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Konsens und Konflikt in der Tarifautonomie

Zur Erosion des Flächentarifvertrages

©1999 Seminararbeit 49 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Die verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie galt jahrelang als tragender Bestandteil der freiheitlich-sozialen Grundordnung Deutschlands. Seit Mitte der achtziger Jahre ist dieser vormals stabile Grundkonsens über Sinn und Grenzen der Tarifautonomie einer kritischen Diskussion über die künftige Entwicklung der Tarifpolitik gewichen. Das bundesdeutsche Kollektivvertragssytem befindet sich seitdem in einem anhaltenden Wandlungsprozeß.
Vor dem Hintergrund des technologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels sieht sich die Tarifpolitik einem zunehmenden Flexibilisierungs- und Differenzierungsbedarf gegenübergestellt. Verbände, Parteien, Wissenschaftler und politische Akteure unterbreiten Vorschläge zur Reform des Tarifsystems, die Vorstellungen über Zielsetzungen und Inhalte einer zukünftigen Tarifpolitik gehen dabei weiter denn je auseinander.
Die Unzufriedenheit mit dem Tarifsystem kommt in einer zunehmenden Tendenz von tarifwidrigem Verhalten, wie z.B. Tarif- und Verbandsflucht und offener Mißbrauch geltender Tarifnormen, zum Ausdruck, die mit dem Schlagwort "Erosion" umschrieben wird.
Im Rahmen dieser Arbeit wird der Konflikt um die Tarifautonomie näher beleuchtet. Welche Bedeutung und gesellschaftliche Funktion kam der Tarifautonomie bisher zu und woran liegt es, daß sie immer mehr in Frage gestellt wird? Wie sehen die Reformvorschläge aus und welche Auswirkungen haben sie auf das Tarifsystem? Diesen Fragen wird im folgenden nachgegangen.
Gang der Untersuchung:
Zu Anfang soll ein Überblick über die theoretischen Grundlagen des deutschen Tarifsystems in das Thema der Arbeit einführen. Die Entstehungsgeschichte der Tarifautonomie, ihre Bedeutung und Funktionen werden hier skizziert und die rechtlichen Rahmenbedingungen beleuchtet.
Der dritte Abschnitt behandeltdie Erosion des Flächentarifvertrages. Der Veränderungsprozeß im deutschen Tarifvertragssystem wird anhand seiner Hauptstationen nachgezeichnet und die Hintergründe für diese Entwicklung aufgezeigt.
Im vierten Abschnitt werden verschiedene Vorschläge zur Reform des Tarifsystems unter der Fragestellung diskutiert, welche möglichen Auswirkungen mit ihrer Umsetzung verbunden sind und inwieweit sie in Konflikt zur Garantie der Tarifautonomie geraten. Im Anschluß werden Ansatzpunkte für die Erhaltung und Stärkung der Tarifautonomie aufgezeigt.

Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
1.Einleitung1
2.Theoretische […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 1824
Schwedler, Birgit: Konsens und Konflikt in der Tarifautonomie: Zur Erosion des Flächentarifvertrages /
Birgit Schwedler - Hamburg: Diplomarbeiten Agentur, 1999
Zugl.: Berlin, Universität, Seminar, 1999
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Dipl. Kfm. Dipl. Hdl. Björn Bedey, Dipl. Wi.-Ing. Martin Haschke & Guido Meyer GbR
Diplomarbeiten Agentur, http://www.diplom.de, Hamburg 2000
Printed in Germany


1
Inhalt
Inhalt
1
1. Einleitung
3
2. Theoretische Grundlagen
4
2.1. Verfassungsrechtliche Grundlage der Tarifautonomie
4
2.2. Entstehungsgeschichte der Tarifautonomie
4
2.3. Bedeutung der Tarifautonomie
7
2.4. Merkmale der Tarifautonomie
8
2.5. Funktionen der Tarifautonomie
9
2.6. Rechtliche Rahmenbedingungen
9
2.7. Grenzen der Tarifautonomie
12
2.8. Effektivität und Stabilität der Tarifautonomie
12
3. Die Erosion des Flächentarifvertrages
13
3.1. Grunddaten zum Flächentarifvertrag
14
3.2. Der Erosionsprozeß
15
3.2.1. Politische und ökonomische Rahmenbedingungen im Umbruch
15
3.2.2. Auswirkungen auf das Tarifsystem
21
3.3. Hintergründe der Erosion
23
3.4. Wachsende Kritik am Tarifsystem
26
4. Zur Reform des Flächentarifvertrages
27
4.1. Der Erwartungskonflikt um die zukünftige Tarifpolitik
27
4.2. Reformvorschläge und ihre Auswirkungen auf das Tarifsystem
28
4.2.1. Dezentralisierung der Tarifpolitik
29
4.2.2. Öffnungsklauseln
31
4.2.3. Neudefinition des Günstigkeitsprinzips
35
4.2.4. Einschränkung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung
36

