mit einer zu Weihnachten
geschenkten
Violine
brachte
er
es
zum
ersten
Geiger
des
Schülerorchesters.
38
Mit
zehn
Jahren
sah
Halt
im
Münchener
Volkstheater sein erstes Bühnenstück:
Wilhelm Tell
. ,,Bin sehr
begeistert", vertraute er seinem Tagebuch an.
39
Die hier aufgeführten Einzelheiten lassen für Karl Halt bereits als
Grundschüler das Bild eines ehrgeizigen Jungen mit vielseitigen
Talenten entstehen, der sich durch Leistung von den anderen
abzugrenzen verstand. Das Interesse am Vergleich scheint bereits in
frühester Jugend ein wesentliches Charaktermerkmal des ohne Vater
aufgewachsenen Jungen gewesen zu sein. Als ältestes Kind einer
verwitweten Mutter wurde er dazu sehr früh in die Verantwortung
genommen, sich um die kleineren Geschwister zu kümmern. Gleichzeitig
belegt das Bestreben, in allen Bereichen den Anforderungen zu
genügen, oder gar aus der Masse herauszuragen, ein früh entstandenes
Pflichtbewußtsein.
36
Die Tagebücher aus den Jahren 1901 bis 1914 sind verschollen.
37
H
ESS
,
von Halt
, S. 11
38
Ebenda.
39
Zitiert nach H
ESS
,
von Halt
, S. 12.

14
4.2 Die Königliche Turnschule Oberwiesenfeld
Neben den im Münchener Norden beheimateten Kasernen der bayerischen
Armee mit ihren Militärumzügen zog Halt in der Umgebung der
heimischen
Wohnung
sehr
schnell
die
Königliche
Turnschule
Oberwiesenfeld
in ihren Bann.
40
Als Volksschüler kam er hier im Alter
von sieben Jahren zum ersten Mal mit dem deutschen Turnen in
Kontakt. Die stramme Führung durch Vorturner und Lehrer befriedigte
offensichtlich das Bedürfnis des vaterlosen Jungen nach Autoritäten.
Den Ablauf in der Turnschule, eine staatliche Institution mit
militärischem Charakter, verherrlichte Heß: ,,Da [ging] es lustig zu,
wenn auch zuerst immer nach dem Kommando eines Turnlehrers geturnt
wird. Erst die Arbeit, dann das Spiel; diese Lebensweisheit wird
schon den Kleinen eingehämmert."
41
Da
ein
großer
Ehrgeiz
auch
bei
den
Leibesübungen
Halts
vorherrschender Charakterzug war, brachte er schon vom ersten
Wetturnen einen fünften Preis mit Urkunde und Diplom nach Hause. Die
Eltern zeigten sich beeindruckt und legten ihre zuvor gehegten
Bedenken gegen die körperliche Betätigung ihres Ältesten ab. Fortan
durfte ihn auch Bruder Ferdinand zum Oberwiesenfeld begleiten.
42
Nach der Volksschule, in der Halt bereits durch hervorragende Noten
aufgefallen war, zeigte er auch auf der Kreisrealschule weit
überdurchschnittliche Leistungen. 1908 verließ er im Alter von 16
Jahren die Schule mit der Absolutorialprüfung und dem besten
Zeugnis von ganz Oberbayern.
43
,,Sein Wissensdurst und Aufnahmevermögen wirkten auf
seine Eltern manchmal geradezu erschreckend. So trieb er
in Göppingen aus eigenem Antrieb Geschichtsforschungen,
indem er den Hohenstaufen mit seiner Burgruine von allen
Seiten
einer
gründlichen
Untersuchung
unterzog.
Wochenlang wußte er von dem Gemäuer der Ruine und dem
vergangenen Fürstengeschlecht zu erzählen."
44
In der Turnschule Oberwiesenfeld brachte es Halt schnell zum
Vorturner. Der Sportjournalist Franz Miller, der bei den Olympischen
Spielen 1936 in Berlin als Starter der Leichtathletik-Wettkämpfe
fungierte, erinnerte sich an ihn als ,,höchste Respektsperson."
45
Die zehn Jahre in der Turnschule vermittelten Halt eine gute
körperliche Grundausbildung und damit beste Voraussetzungen für
seine spätere Karriere als aktiver Sportler. Die Verbindung von
40
Heute befindet auf diesem Gelände der Münchener Olympiapark
41
H
ESS
,
von Halt
, S. 12.
42
Ferdinand Halt blieb fortan den Leibesübungen treu. Später fand er wie
sein
Bruder
den
Weg
zur
Sportabteilung
der
Turngemeinde
München,
darüberhinaus war er ein begeisterter Skiläufer. Er starb 1912 an den
Folgen einer Lungenentzündung, die er sich beim Wintersport zugezogen
hatte.
43
H
ESS
,
von Halt
, S. 13.
44
Ebenda.
45
F. M
ILLER
, ,,Dr. Karl Ritter von Halt", in:
Olympisches Feuer
8(1957)2, S.
17.

15
Leibesübungen und national-konservativer Überzeugung im Sinne Jahns,
die zu dieser Zeit in den Turnanstalten ebenso wie in der
Deutschen
Turnerschaft
gepflegt wurde, legte in ihm den Grundstein einer
,,politischen" Betrachtung der körperlichen Bewegung, die bei den
Turnern nicht nur um ihrer selbst willen betrieben wurde.
Gesellschaftlich blieb das Turnen jedoch die Freizeitbeschäftigung
der unteren Mittelschicht. Die besser gestellten Großbürger und die
Adeligen des Wilhelminischen Kaiserreiches und des Wittelsbacher
Königshauses entdeckten
in der Zeit
um die Jahrhundertwende
zunehmend
den englischen
,,Gentleman-Sport"
als
geeignete
und
angemessene
Freizeitbeschäftigung
für
die
gehobenen
Gesellschaftsschichten.
Die
bürgerlichen
Kreise
ahmten
diese
Neuorientierung nach und organisierten sich in eigenen Vereinen und
Verbänden. So wurde 1898 die
Deutsche Sportbehörde für Athletik
gegründet, während der Aufbau eines
Süddeutschen Athletik-Verbandes
noch auf sich warten ließ. Obwohl vor allem der Wettkampfgedanke des
Sports auf das aufstrebende Bürgertum eine starke Anziehungskraft
ausübte, stand die Leichtathletik in Deutschland noch am Anfang
ihrer Entwicklung und wurde in erster Linie in den Turnvereinen als
Ausgleich zu den gymnastischen Übungen betrieben.
Das starre System des Turnens mit seiner militärischen Organisation
und
festgefügten
Bewegungsfolgen
zwängte
einen
jungen
und
leistungswilligen Athleten wie Halt in ein enges Korsett von
Vorgaben und Ritualen. Auch wenn die Turnvereine und -anstalten in
der Konzeption ihrer Leibesübungen im Laufe der Jahre gewisse
Konzessionen an den Zeitgeist machten, wurde die Lockerung des
starren Turnsystems in der Oberwiesenfelder Turnanstalt nur
behutsam vorangetrieben.
46
Die ,,Versportung" der Leibesübungen, von
der sich Halt stark angezogen fühlte, war jedoch nicht mehr
aufzuhalten.
1908
entschied
sich
Halt
endgültig
zu
einem
Wechsel
zur
Sportabteilung der
Turngemeinde München
, und begab sich damit, wenn
auch als ,,Nichtturner" und damit als Außenseiter, auch offiziell
unter das Dach der
Deutschen Turnerschaft
, die in den Jahren vor der
Jahrhundertwende im Dienste nationaler Bestrebungen zu einem großen
Gesinnungsverband gewachsen war.
47
Ausgehend von den Gedanken Jahns
über ein ,,vaterländisches Turnen", die unter den Voraussetzungen der
französischen
Fremdherrschaft
und
der
inneren
Zerrissenheit
Deutschlands
entwickelt
worden
waren,
galt
der
Dienst
für
Deutschland in der Turnerschaft als hohes Gut. ,,Als kulturelles Erbe
verstanden die Turner alle Beiträge zur Bewahrung der deutschen
Kultur
vor Überfremdung,
die romantische
Pflege
altdeutscher
Vergangenheit und all das, was zur Erhebung und Erbauung des
deutschen Selbstverständnisses beitrug [...]."
Neben der damals vorherrschenden Natur- und Heimatromantik, die zur
Zeit des Jugendstils unter anderem in der Wandervogelbewegung ihren
46
,,Erst die Arbeit, dann das Spiel", zitiert nach nach H
ESS
, von Halt
, S.
12.
47
Für den Wechsel schien die Bekanntschaft mit einem befreundeten Athleten
ausschlaggebend gewesen zu sein, vgl.
Kriegstagebücher
,
Eintrag
vom
23.Dezember 1916,
Deutsches Sportmuseum
, Köln.

16
Ausdruck fand, gehörte auch imperialistisches Gedankengut zu den
Grundüberzeugungen der
Deutschen Turnerschaft
. Das Streben nach
Weltgeltung und angemessener Stellung im Spiel der Mächte wurde von
Wilhelm II. propagiert und in seiner Vorliebe für die Flotte
vorgelebt. Die Aufgabe der Turner sah der Verband in diesem
Zusammenhang darin, die deutsche Jugend wehrhaft und kriegstauglich
zu machen.
Mit seiner Körpergröße von 1,92 Metern und einer kräftigen Statur
waren für Halt zählbare Erfolge im Turnen nur sehr schwer zu
erreichen, was mit seinem großen Ehrgeiz nicht zu vereinbaren war.
Seine vielseitigen körperlichen Fähigkeiten, die er sich in den
Jahren auf dem Oberwiesenfeld erarbeitet hatte, prädistinierten ihn
dagegen geradezu zum leichtathletischen Mehrkampf, der in den
nächsten Jahren sein Leben bestimmen sollte. Dazu kam, daß sich in
Süddeutschland bereits drei Jahre vor der Gründung eines eigenen
Verbandes das Interesse an leichtathletischen Wettkämpfen deutlich
verstärkt hatte.
48
Der Vergleich mit Konkurrenten, ein entscheidener Wesenszug des
Sports, war für den ehrgeizigen Halt zu Beginn seiner Sportkarriere
bereits von großer Bedeutung:
,,Und wenn ich dann sehe, daß in mir körperliche Anlagen
schlummern, dann versuche ich den Grad der technischen
Vervollkommnung zu erreichen, der mir gestattet, meine
Kräfte mit anderen Mitmenschen im friedlichen Wettstreit
auf
dem
Rasenboden
zu
messen.
[...]
Ein
unbeschreibliches Glücksgefühl berauscht mich, wenn ich
gesiegt habe, wenn mein Körper einen anderen bezwungen
hat. Wer es einmal empfunden hat, jenes Siegesgefühl,
der lebt in anderen Regionen und bleibt dem Sport
treu."
49
48
Vgl. dazu:
Der Leichtathlet
4(1928)5, S. 11.
49
K. R
ITTER VON
H
ALT
,
Die Leichtathletik. Eine Einführung für alle in
Technik, Training und Taktik der Leichtathletik
, Stuttgart 1922, S. 10.

17
4.3 Banklehre und Sportler im Turnverein
Nachdem
Halt
1907
die
Kreisrealschule
in
der
Schwabinger
Giselastraße mit einem hervorragenden Abschlußzeugnis hinter sich
gebracht hatte, wechselte er auf die
Luitpold-Kreisoberrealschule
,
die er jedoch nach zwei Jahren kurz vor dem Abitur wieder verlassen
mußte, als sein Stiefvater und damit der einzige Ernährer der
Familie verstarb.
50
Da Julius Halt 25 Jahre lang als Buchhalter
angestellt gewesen war, stand Katharina Halt zwar eine Witwenrente
zu, die jedoch für den Lebensunterhalt der Familie allein nicht
ausreichte. So war ihr ältester Sohn gezwungen, im November 1909 bei
einer Filiale der
Deutschen Bank
in der Münchener Innenstadt eine
Lehre zu beginnen, und nebenher mit dem Geld aus Nachhilfestunden,
die er Gymnasiasten erteilte, zum Auskommen der Familie beizutragen.
Da
es
zu
dieser
Zeit
keine
Berufsschulen
und
keinen
Ausbildungsuntericht
für
Lehrlinge
gab,
besuchte
Halt
nach
Dienstschluß in der Bank die Münchener
Handelshochschule
. Als
Privatstudierender kehrte
er gleichzeitig
an die
Luitpold-
Oberrealschule
zurück und legte dort
zwei
Jahre
später
die
Abiturprüfung ab. Die bescheidene finanzielle Situation der Familie,
für die er sorgen mußte, bestärkte ihn in dieser Zeit in seinem
Ehrgeiz, sich in eine höhere Gesellschaftsschicht emporzuarbeiten,
um damit die private wirtschaftliche Situation zu verbessern.
In München hatte in den Jahren nach der Jahrhundertwende die Zeit
der sogenanten
,,Münchener
Moderne"
begonnen,
auch
wenn
sich
Veränderungen infolge der vielbeschworenen ,,Alten Gemütlichkeit" nur
langsam durchsetzen konnten.
51
Die süddeutsche Wirtschaft erlebte
einen enormen Aufschwung, der Industrialisierung in der bayerischen
Metropole war in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ein letzter
Boom
beschert.
52
Die
wirtschaftliche
Situation
weiter
Bevölkerungskreise konnte damit nicht Schritt halten, auch wenn
sich die Lage der Lohnabhängigen weiter verbessert hatte. 1907
verdienten neun von zehn Münchener Steuerzahlern weniger als 2000
Mark im Jahr, während eine Durchschnittsmiete 30 Mark pro Monat
betrug.
53
Der Beginn der Banklehre sollte für Halt der Start in eine bessere
Zukunft sein. Er wurde deshalb zusätzlich zur Ausbildung und seinen
Studien
an
der
Kreisoberrealschule
noch
Mitglied
in
einem
Sprachverein, wo er Englisch und Französisch lernte, um für eine
gehobene Stelle in der Bank gerüstet zu sein.
54
Um diese vielen
50
Lebenslauf vom 22. März 1922, Promotionsakte Karl Halt,
Ludwig-
Maximilians-Universität, Archiv
, München, M-II-45pr. Julius Halt starb am
30. April 1908 an den Langzeitfolgen der schweren Verbrennungen, die er bei
dem Einsatz der Freiwilligen Feuerwehr erlitten hatte, bei dem der Vater
von Karl Halt sein Leben verlor. Todesanzeige vom 3. Mai 1908, Kopie im
Besitz des Verfassers.
51
In
seinem
Doktor
Faustus
beschreibt
Thomas
Mann,
wie
diese
Grundeinstellung nach dem Krieg in eine Art ,,kollektive Gemütskrankheit"
umschlug, Frankfurt a. M. 1990 (Taschenbuchausgabe).
52
Vgl. N
ÖHBAUER
,
Chronik
, S. 423 ff.
53
B
AUER
/P
IEPER
,
München
, S. 210.
54
H
ESS
,
von Halt
, S. 16.

18
verschiedenen Aufgaben bewältigen zu können, war die Zeit nach
Dienstschluß
komplett
verplant.
Dazu
traten
noch
die
Trainingseinheiten auf dem Sportplatz. Für Privatleben war in diesem
dichtgedrängten Terminkalender kein Platz mehr.
Die Vielzahl unterschiedlicher Betätigungsfelder und das Streben
nach Abschlüssen und Zusatzqualifikationen, die seiner späteren
beruflichen Stellung nützlich sein könnten, ließ für Halt in dieser
Zeit das Bild eines zielgerichteten Karrieristen entstehen, der
seine berufliche Zukunft bis ins Detail vorausplante. Er war bereit,
viel Zeit und enorme Mühen zu investieren, um dem kleinbürgerlichen
Milieu entfliehen zu können. Halt wollte gut vorbereitet sein, wenn
sich die Gelegenheit ergeben sollte, den sozialen Aufstieg in die
,,besseren Kreise" der Münchener Gesellschaft wagen zu können.
Der Konflikt zwischen Turnen und Sport befand sich bei Halts
Eintritt
in
die
Deutsche
Turnerschaft
(DT)
in
einer
zwischenzeitlichen Entspannungsphase. Ein Jahr zuvor hatte der
Deutsche Turntag den Beitritt der
DT
zum
Deutschen Reichsausschuß
für Olympische Spiele
(DRAfOS) beschlossen. Bei den Olympischen
Spielen 1908 in London war erstmals eine offizielle Riege bei
Demonstrationswettbewerben an den Start gegangen. Nach einer Serie
überraschender sportlicher Mißerfolge verstärkte sich jedoch die
ablehnende Haltung bei den Turnern wieder. Vier Jahre später, bei
den Olympischen Spielen in Stockholm, verzichtete die Turnerschaft
erneut auf die Entsendung einer offiziellen Aktivenvertretung.
Aus den Wettübungen der Turner waren in München bereits um die
Jahrhundertwende eigene Sportabteilungen hervorgegangen, in denen
vor allem leichtathletische Übungen betrieben wurden.
55
Im
MTV 1879
München
, dem Halt in den letzten Kriegstagen 1918 beitreten sollte,
hatte sich schon vor der Jahrhundertwende eine leistungsstarke
Leichtathletik-"Riege" gebildet. Der Amerikaner James Cushing hatte
1897 den ersten ,,nagelbewehrten Rennschuh"
56
in die Stadt gebracht.
Der
Turnverein München 1860
gründete 1908 eine ,,Naturriege", um ,,die
Vorherrschaft Berlins in volkstümlichen Wettbewerben zu brechen"
57
.
Bis auf den Mittelstreckenläufer Hanns Braun
58
, der aus dem einzigen
,,echten"
Sportverein
der
Stadt,
dem
Münchener
Sport
Club
hervorgegangen
war,
gehörten
bis
zum
Ersten
Weltkrieg
alle
leistungsstarken Münchener Leichtathleten Turnvereinen an, die sich
nach wie vor der Jahnschen Volkstumsideologie verpflichtet fühlten.
Da sich der Konflikt zwischen Turnen und Sport neben den Differenzen
über
eine
breiten-
oder
leistungssportliche
Grundlage
der
Leibesübungen zunehmend an der internationalen Orientierung des
Sports und seiner Zugehörigkeit zur Olympischen Bewegung entzündete,
bewegten sich die ,,Sportler" innerhalb der Turnvereine auf
55
Zur Geschichte der Leichtathletik: H.
B
ERNETT
:
Leichtathletik im
geschichtlichen Wandel
, Schorndorf 1987.
56
Zeitungsausschnitt o.O. und J.,
Archiv Männer Turnverein 1879 München
,
Kopie im Besitz des Verfassers.
57
B
ERNETT
,
Leichtathletik
, S. 88.
58
Braun war der Sohn eines bekannten Münchener Malers und gehörte zwischen
1908 und 1914 zu den weltweit besten Mittelstreckenläufern. Er starb im
Oktober 1918 als Pilot einer deutschen Militärmaschine.

19
schwierigem Terrain. Zu lösen war diese Problemstellung nur durch
ein vorbehaltloses Eintreten für nationale Überzeugungen und Ziele,
um sich die Anerkennung der konservativen Turner zu sichern.
Mit der Amtsübernahme durch Carl Diem, der seinen Vorgänger Georg
Demmler 1908 ablöste, wurde die Leichtathletik in der DSBfA deshalb
zwischenzeitlich
zur
nationalen
Mission,
ohne
jedoch
die
internationale Ausrichtung in Frage zu stellen. Dieses Bekenntnis
entsprach einer vorbehaltlosen Identifizierung mit des Kaiserreich
und dem Staat Wilhelms II. Die Sportbehörde, in dieser Zeit als
Sportverband eher die Vertretung einer, wenn auch aufstrebenden,
Randgruppe, legte auf die nationale Sinngebung auch deshalb den
entscheidenden
Akzent,
um
sich
öffentliche
Anerkennung
und
finanzielle Unterstützung zu sichern.
Obwohl die DT als Gesinnungsgemeinschaft wenig Verständnis für
spezialisierte Verbände mit internationaler Orientierung aufbrachte,
gab es bei der Frage der Startberechtigung ihrer ,,Sportler" anfangs
wenig Probleme. Die Turnvereine stellten es ihnen frei, gleichzeitig
Mitglied bei der DSBfA zu werden und an deren
Wettkämpfen
teilzunehmen. 1910 wurde sogar die Möglichkeit einer zweifachen
Verbandszugehörigkeit
und
damit
einer
Doppelmitgliedschaft
anerkannt.
59
Halts Verein hielt ,,wie die übrigen Münchener Turnvereine die jung
aufkommende
Leichtathletik
nicht
für
eine
undeutsche
und
unturnerische Verirrung, sondern [erkannte] sie von vornherein als
ureigenen Hauptteil des deutschen Turnens [...] an."
60
Vertreter der Arbeiterschaft waren hingegen beim sportlichen Treiben
der Mittelschicht nicht gerne gesehen. Klassenbewußte Sportler
schlossen sich deshalb im
Arbeiter-Turner-Bund
zusammen, dem Kern
der
Arbeitersportbewegung.
61
Eine
Abgrenzung
gegenüber
den
proletarischen Sportlern war für einen ,,bürgerlichen" Athleten wie
Halt selbstverständlich. Das Bürgertum, dem später auch der junge
Bankbeamte angehörte, sah sich zu diesem Zeitpunkt mit Großbürgertum
und Adel in einer Art gemeinsamer Klassenfront gegen die sozial-
revolutionären Bestrebungen der Sozialisten. Halt kann in dieser
Hinsicht als durchaus repräsentatives Mitglied seiner
Schicht
angesehen werden.
59
Vgl. dazu B
ERNETT
,
Leichtathletik
, S. 143 ff.
60
C. D
IEM
, ,,Karl Ritter von Halt", in:
Olympische Flamme
, Bd. 1, S. 491ff.
61
Bernett, a.a.O., 103