2
5. Schlußbemerkung
38
6. Literaturverzeichnis
41
6. Literaturverzeichnis
41

3
1. Einleitung
Die verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie galt jahrelang als tragender Bestandteil der
freiheitlich-sozialen Grundordnung Deutschlands. Seit Mitte der achtziger Jahre ist dieser vor-
mals stabile Grundkonsens über Sinn und Grenzen der Tarifautonomie einer kritischen Diskus-
sion über die künftige Entwicklung der Tarifpolitik gewichen. Das bundesdeutsche Kollektiv-
vertragssytem befindet sich seitdem in einem anhaltenden Wandlungsprozeß.
Vor dem Hintergrund des technologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels sieht
sich die Tarifpolitik einem zunehmenden Flexibilisierungs- und Differenzierungsbedarf gegen-
übergestellt. Verbände, Parteien, Wissenschaftler und politische Akteure unterbreiten Vor-
schläge zur Reform des Tarifsystems, die Vorstellungen über Zielsetzungen und Inhalte einer
zukünftigen Tarifpolitik gehen dabei weiter denn je auseinander.
Die Unzufriedenheit mit dem Tarifsystem kommt in einer zunehmenden Tendenz von tarifwidri-
gem Verhalten, wie z.B. Tarif- und Verbandsflucht und offener Mißbrauch geltender Tarifnor-
men, zum Ausdruck, die mit dem Schlagwort ,,Erosion" umschrieben wird.
Im Rahmen dieser Arbeit wird der Konflikt um die Tarifautonomie näher beleuchtet. Welche
Bedeutung und gesellschaftliche Funktion kam der Tarifautonomie bisher zu und woran liegt es,
daß sie immer mehr in Frage gestellt wird? Wie sehen die Reformvorschläge aus und welche
Auswirkungen haben sie auf das Tarifsystem? Diesen Fragen wird im folgenden nachgegangen.
Zu Anfang soll ein Überblick über die theoretischen Grundlagen des deutschen Tarifsystems in
das Thema der Arbeit einführen. Die Entstehungsgeschichte der Tarifautonomie, ihre Bedeutung
und Funktionen werden hier skizziert und die rechtlichen Rahmenbedingungen beleuchtet.
Der dritte Abschnitt behandelt die Erosion des Flächentarifvertrages. Der Veränderungsprozeß
im deutschen Tarifvertragssystem wird anhand seiner Hauptstationen nachgezeichnet und die
Hintergründe für diese Entwicklung aufgezeigt.
Im vierten Abschnitt werden verschiedene Vorschläge zur Reform des Tarifsystems unter der
Fragestellung diskutiert, welche möglichen Auswirkungen mit ihrer Umsetzung verbunden sind
und inwieweit sie in Konflikt zur Garantie der Tarifautonomie geraten. Im Anschluß werden An-
satzpunkte für die Erhaltung und Stärkung der Tarifautonomie aufgezeigt.