20
4.4 Erste sportliche Erfolge
Schon kurz nach dem Eintritt in die neugegründete Sportabteilung der
Turngemeinde München
nahm Halt, der sich erst zur zweiten Generation
Münchener Leichtathleten und damit noch zu den sportlichen Pionieren
zählen konnte, im Sommer 1908 im Alter von 17 Jahren an ersten
Wettkämpfen teil. Dank seines natürlichen Talents und einer guten
körperlichen Ausbildung aus der Zeit als Turner gelangen ihm auf
Anhieb bemerkenswerte Ergebnisse.
In der Bank war das sportliche Engagement des Lehrlings hingegen
nicht gern gesehen. Zum Training und den Wettkämpfen mußte er sich
mitunter regelrecht ,,wegstehlen".
62
Damit ihn die Ergebnislisten in
den Zeitungen bei seinen Vorgesetzten nicht verrieten, ging er bis
zum Ende der Lehrzeit unter dem Pseudonym ,,Achilles" an den Start.
,,Sie [die Vorgesetzten, d. Verf.]
betrachteten
es als eine
Schädigung ihres Geschäftes und sahen es nicht gern, wenn sich der
junge Mann in seiner freien Zeit dem sportlichen Wettkampf hingab."
63
Die Ablehnung des Sports war in der Anfangszeit nicht nur auf
Arbeitgeber
beschränkt.
Nach
dem
Gewinn
der
bayerischen
Meisterschaft im 400-Meterlauf im Herbst 1908 brach Halt völlig
ausgepumpt hinter der Ziellinie zusammen, woraufhin er am nächsten
Tag auf Bitten seiner Mutter einen Arzt aufsuchte. Der Mediziner
diagnostizierte einen Herzfehler und verbot ihm für die Zukunft jede
sportliche Betätigung, da er ,,alles was mit Sport zusammenhängt, als
ungesund" betrachtete.
Wie in seiner schulischen und beruflichen Laufbahn gab sich der
ehrgeizige Autodidakt auch im Sport nicht mit Mittelmaß zufrieden.
Halt entschloß sich, das Training im Winter fortzusetzen, was damals
keine Selbstverständlichkeit war. "Er erkannte schnell den Wert der
gymnastischen Übungen und bezog sie in sein strenges Wintertraining
mit ein. Der Erfolg blieb nicht aus: seine Leistungen zeigten bald
große Regelmäßigkeit und konnten unter normalen Umständen nicht nur
Zufallserfolge bleiben."
64
Auch der Waldlauf wurde von Halt als
geeignete Trainingsform zur Verbesserung der allgemeinen Ausdauer in
den Wintermonaten ausgeübt.
Der Ehrgeiz ein guter Mehrkämpfer zu werden, kannte sehr schnell
keine regionalen Grenzen mehr. Im Alter von 18 Jahren reiste Halt
bereits zu Wettkämpfen
nach
Berlin,
Mannheim,
Wiesbaden
und
Straßburg.
Das Streben des jungen Athleten nach sportlicher Höchstleistung fand
jedoch nicht überall Zustimmung. Als Halt sich 1910 bei den
,,Internationalen Olympischen Spielen Mannheim"
65
gleich in sechs
Disziplinen anmeldete, was in der damaligen Zeit durchaus üblich
war, beklagte sich ein Zeitungsleser in einem Leserbrief an die
62
So Elfriede Rahn-Kaun in einem Gespräch mit dem Verfasser.
63
So
VON
H
ALT
in einem Vortrag vor Auszubildenden der Deutschen Bank,
abgedruckt in:
Der Schwibbogen
11(1938)7/8, S. 30ff.
64
H
ESS
,
von Halt
, S. 15.
65
Zum großen Ärger der Dachverbände benutzten damals viele regionale
Sportfeste den Namen ,,Olympische Spiele", um für einen Besuch der
Wettkämpfe zu werben.

21
Mannheimer Neuesten Nachrichten
. Die Redaktion nahm dazu Stellung
und gab ihrer Überzeugung Ausdruck, ,,Daß sich Halt in Mannheim an
sechs Konkurrenzen beteiligt, [ist] abgeschmackt. Auf diese Weise
werden die jungen Sportleute und Turner verzogen, eingebildet und
untüchtig gemacht".
66
Der bayerische Meistertitel im Hochsprung 1910 war Halts erster
zählbarer Erfolg. Aus dem ehemaligen Vorturner war schon nach drei
Jahren Training ein regional bekannter Leichtathlet geworden. Als
1911 die ersten Deutschen Zehnkampfmeisterschaften ausgeschrieben
wurden, zählte er bereits zu den Favoriten.
Die Entwicklung des Zehnkampfs, heute ein Höhepunkt internationaler
Leichtathletik-Wettkämpfe, war in Deutschland nur sehr schleppend
vorangegangen. Turnerische Mehrkämpfe, bei denen auch Ringen auf dem
Programm stand, waren in den Jahren nach der Jahrhundertwende
deutlich mehr verbreitet.
Der Leichtathletik-Pionier Kurt Doerrey bemühte sich 1901 erstmals,
die in den Vereinigten Staaten äußerst beliebte Mehrkampf-Disziplin
in Deutschland zu etablieren.
67
Doch erst zehn Jahre später, bei
einer Wahlversammlung der DSBfA 1911 in Berlin, wurde der Antrag
gestellt,
nationale
Meisterschaften
im
Zehnkampf
einzuführen.
Ausschlaggebend für diese Entscheidung war der Entschluß des IOC,
den Zehnkampf bei den Olympischen Spiele 1912 in Stockholm in das
Programm aufzunehmen. Die Titelkämpfe wurden umgehend ausgeschrieben
und für den Oktober 1911 nach Münster in Westfalen vergeben. Die
zehn Disziplinen, mußten dort an einem Tag abgeleistet werden,
während bei anderen Wettkämpfen eine Dauer von bis zu drei Tagen
üblich war.
Halt hatte seine Erfolgsserie auch im Jahr 1911 fortsetzen können.
Aus diesem Grund mußte er bei der ersten Deutschen Meisterschaft in
Münster zu den Favoriten gezählt werden. Sein größter Konkurrent
unter den acht Teilnehmern war Alex Abraham aus Berlin. Der
Münchener Lokalrivale Josef Waitzer hatte die 18stündige Bahnfahrt
von München nach Münster gescheut und war nicht am Start.
Obwohl Halt beim Stabhochsprung die Anfangshöhe nicht überqueren
konnte, reichte sein Vorsprung aus den anderen Disziplinen aus, um
den ersten deutschen Zehnkampftitel zu gewinnen. Seine Punktzahl
betrug, nach damaliger Rechnung, 5105 Punkte. Platz zwei ging an
Abraham, der 5052 Punkte erringen konnte.
68
In den nächsten beiden
Jahren gelang es Halt, den Titel zu verteidigen.
Seine Leistungen lassen sich nur sehr schwer mit den Ergebnissen
der heutigen Zeit vergleichen. Die Laufbahnen und Sprunggruben waren
zumeist in sehr schlechtem Zustand, das Material wie Laufschuhe,
Wurfgeräte und Stabhochsprungstangen entsprachen bei weitem nicht
dem heutigen Standard. Die Aufzählung einiger Bestleistungen aus dem
Jahr
1911
geben
deshalb
ein
objektiveres
Bild
über
das
Leistungsvermögen. So lief er beispielsweise die 100 Meter in
(handgestoppten) 11,0 Sekunden, ein Ergebnis, das damals nur von
66
H
ESS
,
von Halt
, S. 22.
67
B
ERNETT
,
Leichtathletik
, S. 236.
68
Der genaue Wettkampfverlauf bei H
ESS
,
von Halt
, S. 24ff.

22
wenigen Spezialisten unterboten wurde. Mit der Zeit von 4,45 Minuten
über 1500 Meter würde Halt auch heute noch in jedem Zehnkampf auf
nationaler Ebene mithalten können. Im Weitsprung betrug seine
damalige Bestleistung 6,23 Meter, im Kugelstoßen standen 11,82 Meter
zu Buche. Halt hatte in den Laufdisziplinen und Würfen seine
Stärken, während die Leistungen in den Sprüngen im Vergleich dazu
deutlich abfielen.
69
69
Eine Zusammenfassung der Bestleistungen von Halts findet sich bei K.
A
MRHEIN
,
Biographisches Handbuch zur Geschichte der Deutschen Leichtathletik
1898 - 1998
, [Darmstadt 1998], S. 132-133.

23
4.5 Die Olympischen Spielen 1912 in Stockholm
Nach Beendigung der Lehre wurde Halt im Herbst 1911 von der
Deutschen Bank
in München als Beamter übernommen. Sein Anfangsgehalt
betrug 2400 Reichsmark im Jahr - ein vergleichsweise ansehnlicher
Betrag,
von
dem
er
mit
seiner
Mutter
und
den
anderen
Familienmitgliedern gut leben konnte. Obwohl ihm die Bank eine
gesicherte Zukunft in Aussicht stellte, gab sich Halt mit seiner
Position nicht zufrieden. Nachdem er 1911 neben der Lehre noch als
Privatstudierender das Abitur auf der Oberrealschule nachgeholt
hatte, schrieb er sich im Wintersemster 1911/1912 in der Allgemeinen
Abteilung der
Technischen Hochschule
München
als Student ein. Nach
einem Semester wechselte er an die Münchener Universität über, wo
er die Fächer Nationalökonomie und Staatswissenschaften belegte.
70
Sportlich
konnte
er
sich
nach
dem
Gewinn
der
Deutschen
Zehnkampfmeisterschaft
Hoffnungen
auf
eine
Teilnahme
an
den
Olympischen Spielen 1912 in Stockholm machen. Das neuerwachte
Selbstbewußtsein des wilhelminischen Kaiserreichs
71
begann zu dieser
Zeit auch den Sport als Mittel der Demonstration angeblicher
deutscher Überlegenheit zu entdecken, sodaß sich zumindest einige
Länder
an
der
Finanzierung
der
deutschen
Olympiaexpedition
beteiligten.
Die
Vorbereitung
und
Anreise
von
Athleten
und
Funktionären war durch 25.000 Mark vom Reich und 12.000 Mark von den
Einzelstaaten, darunter 2.000 Mark aus Bayern
72
, frühzeitig gesichert
worden. Private Förderer und Verbände steuerten zusätzlich knapp
13.000 Mark hinzu. Die DT verzichtete auf die Meldung einer eigenen
Riege, was für den Start des Turnvereinmitglieds Halt keine
Auswirkungen hatte.
In Berlin wurde Halt im Frühjahr 1912 feierlich als Olympiakandidat
verpflichtet. Die Kadermitglieder mußten schriftlich zusichern, dem
Alkohol- und Nikotingenuß zu entsagen und sexuelle Enthaltsamkeit zu
üben.
Der Start in die Olympiasaison verlief für ihn vielversprechend. Bei
einem Vereinszehnkampf zwischen der
Turngemeinde
und dem
Münchener
Sportclub
gewann Halt sieben Wettbewerbe hintereinander. Im 100-
Meter-Lauf gelang es ihm, den damals zu den besten 400-Meter-Läufern
der Welt zählenden Hanns Braun, in 11,0 Sekunden zu schlagen. Die
unmittelbare Vorbereitung auf den Wettkampf in Stockholm wurde
jedoch durch eine schwere Verletzung unterbrochen. Beim Fünfkampf-
,,Staatspreis" in Berlin zog Halt sich beim Weitsprung einen
Muskelfaserriß zu. Wochenlang mußte er mit dem Training aussetzen.
Bis zur Abreise zu den Olympischen Spielen war die Verletzung noch
nicht richtig ausgeheilt.
73
70
Lebenslauf vom 22. März 1922, Promotionsakte Karl Halt,
Ludwig-
Maximilians-Universität, Archiv
, München, M-II-45pr
71
Zur deutschen Geschichte zwischen 1871 und 1918 vgl. V. U
LLRICH
,
Die
nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871 -
1918
, Frankfurt a. M. 1997.
72
Der Leichtathlet
4(1928)1/2, S. 15
73
M
ILLER
,
von Halt
, S. 17.

24
Die Sorgen um die eigene sportliche Leistungsfähigkeit wurden in
Stockholm durch die Atmosphäre der Olympischen Spiele rasch in den
Hintergrund gedrängt. Mit 21 Jahren betrat Halt zum erstenmal die
Bühne, die fortan und bis zu seinem Tode einen wichtigen Teil seines
Lebens ausmachen sollte.
74
Die ihn geradezu
überwältigenden
Eindrücke hielt er in einem Tagebuch fest.
75
Bereits der Tag der Eröffnungsfeier brachte für Halt, der, da
Länderkämpfe zu dieser Zeit noch nicht üblich waren, zum erstenmal
für Deutschland an den Start ging, ein gänzlich neues Erlebnis: Die
Mannschaftsführung
hatte
ihn
zum
Fahnenträger
der
deutschen
Vertretung bestimmt. ,,Der Einmarsch [...] in die festliche Arena
wird mir unvergeßlich bleiben. Ich trage die Fahne der deutschen
Nation und bin glücklich, zum erstenmal für mein Vaterland kämpfen
zu dürfen."
76
Der hier
ausgedrückte
Sinnzusammenhang
zwischen
sportlichem Wettkampf und dem Kampf für das Vaterland entsprach der
damals im bürgerlichen Sport vorherrschenden Grundüberzeugung und
blieb ein wichtiger Bestandteil seines Sportverständnisses. Warum
die Entscheidung für Halt ausfiel, erklärte Diem: ,,Die Fahne trug
uns der Würdigste, der Stärkste und Vielseitigste der deutschen
Mannschaft voran, unser Meister im Zehnkampf und Vertreter in dieser
wertvollsten aller Prüfungen."
77
Mit 187 Athleten stellte die DSBfA in Stockholm die zahlenmäßig
viertgrößte Mannschaft. Die Vorbereitung der Sportler war in Teilen
zentral gelenkt worden und begründete deshalb, flankiert von einer
umfangreichen Berichterstattung in den Zeitungen, große Hoffnungen
in der deutschen Sport-Öffentlichkeit. Umso entäuschter fielen die
Reaktionen aus, als nach den Wettkämpfen Bilanz gezogen wurde. Die
vor allem im Verhältnis zu den außenpolitischen Rivalen Frankreich
und
England
bescheidene
Medaillenausbeute
mußte
auf
die
strengnationalen
Patrioten
ernüchternd
wirken.
Lediglich
fünf
Goldmedaillen standen zu Buche, fast alle von den Wassersportlern
gewonnen. Auch die Tennisspieler, Reiter und Ruderer konnten
zufrieden sein, während die Leichtathleten zumindest zahlenmäßig
wenig Grund zur Freude hatten, auch wenn im Vergleich zu den Spielen
in London ein allgemeiner Leistungsaufschwung nicht zu übersehen
war.
78
Entscheidende Fortschritte erhofften sich die Verantwortlichen
von der Ausrichtung der Olympischen Spiele 1916, die nach den Tagen
von Stockholm an Berlin vergeben wurden.
Nachdem er im Fünfkampf nach drei Wettbewerben aufgrund des
Reglements vom Wettbewerb ausgeschlossen worden war und auch im
Kugelstoßen und Speerwurf nach dem Vorkampf ausscheiden mußte,
belegte
Halt
im Zehnkampf
den neunten
Rang,
der nach
der
74
Bei seiner Beerdigung im August 1964 wurde eine olympische Fahne in den
Sarg gelegt.
75
Das Original muß als verschollen gelten. Auszüge finden sich bei H
ESS
,
von Halt
, S. 36ff..
76
Ebenda.
77
,,von Halt", S. 491.
78
Zur Bilanz der deutschen Mannschaft, vgl. K. A. S
CHERER
,
100 Jahre
Olympische Spiele. Ideen, Analyse und Bilanz
, S. 70ff.

25
Disqualifikation des Olympiasiegers Jim Thorpe
79
als Platz acht in
die Statistiken einging.
80
Auch unter normalen Umständen hätte seine
beste Leistung nur zum 4. Platz gereicht.
Die Wettkämpfe in Stockholm führten ihn zum erstenmal mit dem
späteren Präsidenten des
Internationalen Olympischen Komitees
(IOC),
dem amerikanischen Meister Avery Brundage, zusammen, der als Favorit
im Zehnkampf an den Start gegangen war, jedoch verletzt ausscheiden
mußte. Aus der sportlichen Begegnung wurde nach dem Ersten Weltkrieg
eine enge Freundschaft.
Die Tage von Stockholm zeigten den deutschen Athleten und Begleitern
trotz verschiedener Achtungserfolge deutlich, wie weit das Niveau
der sportlichen Leistungen von denen der amerikanischen Mannschaft
entfernt war. Für Halt war für diesen spürbaren Unterschied vor
allem die finanzielle Ausstattung ausschlaggebend: ,,Während wir
Deutsche und auch viele andere Nationen mit spärlichen Mitteln
haushalten müssen, kommen die Amerikaner mit dem [...] Riesendampfer
Finnland daher. (...) Für uns wäre das alles eine Geldfrage, für die
Amerikaner ist es eine Selbstverständlichkeit."
81
Mit Blick auf die
Spiele 1916 in Berlin versprach er sich aufgrund der gesammelten
theoretischen
Erfahrungen
einen
Aufschwung
für
die
deutsche
Leichtathletik. Damit verband sich nicht zuletzt die Hoffnung auf
eine Steigerung der nationalen Anerkennung des Sports:
,,Ein olympischer Preis ist eine gewonnene Schlacht für
das Vaterland. Die Zahl der Minuten und Sekunden spielt
nur eine untergeordnete Rolle bei der Bewertung des
Preises. [...] Die olympische Idee verpflichtet nicht zu
einer gewissen Höchstleistung, sie vergibt ihre Ehren an
die Sieger der Kämpfe lediglich in der Hoffnung, die
wirklich Besten eines Volkes damit auszuzeichnen. [...]
Die Sieger, die Amerikaner in erster, die Schweden in
zweiter Linie, sind keine Übermenschen, sie sind nur
sportlich geschult und mit großer Sorgfalt auf Stockholm
vorbereitet worden. Sie wurden gestützt und getragen von
allen Kreisen ihres Vaterlandes. Erst dann, wenn unsere
künftigen Olympiamannschaften dieselbe Unterstützung und
die Sympathie aller deutschen Volkskreise haben, wenn
die Olympiavertretung nicht mehr eine private, sondern
eine deutsche Angelegenheit ist, werden auch uns größere
Erfolge beschieden sein."
82
Obwohl er lediglich als Athlet am Start war, machte sich Halt in
Stockholm bereits Gedanken um die Verbesserung der deutschen
79
Thorpe hatte in den USA als Baseballspieler eine geringe Geldsumme
angenommen
und
wurde
deshalb
nachträglich
als
Berufssportler
disqualifiziert.
80
Die einzelnen Ergebnisse hat A
MRHEIN
zusammengestellt
, Biographisches
Handbuch
, S. 133.
81
,,Hanns Braun und Karl Halt in Stockholm", Westfalenpost Soest, 29.Januar
1950.
82
H
ESS
,
von Halt
, S. 44f.

26
Sportorganisation. Wie Diem
83
, der kurze Zeit später mit der
Vorbereitung der Olympischen Spiele 1916 in Berlin betraut wurde,
verband
er
dabei
die
Forderung
nach
stärkerer
staatlicher
Unterstützung
mit
einem
vorbehaltlosen
Bekenntnis
zum
Wilhelminischen Kaiserreich. Die Bedeutung des Sportes für die
Nation sah Halt dabei in dem Beweis einer nationalen Überlegenheit
durch
sportliche
Siege
in
internationalen
Wettkämpfen.
Die
olympische Idee, ,,der Glaube an den olympischen Frieden"
84
, diente
ausschließlich als Rahmen für den Leistungsvergleich der Nationen.
Eine eigenständige Bedeutung wurde den Gedanken Coubertins vom
späteren Mitglied der IOC-Exekutive, der zu dieser Zeit in die
schrill
nationalistischen
Töne
Kaiser
Wilhelms
vorbehaltlos
einstimmte, nicht zugesprochen.
Nicht nur die Leistungen der Athleten, auch die internationale
Verwaltung der Leichtathletik tat in Stockholm einen großen Schritt
nach vorne. Während der Olympischen Spiele wurde eine erste
Besprechung unter den anwesenden Ländervertretern abgehalten , die
ein Jahr später in Berlin
zur Gründung
des
Internationalen
Leichtathletik-Verbandes
(IAAF) führen sollte. Maßgeblich beteiligt
war dabei Carl Diem, zum ersten Vorsitzenden wurde der Vizepräsident
des Stockholmer Organisationskomitees und spätere IOC-Präsident,
Sigfrid Edström, gewählt.
85
83
Vgl. dazu C. D
IEM
,
Die Olympischen Spiele 1912, Nachdruck mit einer
Einleitung von Karl Lennartz
, Kassel 1996, S. 38ff.
84
H
ESS
,
von Halt
, S. 43.
85
Vgl.
Der Leichtathlet
14(1938)33, S. 23.