4
2. Theoretische Grundlagen
2.1. Verfassungsrechtliche Grundlage der Tarifautonomie
Gegenstand der Tarifautonomie ist der Konflikt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die
gegensätzlichen Interessen zwischen Arbeit und Kapital werden in diesem Rahmen auf kollektive
und kontrollierte Weise geregelt, mit dem Ziel der Kompromißfindung. Tarifautonomie heißt
konkret, daß Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände das Recht haben, ohne staatliche Einmi-
schung die Lohn- und Arbeitsbedingungen in Tarifverträgen festlegen zu können
1
. Verfassungs-
rechtlich geschützt ist dieses Recht durch die Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 GG. Danach
haben alle Bürger das Recht, zur Wahrung und Förderung der Wirtschaftsbedingungen Vereini-
gungen zu bilden.
Art. 9 Abs. 3 GG garantiert zunächst die individuelle Koalitionsfreiheit, d.h. der einzelne hat das
Recht, eine Koalition zu bilden, einer Koalition beizutreten und sich für Koalitionen zu betäti-
gen. Er schützt aber nicht nur das Recht des einzelnen, sich mit anderen zusammenzuschließen,
sondern auch die Koalition als solche, die kollektive Koalitionsfreiheit. Diese Garantie umfaßt
zum einen den Bestand des Verbandes, zum anderen aber auch das Recht, ,,...durch spezifisch
koalitionsgemäße Betätigung die in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Zwecke zu verfolgen, nämlich
die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern"
2
. Geschützt werden damit
insbesondere die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände sowie die ihnen zustehende Ta-
rifautonomie. Die Koalitionsfreiheit umfaßt nach herrschender Auslegung sowohl die positive
Koalitionsfreiheit, d.h. das Recht, einer Kollektivorganisation beizutreten, als auch die negative
Koalitionsfreiheit, d.h. das Recht, Kollektivorganisationen fernzubleiben, ohne dadurch Nachtei-
le zu erleiden. Durch den Schutz der Koalitionsfreiheit ist der Staat zur Neutralität verpflichtet;
er darf nicht durch zwingende Maßnahmen in die Auseinandersetzungen der Koalitionspartner
eingreifen.
2.2. Entstehungsgeschichte der Tarifautonomie
Ausgangspunkt für die Entwicklung der Tarifautonomie war die Liberalisierung der Wirtschafts-
ordnung und der Beginn der Industrialisierung Anfang des 19. Jahrhunderts
3
. In diesem Zusam-
menhang tauchte eine neue soziale Frage auf. Zunächst in England, später dann auch auf dem
1
Vgl. Hesselberger, D. (1996): Das Grundgesetz. Kommentar für die politische Bildung, S. 128
2
Söllner, A. (1998): Grundriß des Arbeitsrechts, S. 65
3
Vgl. Richardi, R. (1979): Einführung, in: Arbeitsgesetze, S. 10

5
europäischen Kontinent, entstanden Massenarbeitsverhältnisse. Es gab nicht mehr länger ledig-
lich Arbeiter, sondern es bildete sich von 1840 bis 1880 die industrielle Arbeiterschaft als neue
soziale Klasse heraus
4
.
In Bezug auf die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse bestand bereits zu jener Zeit Vertragsfreiheit
zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, allerdings nur formal-rechtlich. Durch die ungleich
größere wirtschaftliche Macht der Arbeitgeber, konnten sie die Arbeitsbedingungen weitestge-
hend zu ihrem Vorteil gestalten. Obwohl der freie Arbeitsvertrag schon damals einen gerechten
Interessenausgleich bringen sollte, glich er eher einem ,,Vertragsdiktat" und war als ,,Herrschafts-
instrument zur Ausbeutung" charakterisiert
5
.
Da der Staat zunächst nur sehr zögernd und unzureichend Schutzmaßnahmen für die Arbeitneh-
mer ergriff, erkannten diese die Notwendigkeit, sich in Gewerkschaften mit dem Ziel der kollek-
tiven Selbsthilfe zusammenzuschließen
6
. Indem sie ein soziales Gegengewicht zur Arbeitgeber-
seite bildeten, wollten sie auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen Einfluß bekommen. Seit
ungefähr 1860 entstanden so die ersten Gewerkschaften, die aber erst 1869 mit der Aufhebung
des Koalitionsverbotes legal wurden. Sie verstanden sich damals primär als Widerstands- und
Kampforganisationen mit dem Ziel, Löhne und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die Arbeit-
geber reagierten darauf, indem sie sich in Arbeitgeberverbänden zusammenschlossen. Sie sahen
ihre Freiheit bei der Verwendung der Arbeitskraft und der Lohnfestsetzung bedroht und befürch-
teten eine Gefährdung des technischen Fortschritts
7
. Während es also den Gewerkschaften um
die wirksame Durchführung von Streiks ging, war das primäre Ziel der Arbeitgeberverbände
deren Abwehr.
Die Auseinandersetzungen führten zum Abschluß von sog. Gesamtarbeitsverträgen, die dann
später als Tarifverträge bezeichnet wurden
8
. Als erster bedeutsamer Tarifvertrag wurde 1873 der
,,Reichstarifvertrag" für die Buchdrucker abgeschlossen
9
. Dem Tarifvertrag als Kollektivvertrag
fehlte aber noch die spezifische rechtliche Grundlage. Er wurde deshalb nach dem BGB als
schuldrechtlicher Vertrag zwischen den Verbänden erfaßt. Das bedeutete, daß der einzelne Ar-
beitnehmer und Arbeitgeber als Verbandsmitglied nicht verpflichtet werden konnte. Insbesonde-
re fehlte ihm noch die rechtliche Wirkung im Sinne einer zwingenden Festlegung von Mindest-
4
Vgl. Ruppert, W. (1986): Die Arbeiter, S. 23
5
Vgl. Kreutz, P.(1988): Tarifvertragsrecht, in: Albers, W. u.a.: HdWW, S. 535
6
Vgl. Richardi, R. (1990): Arbeitsrecht, in: Stern, K. u.a. : Einführung in das deutsche Recht, S. 133
7
Vgl. Dütz, W. (1995): Tarifrecht, in: Herder: Staatslexikon, S. 423
8
Vgl. Kreutz, P.(1988): a.a.O., S. 535
9
Vgl. Müller-Jentsch, W. (1997): Soziologie der industriellen Beziehungen, S. 198