27
4.6 Sportler und Übungsleiter
Die Beobachtungen und Gespräche in Stockholm nutzte Halt auch, um
seine sportlichen Techniken und Trainingspläne dem neusten Stand der
weltbesten
Leichtathleten
anzupassen.
Der
Erfolg
gab
dem
Autodidakten schon kurz nach den Olympischen Spielen recht. Halt
gewann auch die zweite deutsche Zehnkampfmeisterschaft.
Nachdem er zusätzlich die Leitung der Sportabteilung der
Münchener
Turngemeinde
übernommen hatte und zum Beisitzer im Vorstand des
Münchener Rasensportverbandes
gewählt
worden
war
86
,
begann
er
parallel zu seinen eigenen sportlichen Bemühungen eine Karriere als
Übungsleiter. Dazu versuchte er in Vorträgen und Zeitungsartikeln
für die Leichtahletik zu werben. Seine wichtigste Forderung, die
Anerkennung der nationalen und kulturellen Bedeutung des Sports in
Deutschland, stand bei diesen Bemühungen stets im Vordergrund. Daß
er
sich
dabei
vornehmlich
der
von
Diem
vorgegebenen
Argumentationskette
bediente,
weist
auf
einen
grundsätzlichen
Charakterzug hin: Im Gegensatz zum ,,Sportphilosophen" Diem war Halt
auch später kein Vordenker. Seine Stärke lag eher darin, Vorgaben
und Ideen, von deren Richtigkeit er überzeugt war, in die Tat
umzusetzen. Die im Beruf erworbene Durchsetzungskraft und der
angeborene Ehrgeiz kamen dem Pragmatiker dabei zugute.
Die in Stockholm erworbenen Erkenntnisse führten bei Halt zu einer
nachhaltigen Veränderung der Trainingslehre, die über München hinaus
Bedeutung gewann
87
. Für ihn selbst gingen die Fortschritte auf diesem
Gebiet mit einer deutlichen persönlichen Leistungssteigerung einher.
Im Steinstoßen stellte er in verschiedenen Klassen zwei deutsche
Rekorde auf. Auch im Kugelstoßen war er mit 13,32 Metern 1913 der
leistungsstärkste Deutsche. In Braunschweig gewann er den dritten
nationalen Zehnkampftitel in Folge. Mit 7300 Punkten nach der in
Stockholm
gültigen
Wertung
war er dabei
an
die
Weltbesten
herangerückt
88
In Prag und Wien gewann er die österreichische
Meisterschaft im Fünf- und Zehnkampf.
89
Zu einem Aufeinandertreffen
mit den besten
Mehrkämpfern
der
Deutschen Turnerschaft
, die am Wettkampfbetrieb der Sportvereine
nicht teilnahmen, kam es im Juni 1913 bei der Einweihung des
Deutschen Stadions in Berlin. Da die Turner auf eine Teilnahme bei
den Olympischen Spielen in Stockholm verzichtet hatten, war auch bei
den Qualifikationswettkämpfen kein Vergleich mit den ,,Sportlern"
zustandegekommen. Beim Deutschen Turnfest in Leipzig ein Jahr
später, war Halt nicht angetreten. Mit einem deutlichen Sieg gegen
rund 700 angetretene Konkurrenten aus beiden Lagern klärte Halt die
sportlichen
Verhältnisse
zwischen
Turnern
und
Sportlern
im
Mehrkampf.
86
Darauf weisen L
ENNARTZ
/T
EUTENBERG
,
von Halt
, S. 138, hin.
87
Im Winter 1912/13 besuchten Sportlehrer und Aktive aus Süddeutschland
mehrfach seine Trainingsabende, um sich über die neuen Methoden, zu denen
auch die schwedische Gymnastik gehörte, zu informieren.
88
H
ESS
,
von Halt
, S. 47.
89
Die Teilnahme an nationalen Meisterschaften der Nachbarländer war zu
dieser Zeit weit verbreitet.

28
Im Juli 1914 gelang Halt bei den
Baltischen Spielen
in Malmö, an
denen Vertreter aller Ostseeanrainer-Staaten teilnahmen, sein bis
dahin größter internationaler Erfolg. Trotz starker Konkurrenz aus
Dänemark, Deutschland, Finnland, Rußland und Schweden konnte er den
Zehnkampf mit acht Punkten Vorsprung für sich entscheiden. Der
Wettkampf war - wie damals international üblich - über drei Tage
verteilt
worden
und
erbrachte
für
damalige
Verhältnisse
herausragende sportliche Leistungen, die in der pathetischen Sprache
der Zeit ihren Ausdruck fanden: ,,In einem spannenden Kampf, mehrmals
wechselt die Führung, hält Halt zuletzt die besten Finnen und
Schweden in Schach. [...] Jubel bricht los. Deutsche und Nordländer
umarmen Halt."
90
Diem, der die deutsche Mannschaft begleitet hatte,
bezeichnete ihn als ,,besten Mann" der Delegation.
91
Der Erfolg von Malmö ließ Halt in die erste Reihe der weltweit
besten
Zehnkämpfer
aufsteigen,
obwohl
er
nach
sechs
Jahren
Trainingsarbeit und Wettkampferfahrung seine Möglichkeiten noch
nicht
ausgeschöpft
hatte.
Mit
23
Jahren
stand
ihm
eine
aussichtsreiche sportliche Zukunft bevor. Vor allem in Hinblick auf
die Olympischen Spiele 1916 in Berlin ergaben sich glänzende
Perspektiven:
,,Wir wissen heute schon, daß Karl Halt im Berliner
Stadion stehen wird als einer der glänzendsten Vertreter
der
deutschen
Intelligenz,
deutscher
Energie
und
deutscher Kraft, und daß es ihm dann gelingen möge, als
deutscher olympischer Sieger aus dem Wettstreit der
Völker
hervorzugehen,
hoffen
wir
gewiß
nicht
unberechtigt."
92
90
K
OENIG
,
Der Sportsmann
, S. 3.
91
Tagebuch Diem
, August 1934, S. 2, Carl-und-Liselott-Diem-Archiv, Köln.
92
,,Karl Halts sportlicher Werdegang", in:
Fußball und Olympische Spiele
,
29.September 1913.

29
5.
Der Soldat
5.1 Kriegsbegeisterung?
Wenige Tage bevor Halt bei den
Baltischen Spielen
seinen bis dahin
bedeutendsten sportlichen Erfolg feierte, hatte sich die politische
Situation in Europa durch die Ermordung des österreichischen
Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Frau in Sarajevo massiv
verschärft.
Dazu
gesellte
sich
nach
den
langen
Jahren
wirtschaftlicher Prosperität eine ökonomische Krise im Reich.
93
Die
deutsche Aufrüstung und die Flottenpolitik standen einem forcierten
Imperialismus der anderen Großmächte gegenüber. In Bayern waren die
ersten Anzeichen einer politischen und wirtschaftlichen Problemlage
deutlich zu erkennen: Die Landflucht sorgte in den überfüllten
Städten für eine Verschärfung der sozialen Situation. Zehntausende
Menschen aus wirtschaftlich schwachen Regionen sahen den letzten
Ausweg in einer Auswanderung in die USA. In München nahmen die
Streiks der Arbeiterschaft zu. ,,Die revolutionäre Stimmung lauerte
hinter der Fassade der Ordnung, der scheinbaren Zufriedenheit und
der bürgerlichen Bonhomie."
94
Die Schüsse von Sarajevo verschärften die Situation zusätzlich.
Österreich machte die serbische Regierung für das Attentat direkt
verantwortlich. Kaiser Franz Joseph nahm mit dem deutschen Kaiser
die Verhandlungen über einen gemeinsamen Kriegseintritt auf.
Als Halt Mitte Juli 1914 aus Malmö zurückkehrte, fand er in seiner
Heimatstadt eine aufgeputschte Stimmung vor. Wiederholt wurden
Ausländer und fremdländisch aussehende Menschen angegriffen. Nachdem
Halt bei den
Baltischen Spielen
noch gegen russische Sportler
angetreten war, mußte er nun miterleben, daß Staatsangehörige des
mit Serbien verbündeten Zarenreiches in seiner Heimatstadt nicht
mehr erwünscht waren.
Trotz britischer Vermittlungsversuche und der zögerlichen Haltung
des deutschen Kaisers erklärte Österreich am 28. Juli 1914 Serbien
den Krieg. Einen Tag später sprach Rußland seine Teilmobilmachung
gegen den Verbündeten des Deutschen Reichs aus. Als der Zar sich zu
einer
allgemeinen
Mobilmachung
entschloß
und
ein
deutsches
Ultimatum, diese zurückzunehmen, ohne Antwort blieb, wurde auch im
Kaiserreich am Nachmittag des 1. August die allgemeine Mobilmachung
befohlen. Zwei Tage später war der Krieg mit dem ,,Erzfeind"
Frankreich entfesselt.
Bayerns König Ludwig III., der nach dem Tod des Prinzregenten
Luitpold im 1912 im Alter von 67 Jahren die Herrschaft angetreten
hatte, verhängte am 31. Juli den Ausnahmezustand über den Freistaat.
Am Tag der Kriegserklärung schickte er dem Kaiser ein Telegramm, in
dem er auf die besondere Bedeutung des bevorstehenden Kriegs für die
Einheit
der
deutschen
Nation
hinwies:
,,Nie
aber
wird
die
unerschütterliche Treue, in der die Deutschen zusammenstehen, sich
93
Zum wirtschaftlichen Aufschwung zwischen 1890 und 1913 vgl. W. T
REUE
,
Gesellschaft, Wirtschaft und Technik Deutschlands im 19. Jahrhundert
, 10.
Aufl., Stuttgart 1994, S. 269ff.
94
Ebenda.

30
überwältigender offenbaren, als in dem Kampfe, der uns aufgezwungen
wird."
95
Da einige Landesfürsten bei der kleindeutschen Einheit im Jahr 1871
auch militärische Sonderrechte durchsetzen konnten, gliederte sich
das deutsche Heer bei Kriegsbeginn in vier Kontingente: Neben
Preußen hatten Sachsen, Württemberg und Bayern eigene Verbände.
Kaiserlich war lediglich die Marine, das bevorzugte Prestigeobjekt
Wilhelm II. Die bayerische Armee, die zu Kriegsbeginn als 6.
deutsche Armee unter dem Oberbefehl von Kronprinz Rupprecht von
Bayern an der Westfront eingesetzt wurde, bestand zu Beginn der
Kampfhandlungen aus 406.000 Unteroffizieren und Mannschaften und
knapp 10.000 Offizieren. Am Ende des Krieges hatten rund 180.000
bayrische Soldaten ihr Leben verloren.
In München löste die Verhängung des Kriegszustandes am Nachmittag
des 1. August
wie in allen
deutschen
Großstädten
spontane
Freudenkundgebungen aus. Nach den politischen Spannungen und der
Ungewißheit der Wochen zuvor wirkten die neuen Entwicklungen wie ein
Ventil.Viele der damals 645.000 Einwohner der Residenzstadt drängten
am 1. August in die Innenstadt, um die weitere Entwicklung hautnah
mitzuerleben. ,,Als um dreiviertel Zehn [...] die Rede des Kaisers
verlesen wurde, brach die nach Tausenden zählende Menge in brausende
Beifallsrufe aus und sang begeistert ´Die Wacht am Rhein` und
´Deutschland, Deutschland über alles`."
96
Bei einer Versammlung vor
der Feldherrnhalle machte ein Fotograf ein Bild, das mitten in der
dichtgedrängten Menge den damals 25 Jahre alten arbeitslosen
Kunstmaler Adolf Hitler zeigt, den die österreichische Armee als
nicht kriegstauglich eingestuft hatte. Als Kriegsfreiwilliger zog
der spätere ,,Führer" des
Deutschen
Reichs
mit dem 16. Reserve-
Infanterieregiment ,,List" von München aus in den Kampf.
Am 3. August, dem Tag der Kriegserklärung an Frankreich und dem
ersten Tag der Mobilmachung in Bayern, meldete sich Halt beim
Königlich
Bayrischen
Infanterie-Leibregiment
in
München
als
Kriegsfreiwilliger
97
. Dem Wehrdienst war er bis dahin erfolgreich aus
dem Weg gegangen, um während des ,,Einjährigen" nicht mit dem
Training aussetzen zu müssen.
98
Ein außergewöhnlicher Aufstieg lag zu diesem Zeitpunkt hinter dem
Sohn eines verstorbenen Kunstschlossers. Vom Volksschüler, der im
hierarchisch organisierten Kaiserreich als Mitglied der unteren
Mittelschicht normalerweise ohne erfolgversprechende Perspektive
gewesen wäre, war ihm der Sprung in den Akademiker-Stand so gut wie
gelungen. Im Alter von 23 Jahren stand er kurz vor der Promotion.
Die
Deutsche Bank
, bei der er nach der Lehre zum Beamten der
Effektenabteilung aufgestiegen war, konnte ihm eine sichere Zukunft
garantieren. Durch
seine
sportlichen
Leistungen
und ein den
95
N
ÖHBAUER
,
Chronik
, S. 423.
96
N
ÖHBAUER
,
Chronik,
S. 426.
97
Militär-Personalakte Halt,
Bayrisches Hauptstaatsarchiv, Kriegsarchiv
,
OP 15501.
98
Vgl.
VON
H
ALT
, ,,In memoriam Hanns Braun", in:
Der Leichtathlet
,
10(1934)21, S. 7, wo der Verfasser als Begründung für den nicht geleisteten
Wehrdienst das Studim und die ,,sportlichen Verpflichtungen" anführte.

31
Erwartungen
der
,,besseren
Kreise"
in
der
Sportbewegung
entsprechendes Auftreten hatte er Kontakte zum Großbürgertum und
Adel knüpfen können und genoß das Wohlwollen der höheren Kreise. Als
Sieger des Zehnkampfs bei den
Baltischen Spielen
befand er sich auf
dem sportlichen Höhepunkt.
Die unbedingte Bejahung des Kaiserreiches und die im Bürgertum
vorherrschende bayerisch-nationale Grundüberzeugung ließen für Halt
jedoch keinen anderen Schritt zu, als sich freiwillig zu melden,
,,Daß
wir
Sportsleute
hier
nicht
fehlen
durften,
war
eine
Selbstverständlichkeit."
99
Zu
klären
blieb
mangels
Alternative
lediglich die Frage, welches Regiment und welche Waffengattung dafür
in Frage kamen, auch wenn er sich angesichts der zu erwartenden
Unterbrechung seiner sportlichen Laufbahn grundsätzlich zu keiner
allzugroßen Kriegsbegeisterung durchringen konnte.
100
Da Halt den
Grundwehrdienst, zu dem er ursprünglich ohnehin am 1. Oktober 1914
antreten sollte, noch nicht absolviert hatte, verfügte er zudem über
keinerlei militärische Erfahrung. Der Gang in die Kaserne war
deshalb ein Schritt ins Ungewisse, den er in der allgemeinen
Kriegsbegeisterung als unvermeidlich hinnehmen mußte, um keine
unangenehmen Folgen für seine zukünftigen Ziele zu riskieren.
Die
Vorstellungen
von
einer
schnellen
und
ruhmreichen
Militärkarriere
erfuhren,
wenn
sie zu
Kriegsbeginn
überhaupt
vorhanden waren, bereits am ersten Tag in der Prinz-Arnulf-Kaserne
einen gehörigen Dämpfer. Nachdem er zusammen mit anderen bekannten
Münchener Sportlern in die Kaserne eingerückt war, mußten die
Freiwilligen,
nachdem
man
sie
aufgrund
des
bevorstehenden
,,Einjährigen" zuerst gar nicht haben wollte, nach der Musterung noch
im Zivilanzug bei der Kasernenreinigung mithelfen. Am nächsten Tag
wurden als Uniformen alte und geflickte Röcke und Hosen ausgeteilt.
Derartige Äußerlichkeiten konnten die jungen Freiwilligen jedoch
nicht von der Richtigkeit ihrer Mission abbringen, zumal die
Bekanntschaft mit anderen bekannten Athleten im Regiment das
Zusammengehörigkeitsgefühl
der
jungen
Sportler
förderte:
,,Die
Ausbildungszeit war wunderbar. Frohe Begeisterung erfüllte uns alle
und wir konnten kaum den Tag des Ausmarsches erwarten."
101
Diese Schilderung wirkt im Vergleich zu anderen Zeitzeugenberichten
äußerst geschönt. Daß das Ende des Kasernenlebens auch aus diametral
entgegengesetzten Gründen eine Art Befreiung gewesen sein konnte,
schilderte der Philosoph Karl Löwith, der sich kurz nach Halt
99
V
ON
H
ALT
, ,,Kamerad Sportsmann, in:
Reichssportblatt
1(1934)24, S. 668f.
100
In verschiedenen Schilderungen versuchte Halt nach 1933, wenn auch
wenig überzeugend, seine Begeisterung über den Ausbruch des Kriegs zu
vermitteln. Die Fakten sprechen jedoch dafür, daß er die Zeit beim Militär
anfangs in erster Linie als unerwünschte Unterbrechung der beruflichen und
sportlichen Karriere empfand und sich lediglich pflichtgemäß in den
Kriegstaumel der ersten Augusttage mischte, vgl.ebenda.
101
Halt belegte zusammen mit Hanns Braun
und
bekannten
Münchener
Fußballern und Skiläufern in der Kaserne ein gemeinsames Zimmer. Aufgrund
ihrer körperlichen Ausbildung waren die jungen Athleten den durchweg nicht
sportlich
geschulten
anderen
Rekruten
in
der
Bewältigung
der
Ausbildungsanforderungen überlegen, sodaß sich schnell ein gemeinsames
Überlegenheitsgefühl der ,,Sportgruppe" entwickelte.

32
freiwillig gemeldet hatte: ,,Der Drill in der Kaserne des bayrischen
Infanterie-Leib-Regiments hatte durch seine ausgesuchte Brutalität,
zumal in der Behandlung der Freiwilligen, den Erfolg, daß jeder von
uns den Tag der Versetzung an die Front als eine Erlösung
empfand."
102
Die
rauhe
Behandlung
der
zumeist
mit
höherer
Schulbildung ausgestatteten Freiwilligen durch ihre sozial niedriger
gestellten Ausbilder nötigte das Bayrische Kriegsministerium zu
einer Verfügung, in der jede ,,unwürdige Behandlung" verurteilt und
verboten wurde.
103
Viele andere namhafte Sportler und Leichtathleten wählten denselben
Weg wie Halt. Zusammen mit ihm und Hanns Braun meldeten sich
mehrere
bekannte
Fußballspieler
des
FC Bayern München
beim
Leibregiment. Braun wechselte, nachdem er infolge einer Krankheit
während der Ausbildung im Leibregiment nicht mit Halt zusammen
ausrücken konnte, später zu einer Kraftfahrerkolonne und kurz vor
Kriegsende zur Luftwaffe.
Auch die Berliner Leichtathleten strebten an die Front. Diem
berichtete, der Mobilmachungsbefehl
hätte
einen
,,Freudensprung
ausgelöst".
104
Mit Stolz registrierte man einen Wettlauf der Vereine
um die meisten Meldungen, die der
Berliner SC
mit 280 Freiwilligen
,,gewann". Diem stellte mit Genugtuung fest, daß die Zugehörigkeit zu
einem
Sportclub
die
Einstellung
als
Kriegsfreiwilliger
beschleunigte. ,,Gott sei Dank, da war der Sport doch ordentlich zu
etwas
nütze."
105
Die vom
Leichtathletik-Pionier
Kurt
Doerry
redigierte Zeitschrift
Sport im Bild
fachte den Enthusiasmus mit der
Schlagzeile: ,,Sportsleute! In den Krieg!" weiter an.
106
Selbst Intellektuelle wie der Schriftsteller Ernst Jünger ließen
sich von der Kriegsbegeisterung einfangen:
,,Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen
und waren in den kurzen Ausbildungswochen zu einem
großen,
begeisterteten
Körper
zusammengeschmolzen.
Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten
wir alle die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der
großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein
Rausch.
In
einem
Regen
von
Blumen
waren
wir
hinausgezogen, in einer trunkenen Stimmung von Rosen und
Blut. Der Krieg mußte es uns ja bringen, das große,
starke, feierliche. Er schien uns männliche Tat, ein
fröhliches Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten
Wiesen. Kein schönrer Tod ist auf der Welt [...] Ach,
nur nicht zu Haus bleiben, nur mitmachen dürfen."
107
102
B. U
LRICH
/B. Z
IEMANN
, Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Wahn und
Wirklichkeit
, Frankfurt a. M. 1994, S. 42.
103
Verfügung vom 2. September 1914, ebenda.
104
Athletik-Jahrbuch 1919
, S. 9.
105
H. B
ERNETT
,
Leichtahletik im geschichtlichen Wandel
, S. 119.
106
Sport im Bild
19(1914)33, S. 1024.
107
In Stahlgewittern
, 37. Aufl., Stuttgart 1996, S. 7. Zu Jünger vgl. P.
N
OACK
,
Ernst Jünger. Eine Biographie
, Berlin 1998.