6
arbeitsbedingungen
10
.
Der Tarifvertrag bekam erst Ende 1918 in der Weimarer Republik die erste gesetzliche Rege-
lung, die bereits alle wesentlichen Elemente des heutigen Tarifvertragrechts enthielt. Die Zent-
ralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Deutschlands vom 15.11.1918 brachte die Anerkennung der Gewerkschaften als berufene Vertre-
tung der Arbeitnehmerschaft. Durch die Tarifvertragsordnung von 23.12.1918 wurde die Tarifau-
tonomie als tarifliche Selbstgesetzgebung durch die Koalitionen, sowie der Vorrang des Tarifver-
trages vor dem individuellen Arbeitsvertrag gesetzlich eingeführt
11
.
Unter dem Nationalsozialismus wurden 1933 die Koalitionen aufgelöst. Die Tarifverträge wur-
den mit dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20.1.19934 beseitigt und durch die
Tarifordnungen der Treuhänder der Arbeit ersetzt. An die Stelle der Tarifautonomie trat damit
die staatliche Lohnfestsetzung.
Nach dem 2. Weltkrieg knüpfte die Gesetzgebung wieder unmittelbar an die arbeits- und tarif-
rechtliche Grundstruktur der Weimarer Zeit an. Der Alliierte Kontrollrat erließ einige Gesetze
mit arbeitsrechtlichem Inhalt (Kontrollratsgesetz Nr. 21 vom 30.3.1946 über die Arbeitsgerichts-
barkeit, Nr. 22 vom 10.4.1946 über Betriebsräte und Nr. 35 vom 20.8.1946 über die Schlich-
tung). Der Wirtschaftsrat der Bizone erließ am 9.4.1949 das Tarifvertragsgesetz, das durch das
Gesetz vom 23.4.1953 auf das Gebiet der Bundesrepublik ausgedehnt wurde
12
.
Infolge der Teilung Deutschlands in die Bundesrepublik und in die Deutsche Demokratische Re-
publik entwickelten sich die Rechtssysteme auseinander. In der DDR wurden die Rechte und
Pflichten des einzelnen Arbeitnehmers im Arbeitsgesetzbuch vom 22.6.1977 niedergelegt. Die
Grundlage der Arbeitsbeziehungen in der DDR bildete das Gemeineigentum an Produktionsmit-
teln in Form von gesamtwirtschaftlichem Volkseigentum, genossenschaftlichem Eigentum und
Eigentum gesellschaftlicher Organisationen
13
. Arbeitgeber in dem in der Bundesrepublik geläu-
figen Sinne gab es nicht und Arbeitskämpfe waren unzulässig.
Im Zuge der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde am 18.5.1990 ein Staatsver-
trag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion geschlossen. Dort wur-
den bereits Kündigungsschutz, Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Arbeitskampfrecht, Betriebs-
verfassung und Unternehmensmitbestimmung entsprechend dem Recht der Bundesrepublik
Deutschland eingeführt. Mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands am 3.10.1990
10
Vgl. Dütz, W. (1995): a.a.O., S. 423
11
Vgl. ebenda, S. 424
12
Vgl. Söllner, A. (1998): a.a.O., S. 16

7
wurde dann das gesamte Arbeitsrecht der Bundesrepublik, mit wenigen Ausnahmen, auf das Ge-
biet der ehemaligen DDR übertragen. Die Rechtsgrundlage bildet der Staatsvertrag über die Her-
stellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) vom 31.8. 1990
14
.
2.3. Bedeutung der Tarifautonomie
Im folgenden geht es um die Frage, welche Bedeutung der Tarifautonomie auf der gesamtgesell-
schaftlichen Ebene zukommt. Welchen Beitrag leistet die Tarifautonomie in Bezug auf den Kon-
flikt in den Arbeitsbeziehungen?
Die Tarifautonomie wird als Instrument zum Abbau von Spannungen innerhalb und außerhalb
des Betriebes betrachtet. Die Tarifparteien sollen durch ein Gegeneinanderspielen und Auspen-
deln der verschiedenen Meinungen Interessengegensätze überwinden
15
. Durch die Gestaltungs-
freiheit der Tarifverhandlungen und -vereinbarungen wird der soziale Friede eher gewährleistet
als durch staatliche Verordnungen. Das Tarifsystem gilt somit auch als Stabilisierungsfaktor der
Gesellschaft
16
.
Die Bedeutung der Tarifautonomie liegt außerdem in der gleichberechtigten Beteiligung der or-
ganisierten Arbeitnehmer und Arbeitgeber an der unmittelbaren Gestaltung der Arbeitsbeziehun-
gen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei das ,,Gleichgewicht der Sozialpartner und ihre ge-
genseitige Unabhängigkeit"
17
. Die Kapitalmacht der Unternehmer wird durch die Organisati-
onsmacht der Gewerkschaften eingeschränkt. Damit wird verhindert, daß die Arbeitnehmer reine
Befehlsempfänger sind. Insofern kann das Grundrecht der Koalitionsfreiheit auch als Gegenrecht,
als Gegengewicht zum zu starken Kapital oder Eigentum gesehen werden
18
.
Überdies hat die Tarifautonomie einen entscheidenden Einfluß auf das gesamtwirtschaftliche
Wohl: ,,Die Gesellschaftsordnung überantwortet der Tarifautonomie und damit dem Zusammen-
wirken autonomer Entscheidungsträger praktisch die Gestaltung des entscheidenden, des wesent-
lichen Aspektes der Wirtschaftspolitik überhaupt, nämlich der Lohn- und Einkommenspolitik.
Die Löhne und Gehälter werden im wesentlichen für die überwältigende Mehrheit der Bevölke-
rung durch die Verträge bestimmt, die die Tarifparteien miteinander schließen"
19
. In ihrer Bedeu-
13
Vgl. ebenda, S. 16
14
Vgl. ebenda, S. 17
15
Vgl. Ohm, W. (1975): Mitbestimmung und Grundgesetz, S. 86
16
Vgl. Heinze, R.G.; Müller-Jentsch, W. (1983): Stabilitätsleistungen und Abgrenzungseffekte des Tarifvertrags-
systems, in: Matthes, J.: Krise der Arbeitsgesellschaft?, S. 240
17
Ohm, W. (1975): a.a.O., S. 87
18
Vgl. ebenda, S. 91
19
Biedenkopf, K.H. (1978): Entwicklungstendenzen der Tarifautonomie, S. 5

8
tung ist die Tarifautonomie durchaus mit dem allgemeinen Wahlrecht zu vergleichen. Ihre Ge-
meinsamkeit besteht darin, daß sie mittelbar über Parteien und Gewerkschaften auch den sozial
Schwächeren Beteiligungsrechte einräumen, einerseits für den politischen, andererseits für den
wirtschaftlichen Bereich
20
.
2.4. Merkmale der Tarifautonomie
Die Tarifautonomie ist ,,ein paritätisches Konflikt- und Normensetzungsverfahren zur Regelung
der Arbeitsverhältnisse"
21
. Nach dem Prinzip der sozialen Selbstverwaltung können die Koaliti-
onspartner Löhne und andere Arbeitsbedingungen eigenverantwortlich regeln und zwar ohne
staatliche Rechtsetzung. Damit werden einseitige und autoritäre Festsetzungen von Unter-
nehmern oder vom Staat, wie es früher üblich war, durch bilaterale Verhandlungen ersetzt. Vor-
aussetzung dafür ist allerdings, daß sich die Tarifvertragspartner trotz ihres Konfliktes gegensei-
tig akzeptieren und gemeinsam Regeln für ihre Verhandlungen ausbilden.
Wenn Art. 9 Abs. 3 GG die Regelungszuständigkeit zur Wahrung und Förderung der Arbeitsbe-
dingungen den Koalitionen zuweist und die staatliche Regelungskompetenz hinter die Tarifauto-
nomie zurücktreten läßt, so entspricht dies dem Subsidaritätsprinzip. Das Zurücktreten des Staa-
tes beruht auf der Erwägung, daß die Beteiligten selbst besser als der Staat entscheiden können,
was ihren gegenseitigen und gemeinsamen Interessen entspricht
22
.
Träger der Tarifautonomie sind in der Regel Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Auf der
Kapitalseite gilt auch der einzelne Unternehmer als tariffähige Partei. Im allgemeinen verfügt er
über mehrere Arbeitsplätze und stellt damit schon als einzelner eine Koalition dar, die dem Ar-
beitnehmer als wirtschaftliche Macht gegenübertritt.
Die Verhandlungen der Koalitionspartner werden als Prozeß der Kompromißfindung und Kon-
fliktlösung verstanden. Sie enden bzw. sind zeitweilig abgeschlossen mit der Unterzeichnung
von Tarifverträgen. Die vereinbarten Tarifnormen sind grundsätzlich das Ergebnis von Macht-
prozessen zwischen den Parteien. Rechtliche Rahmenbedingungen haben nur Einfluß auf die
Verfahrens- und Vorgehensweise.
20
Vgl. Müller-Jentsch, W. (1997): a.a.O., S. 202
21
Ebenda, S. 203
22
Vgl. Söllner, A. (1998 a): Der Flächentarifvertrag-ein Kartell?, in: Dietrich, T.: Das Arbeitsrecht der Gegen-
wart, S. 27