33
Halt hatte sich für seinen Kriegsdienst nicht ohne Grund das
Königlich Bayrische Infanterie-Leibregiment
ausgesucht. Die nach der
Völkerschlacht bei Leipzig 1814 gegründete Elite-Einheit setzte eine
Mindestgröße von 1,80 Metern voraus und rekrutierte die Soldaten in
ganz
Bayern,
um sich
die motiviertesten
Kämpfer
aus
allen
Landesteilen sichern zu können
108
Die ,,Leiber" hatten sich im Krieg
gegen Frankreich 1870/71 durch mehrere Sturmangriffe hervorgetan und
waren an der Belagerung von Paris beteiligt gewesen. Kurz vor
Kriegsbeginn war das Regiment im Sommer 1914 aus Anlaß seines
100jährigen Bestehens mit einer Parade vor dem bayrischen Monarchen
geehrt worden.
Zu Beginn des Weltkriegs bildete das Leibregiment gemeinsam mit
anderen Truppenteilen die 6. Armee, die zuerst an der Westfront
eingesetzt wurde. Nach Abschluß der Kampfhandlungen 1918 waren 1040
Offiziere und 3304 Unteroffiziere und Soldaten gefallen. Wie stark
in dieser Einheit das Elitedenken ausgeprägt war und wie schnell
sich Halt diese Grundüberzeugung zu eigen machte, zeigt eine
Tagebucheintragung vom März 1915. Nachdem die Dritte Kompanie des
Leibregimentes einen Geländegewinn erkämpft hatte, wurden
die
bayerischen Soldaten von einem Truppenteil des preußischen Heeres
abgelöst.
Diese
zogen
sich
am
nächsten
Tag
nach
starkem
Artilleriebeschuß auf den Ausgangspunkt zurück.
,,So etwas ist infam. Die Verluste auf unserer Seite
waren ja groß, das ist richtig, aber [das] berechtigt
nie und nimmer die ganze Aufgabe einer eroberten
Stellung. Ein Leibregiment hätte die Stellung gehalten
und wäre nie zurückgegangen. Es hätte ausgehalten, bis
kein Mann mehr lebend gewesen wäre. Das liegt in der
Tradition des Garderegiments."
109
Nach einer zweimonatigen Ausbildung wurde Halt im Oktober 1914 in
Richtung Front in Marsch gesetzt. Da er das Abitur hatte und kein
Berufssoldat war, lautete sein Dienstrang ,,Unteroffizier der
Reserve". Nach dem zwischenzeitlichen Aufstieg zum Vizefeldwebel und
einer entsprechenden Schulung wurde er im Verlauf des Kriegs zum
Leutnant und Kompanieführer befördert und nach Kriegsende noch
nachträglich in den Rang eines Oberleutnants gehoben. Nach fünf
Verwundungen kehrte er immer wieder zu seinem Regiment zurück. Im
Anschluß
an
knapp
vier
Jahre
Frontdienst
verbrachte
Halt
anschließend noch 14 Monate in englischer Gefangenschaft.
Die Schilderungen des Abschieds von der Heimatstadt in seinen
Kriegstagebüchern zeigt, daß die Ausbildung in der Kaserne wie bei
Ernst Jünger den Glauben an die nationale Mission des Krieges
geweckt hatte. Halt legte eine schwärmerische, beinahe berauschte
108
Zur Geschichte des Leibregiments, A. B
OMHARD
,
Das K.B. Infanterie
Leibregiment
.
Erinnerungsblätter deutscher Regimenter
, Heft 1, München
1921.
109
Kriegstagebücher, Eintrag 12. März
1915,
Sportmuseum Köln
.
Der
Verfasser ist Halts Nichte, Carolina Halt, für die Überlassung der
Tagebücher zu tiefem Dank verpflichtet.

34
Ader an den Tag, die aus den bevorstehenden Gefahren ein Heldenepos
im Stil Richard Wagners werden ließ:
,,Nach ergreifend schönem Abschied [...] verließ unser
Zug unter brausenden Hurrarufen um 7 Uhr abends die
Bahnhofshalle. Leb wohl du schönes München, du herrliche
Stadt, lebt wohl ihr trauten Häuser, ihr geliebten
Straßen. Lebt wohl ihr Frauen und Männer und Kinder.
Klaget nicht, vergießt keine Tränen! Wir ziehen hinaus
ins Feld, um unser Heiligstes zu verteidigen. Und
sollten wir nicht mehr wiederkehren, so müßt ihr stolz
sein auf Eure Söhne, die im Kampf um die gerechte Sache
den Heldentod starben."
110
Derart
romantische
Schilderungen
waren
typisch
für
den
von
nationalistischen
Träumereien
aufgeweichten
Blick
der
,,jungen
Frontkämpfergeneration", die der Soziologe Günther Gründel Anfang
der dreißiger Jahre einer umfassenden Untersuchung unterzogen hat
111
.
Junge Männer wie Halt waren demnach
,,blutjung, noch tief empfänglich für alles und am
tiefsten für das Große und Furchtbare. Sie waren
noch keine fertigen Männer, Weltanschauung und
Mensch
waren
noch
im
Werden.
Sie
sind
als
begeisterte, aber durch das Übermaß des allzu
starken
und furchtbaren
Erlebnisses
sehr
bald
entwurzelte
Jünglinge
hinausgetaumelt,
(die)
eigentlichen
Träger
des
so
viel
diskutierten
Fronterlebnisses".
112
110
Kriegstagebücher, Eintrag vom 9.Oktober 1914.
111
E. G
RÜNDEL
,
Die Sendung der Jungen Generation. Versuch einer umfassenden
revolutionären Sinngebung der Krise
, München 1932. Vgl. dazu auch
H. L
ETHEN
,
Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen
, Frankfurt
a. M. 1994.
112
G
RÜNDEL
,
Die Sendung
, S. 23.

35
5.2 An der Front
Als Halt an der Somme in Frankreich, seinem ersten Einsatzort,
eintraf, hatte sich das Leibregiment bereits in mehreren Schlachten
in Lothringen bewähren können, wo es die vorrückende französische
Armee bei Saarbourg und Badonviller zurückschlagen konnte. Am
nördlichen Frontabschnitt hatte der rechte Flügel der deutschen
Angriffsarmeen Anfang September 1914 bereits die Höhe von Paris
erreicht. Die Kräfte waren jedoch nicht stark genug, um den
Vormarsch voranzutreiben. Die Nachrichten vom Einmarsch der Russen
in Ostpreußen hatten die Führung unter General von Moltke veranlaßt,
zwei Armeekorps nach Osten zu verlegen. Als die französische Armee
von
Paris
aus
zurückschlug,
mußten
zwei
deutsche
Armeen
zurückweichen, Der neue preußische Kriegsminister und Nachfolger von
Moltkes,
Generalleutnant
Erich
von
Falkenhayn,
ordnete
eine
Verteidigungslinie um den Fluß Aisne an. Auch der Einsatz von
Regimentern aus Freiwilligen und jungen
Rekruten
konnte
die
erstarrte
Front
nicht
mehr
in
Bewegung
bringen.
Aus
dem
Bewegungskrieg
war ein zermürbender
Stellungskrieg
mit einer
Frontlinie von den Alpen bis zur Nordsee geworden. Schon wenige
Wochen später, im November 1914, wurde die militärische Lage von
Falkenhayn entsprechend pessimistisch beurteilt.
113
Die Freiwilligen der dritten Kompanie des Leibregiments zogen, in
Unkenntnis
der
wirklichen
militärischen
Situation,
voller
Begeisterung in den Stellungskrieg. Die Bevölkerung jubelte Halt und
seinen Kameraden auf dem Weg Richtung Westfront zu: ,,Man möchte
diese Fahrt durch Deutschland mit einem Triumphzug vergleichen. Ein
Jubeln und Winken überall, ein Begrüßen und Jauchzen wie wenn man
vom
Siege
käme."
114
Das
wahre
Gesicht
der
militärischen
Auseinandersetzung blieb indes nicht lange verborgen. Bei der Fahrt
durch Belgien ,,machen sich jetzt die furchtbaren Spuren des Krieges
bemerkbar".
115
Der
bayerische
König
Ludwig
III.
hatte
schon
kurz
nach
Kriegsausbruch für den Fall eines deutschen Sieges die Angliederung
des Protektorats Elsaß an Bayern gefordert. Zusätzlich verkündete
der
Monarch
die
Forderung,
sich
auch
Teile
von
Belgien
einzuverleiben
116
. Halt schloß sich dem Plan vorbehaltlos an:
,,Ich bin neugierig, ob die französische Gegend, durch
die wir fahren, standhalten kann mit den Reizen des
belgischen Landes. Belgien muß deutsch werden. Ein solch
schönes Land darf nicht mehr herausgegeben werden,
umsomehr, als es so viel Blut gekostet hat."
117
An der Front angelangt, zog Halt voller Enthusiasmus in die
Schlacht: ,,Ja, Kanonen hörten wir gestern abend donnern, endlich das
113
Vgl. K. D. E
RDMANN
,
Der Erste Weltkrieg
, 9. Aufl, München 1980, S. 118.
114
Kriegstagebücher, Eintrag 10. - 12. Oktober 1914.
115
Kriegstagebücher, Eintrag 13.Oktober 1914.
116
N
ÖHBAUER
,
Chronik
, S. 426.
117
Kriegstagebücher, Eintrag 14.Oktober 1914.