9
2.5. Funktionen der Tarifautonomie
Tarifverhandlungen sind immer auch Machtprozesse, bei denen strukturelle Interessengegensätze
der Akteure hineinspielen. Die Frage nach den Funktionen der Tarifautonomie
23
muß daher für
die daran Beteiligten gesondert beantwortet werden.
Für die Arbeitnehmer erfüllt die Tarifautonomie drei Funktionen: Schutzfunktionen hinsichtlich
der Sicherung des Lebensstandards und humaner Arbeitsbedingungen, desweiteren Verteilungs-
funktionen, durch die die Arbeitnehmer am wachsenden gesellschaftlichen Wohlstand beteiligt
werden und schließlich Partizipationsfunktionen aufgrund der Mitbestimmung über die Anwen-
dungsbedingungen der Arbeitskraft.
Für die Arbeitgeber erfüllt sie folgende Funktionen: Kartellfunktionen, indem sie standardisierte
Lohnsätze und Arbeitszeiten ermöglicht, Ordnungsfunktionen durch die Herstellung überschau-
barer, stabiler Lohnstrukturen und Arbeitsbedingungen und überdies Befriedungsfunktionen
durch die Erzeugung von Kooperationsbereitschaft.
Für den Staat erfüllt die Tarifautonomie zum einen Entlastungsfunktionen, da er von der unmit-
telbaren Verantwortung für die Arbeitsbedingungen und die Konfliktbeziehungen zwischen Ka-
pital und Arbeit entbunden wird. Zum anderen umfaßt sie Legitimationsfunktionen, da Arbeits-
kämpfe in der Regel ausgetragen werden, ohne daß der Staat und die Regierung an Legitimation
einbüßt. Falls eine kritische Schwelle überschritten wird ist die Regierung legitimiert, als neutra-
ler Vermittler in die Tarifauseinandersetzungen einzugreifen. Überdies steht ihr mit der mögli-
chen Androhung einer Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen ein effektives Drohpo-
tential gegenüber den Tarifparteien zur Verfügung.
2.6. Rechtliche Rahmenbedingungen
Das Grundgesetz selbst sagt über die konkrete materielle Ausgestaltung der Tarifautonomie
nichts aus. Gesetzlich konkretisiert ist sie im Tarifvertragsgesetz (TVG) vom 9.4.1949. Darin
geregelt ist die Tariffähigkeit und -zuständigkeit der Parteien, die Form des Tarifvertrages und
seine Rechtswirkungen. Die eigentlichen Tarifverhandlungen werden durch dieses Gesetz nicht
geregelt. Diese beruhen auf eingespielten Übungen und freiwilligen Übereinkünften zwischen
den Parteien. Das Gesetz fixiert nur die rechtlichen Rahmenbedingungen.
23
Vgl. zum folgenden: Müller-Jentsch, W. (1997): a.a.O., S. 204

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1999
ISBN (eBook)
9783832418243
ISBN (Paperback)
9783838618241
Dateigröße
357 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin – Philosophische Fakultät III
Note
1,0
Schlagworte
gewerkschaften tarifautonomie öffnungsklauseln industrielle beziehungen tarifpolitik
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