36
erste ersehnte Zeichen von der Nähe des Feindes."
118
Die Realität des
Stellungskrieges war indes nicht so stürmisch wie erhofft. Der
ernüchternde Kriegsalltag holte ihn sehr schnell ein. Schon am
ersten Tag wurde sein Abschnitt von der französischen Artillerie
massiv beschossen. Ruhiger wurde es im Alltag des Stellungskrieges
erst nach Einbruch der Dunkelheit, sodaß abends die tägliche
Verpflegung verteilt werden konnte. Die Eintönigkeit und das endlose
Warten wurden ausschließlich durch gelegentliche Patrouillengänge
unterbrochen. Nach durchwachten Nächten erfolgte, wenn es die
Gefechtslage zuließ, morgens die Ablösung.
119
Problematisch wurde für Halt der von den Vorgesetzten angeordnete
Besuch des Gottesdiensts. Formal gehörte er zwar der evangelischen
Kirche an, in den Jahren vor dem Krieg hatte er sich jedoch zu einem
Atheisten entwickelt. Trotz einer religiösen Erziehung war Halt
nicht bereit, seine Einstellung zur Kirche in Kriegszeiten zu
revidieren: ,,Soll ich nun in Stunden der Gefahr von dieser meiner
Auffassung abweichen, wenn ich in Stunden der Ruhe und des Friedens,
der Sicherheit alles leugnete, was die Bibel uns erzählt? Nein,
tausendmal nein."
120
Den endgültigen Schnitt mit der Kirche vollzog
er jedoch erst 1938, als er aus der evangelischen Kirche austrat.
121
Die Hoffnungen, sich endlich an einem Angriff auf die gegnerischen
Stellungen beteiligen zu dürfen, erfüllten sich im Winter 1914/15
nicht. Bereits nach einem Monat an der Front regte sich aus dieser
permanenten Untätigkeit und dem gleichzeitigen Artilleriebeschuß
durch den Kriegsgegner die Hoffnung auf ein baldiges Ende des
sinnlos erscheinenden Belauerungszustandes: ,,Oh, du schöne Zeit der
Ruhe, des himmlichen Friedens, kehre bald zurück und bring uns heim
zu unseren Lieben."
122
Noch deutlicher wurde die Situation in der
Eintragung vom 8. Dezember 1914: ,,Der Krieg wird langweilig.
Zeitversäumnis! Verdienstentgang! Es wäre Zeit, Schluß zu machen."
123
Abwechslung in den tristen Frontalltag brachten lediglich die
positiven Nachrichten von der Ostfront, die Halt in seiner Hoffnung
auf ein rasches Ende der Kampfhandlungen in Frankreich bestärkten.
Doch die Zeit war noch nicht reif: ,,So morden wir dahin, bis sich
unser Nationalgefühl und unsere Vaterlandsliebe sagen darf: Haltet
ein."
124
Daß er
mit
dieser
Anmerkung
den
Sinn
des
Kriegs
grundsätzlich in Frage stellte - ohne sich dabei vom Geschehen an
der Front offen zu distanzieren - zeigt die ambivalente und
ereignisabhängige Grundstimmung der Frontsoldaten.
118
Kriegstagebücher, Eintrag 15.Oktober 1914.
119
Vgl. Kriegstagebücher, Eintragungen 17. und 18. Oktober 1914. Zum
Kriegsalltag: J
ÜNGER
,
Stahlhgewittern
, S. 12ff.
120
Kriegstagebücher, Eintrag 20.Oktober 1914.
121
Entnazifizierungsakte Karl Ritter von Halt.
Nordrhein-Westfälisches
Hauptstaatsarchiv
, Düsseldorf, NW-1091-18067.
122
Kriegstagebücher, Eintrag 22.November 1914.
123
Kriegstagebücher, Eintrag 8.Dezember 1914. Zur Kriegsmüdigkeit in den
Jahren 1914/15 vgl. U
LRICH
/Z
IEMANN
,
Frontalltag
, S. 48ff.
124
Kriegstagebücher, Eintrag 19./20. Januar 1915.

37
5.3 Exkurs: Die Kriegstagebücher als biographische Quelle
Die Kriegstagebücher sind für die Beurteilung Halts von zentraler
Bedeutung, weil sie von allen heute noch verfügbaren Archivalien die
einzigen autobiographischen Aufzeichnungen über einen
größeren
Zeitraum
darstellen.
Sie
erlauben
wichtige
Einblicke
in
Überzeugungen und Gedanken. Für die historische Bewertung ist jedoch
zu berücksichtigen, wie die Aufzeichnungen zustande gekommen sind.
Bis auf die Ereignisse kurz vor seiner Gefangennahme im September
1918,
die
Wochen
später
im
englischen
Kriegsgefangenenlager
nachgetragen wurden, hat Halt seine Notizen jeden Tag ,,aktuell"
niedergeschrieben, sodaß ein hohes Maß an Authenzität angenommen
werden kann. Allerdings mußten die einzelnen Tagebücher vor der
Versendung an Halts Mutter einem Vorgesetzten zur Freigabe vorgelegt
werden, was kritische Darstellungen von vornherein weitgehend
ausschloß. Im weiteren Verlauf des Kriegs übernahm eine zentrale
Zensurstelle diese Aufgabe.
Der Sport spielte in den Aufzeichnungen der fünf Kriegsjahren nur
eine geringe Rolle. Abgesehen von gelegentlichen Besuchen des
Freundes Hanns Braun und der zufälligen Begegnung mit anderen
Münchener Sportlern war die Leichtathletik oder gar die olympische
Idee kein Thema, das es niederzuschreiben lohnte. Zu weit weg waren
das bürgerliche Leben und die Erinnerung an Wettkämpfe
und
sportliche Zerstreuung. Halt war gefangen von den Eindrücken des
Soldatenlebens, für Reflexionen oder Rückblicke blieb nur selten
Platz. Im Gegensatz zu dem neun Jahre älteren Diem, der zu
verschiedenen Tagungen des DRAfOS von der Front nach Berlin
abkommandiert wurde, war neben den Pflichten als Soldat für Halt zu
dieser Zeit kein Raum für sportliche Aktivitäten. Das änderte sich
erst, als der Sport von der militärischen Führung als sinnvolles
Mittel zur Anhebung der Truppenmoral erkannt wurde.
Der Besuch des bayerischen Königs im Februar 1915 belegte erneut die
vorbehaltlose Identifizierung Halts mit der Wittelsbacher Monarchie.
Schon beim Probeexerzieren bekam er einen ,,deutlichen Eindruck von
dem wunderbaren Gefühl, das der Parademarsch vor dem König in mir
wachrufen
wird".
125
Der
Besuch
von
Ludwig
III.
bei
seinem
Garderegiment sollte ,,der Leiber großer Tag" werden. ,,Wie schwillt
da jedem die Brust, wie schlägt da jedem das Herz höher."
126
Der
Auftritt des Monarchen vollzog sich jedoch weniger aufregend als
gedacht. Die Soldaten des Leibregiments zogen am König vorbei, der
,,jeden vorbeiziehenden Mann mit durchdringendem Blick" betrachtete
und von der Parade seiner Soldaten angeblich ,,tief ergriffen" war.
127
Halt fühlte sich, trotz zwischenzeitlicher Kriegsmüdigkeit, durch
diesen flüchtigen Moment in seiner grundsätzlichen Bejahung der
militärischen Auseinandersetzung nachhaltig bestärkt:
125
Kriegstagebücher, Eintrag 4. Februar 1915.
126
Kriegstagebücher, Eintrag 6.Februar 1915.
127
Kriegstagebücher, ebenda.

38
,,Wer denkt da nicht an die heilige Sache, für die wir
kämpfen, an die gerechte große Sache. Wer gedenkt in
solchen
historischen
Stunden
nicht
des
geliebten
Vaterlandes, des hohen heiligen Landes, dessen Grenzen
wir mit unserem Blut und Leben verteidigen. [...] Wir
haben unserem König aufs neue den Treueschwur gegeben,
den Schwur, daß wir nur dann nach Hause kehren wollen,
wenn
ein den aufgebotenen
Opfern
würdiger
Friede
geschlossen wird. Nur dann können wir weiterhin stolz
sein auf unser geliebtes Vaterland, auf Bayern, auf
Deutschland, nur dann können wir wieder singen und
wollen wir wieder singen: "Deutschland, Deutschland über
alles, über alles in der Welt!"
128
Wie
weggewischt
waren
die
Depressionen
des
monotonen
Stellungskrieges. Fortan war Halt wieder stolz, Teil einer ,,großen
Sache"
zu
sein.
Der
Krieg
mit
allen
fragwürdigen
Begleiterscheinungen wurde fortan rundum positiv beurteilt. Eine
Einstellung, die sich mit den Überzeugungen der meisten anderen
Soldaten aus dem Bürgertum deckte, zumindest mit denen, die in einem
höheren soldatischen Rang angesiedelt waren.
129
Bei den ,,einfachen"
Soldaten, die aus unteren Bevölkerungsschichten stammten und denen
ein militärischer Aufstieg verwehrt blieb, wurde die Motivation
dagegen mit Fortschreiten der Kampfhandlungen deutlich geringer.
Wenige Tage nach dem Besuch des bayrischen Königs begann für Halt
und
die
anderen
Auserwählten
des
Leibregiments
der
Offiziersaspirantenkurs.
Von
jeder
Kompanie
waren
nur
vier
Kandidaten abgestellt worden, was für den ehrgeizigen Unteroffizier
Halt eine große Auszeichnung bedeutete.
Der Leiter des Kurses konnte sich der vorbehaltlosen Anerkennung des
begeisterten Offiziersanwärters sicher sein:
,,Ich lerne in Leutnant Rauscher einen schneidigen
Offizier mit hoher Begabung kennen. [...] Jede Bewegung
zeigt in ihm den geborenen Soldaten. Seine Stimme [ist]
laut
und
sympathisch.
Sein
Vortrag
fesselnd
und
hochinteressant, sein Benehmen weltgewandt. So ein Mann
muß Geistesgegenwart haben, so ein Mann kann nie in
Verlegenheit
kommen.
Und seine
Augen.
Die
wirken
faszinierend. Er sieht einem bis in die Seele, warm,
doch streng. Solche Augen sehen alles, verfolgen alles,
solche Augen wirken erziehend und [...] Ich schätze mich
glücklich, in der Hand dieses Mannes zu sein. Wenn er
128
Kriegstagebücher, ebenda. Ähnlich begeisterte Schilderungen finden sich
nach einer Parade des Leibregimentes vor Kaiser Wilhelm II, Eintrag 30.März
1916.
129
Vgl. dazu: P. K
NOCH
, ,,Erleben und Nacherleben. Das Kriegserlebnis im
Augenzeugenbericht und im Geschichtsunterricht", in: G. Hirschfeld/G.
Krumnich/I. Renz,
Keiner fühlt sich hier als Mensch. Erlebnis und Wirkung
des Ersten Weltkriegs
, Essen 1993, S. 239.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1999
ISBN (eBook)
9783832420147
ISBN (Paperback)
9783838620145
Dateigröße
1.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Deutsche Sporthochschule Köln – Unbekannt
Schlagworte
ritter halt sport politik
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