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Die deutsch-französischen Beziehungen 1989-90

Ausgewählte Aspekte

©1999 Magisterarbeit 90 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Einleitung:
Mit der sogenannten "Wende" im Osten kommt die deutsch-französische Zusammenarbeit, die jahrzehntelang auf einer empfindlichen Balance zwischen einem politischen Übergewicht Frankreichs und einer wirtschaftlichen Überlegenheit der Bundesrepublik basiert, auf den Prüfstein.
Die deutsche Frage und schließlich die Wiedervereinigung haben die deutsch-französischen Beziehungen stark belastet und ihrer womöglich größten Bewährungsprobe ausgesetzt. Dabei ist die verschlechterte Stimmung größtenteils der französischen Seite zuzuschreiben.
Gang der Untersuchung:
In einem ersten Teil werden die deutsch-französischen Beziehungen 1989-90 im Spiegel von Verhandlungen und Gesprächen auf Regierungsebene betrachtet. Dabei stützt sich die Darstellung auf die im August erschienene Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramts zur deutschen Einheit. Der Vergleich zwischen Wort und Tat oder Taktik des französischen Präsidenten Mitterrands, der die deutsche Einheit nur widerwillig akzeptiert hat, ist ebenso aufschlußreich wie seine vertraulichen, von seinem Berater Attali aufgezeichneten Äußerungen zu dem Thema.
Der zweite Teil der Arbeit fängt exemplarisch Stimmen der "intellektuellen Elite" Frankreichs ein und veranschaulicht die Reaktionen von Politikern und Meinungsmachern auf das Ende der europäischen Teilung. Wie gingen sie mit der neuen Position Deutschlands, wie mit der veränderten Rolle ihres eigenen Landes um? Welche Ängste bedrückten, welche Hoffnungen beflügelten sie?
Abschließend soll ein Ausblick auf das Europa der Maastrichter Verträge zeigen, wie sich die Partner nach der "Vertrauenskrise" in ihre neuen Rollen eingefunden haben und welche Chancen für eine tiefreichende Verständigung das deutsch-französische Paar in der Ära der europäischen Integration hat.

Inhaltsverzeichnis:Inhaltsverzeichnis:
I.EINLEITUNG1
II.DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN 1989-90 AUF REGIERUNGSEBENE3
A.Die deutsch-französischen Beziehungen im Spiegel von Verhandlungen und Gesprächen3
1.Der Fall der Mauer4
2.Erste Reaktionen der europäischen Partner5
3.Das Zehn-Punkte-Programm7
4.Mitterrands Verzögerungsversuche10
a.Die Intensivierung der französisch-sowjetischen Beziehungen10
b.Der Besuch der DDR11
5.Europa als Dach für die deutsche Wiedervereinigung12
a.Deutsche und französische Vorstellungen12
b.Die Haltung des EG-Kommissionspräsidenten13
6.Die Frage des militärischen Bündnisses14
7.Die […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Pflüger, Johanna: Die Deutsch-Französischen Beziehungen 1989-90: Ausgewählte Aspek-
te / Johanna Pflüger.- Hamburg: Diplomarbeiten Agentur, 1999
Zugl.: Köln, Univ., Magisterarbeit, 1999
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tung für evtl. verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.
Dipl. Kfm. Dipl. Hdl. Björn Bedey, Dipl. Wi.-Ing. Martin Haschke & Guido Meyer GbR
Diplomarbeiten Agentur, http://www.diplom.de, Hamburg 1999
Printed in Germany


1
DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN 1989-90.
AUSGEWÄHLTE ASPEKTE
Magisterarbeit
am Historischen Seminar der Universität zu Köln
Mittlere und Neuere Geschichte
bei
Professor Dr. Günter Wollstein
von
Johanna Pflüger
Am Treppchen 7
42799 Leichlingen
Köln, 22. Januar 1999

2
INHALTSVERZEICHNIS
I EINLEITUNG... 6
II DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN 1989-90 AUF
REGIERUNGSEBENE ... 9
A D
IE DEUTSCH
-
FRANZÖSISCHEN
B
EZIEHUNGEN IM
S
PIEGEL VON
V
ERHANDLUNGEN UND
G
ESPRÄCHEN
... 9
1. Der Fall der Mauer... 10
2. Erste Reaktionen der europäischen Partner ... 12
3. Das Zehn-Punkte-Programm... 13
4. Mitterrands Verzögerungsversuche ... 17
a. Die Intensivierung der französisch-sowjetischen Beziehungen... 17
b. Der Besuch der DDR ... 18
5. Europa als Dach für die deutsche Wiedervereinigung ... 19
a. Deutsche und französische Vorstellungen ... 19
b. Die Haltung des EG-Kommissionspräsidenten... 20
6. Die Frage des militärischen Bündnisses ... 21
7. Die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen ... 22
8. Die Oder-Neiße-Grenze ... 24

3
9. Die Verlangsamung der Europäischen Integration... 27
10. Erneute Annäherung... 28
11. Französisch-sowjetische Allianz? ... 29
12. Deutsch-französischer Routineeinsatz für Europa... 29
13. Deutsch-sowjetische Einigung ... 30
14. Das Ende der ,,Siegerrechte" der Alliierten ... 32
Artikel 7 ... 32
15. Der Tag der deutschen Einheit ... 33
B A
USBLICK AUF DIE WEITERE
E
NTWICKLUNG
... 34
1. Deutsch-französische Initiativen ... 34
2. Maastricht ... 36
3. Neue weltpolitische Verantwortung ... 37
4. Die Ostpolitik ... 39
C Z
USAMMENFASSUNG
... 41
III DIE HALTUNG DER INTELLEKTUELLEN ELITE FRANKREICHS... 44
A E
INLEITUNG
... 44
B D
IE
D
ARSTELLUNG IN DER FRANZÖSISCHEN
P
RESSE
... 45
1. Vorbemerkungen ... 45

4
2. Le Figaro... 47
a. Vorbemerkung... 47
b. Nach dem Fall der Mauer: Lehren aus der Geschichte... 47
c. Deutschlands neue internationale Position ... 49
d. Lob für Kohl - Kritik an der eigenen Regierung... 49
e. Die Grenzfrage ... 50
f. Europa als Schutzinstrument vor deutscher Dominanz... 50
g. Die deutsch-französischen Beziehungen... 51
h. Tag der deutschen Einheit... 53
3. Le Monde ... 55
a. Vorbemerkung... 55
b. Frühzeitige Sensibilität ... 55
c. Nach dem Fall der Mauer... 56
d. Historische Reminiszenzen ... 56
e. Die deutsch-französischen Beziehungen... 56
f. Die Grenzfrage... 58
g. Germanophobie... 59
h. Die Wiedervereinigung innerhalb des westlichen Bündnisses ... 59
k. Das Bild des Kanzlers ... 61
l. Deutschland in Europa... 62
m. Tag der deutschen Einheit... 63
4. Ausgewählte, repräsentative Publikationen ... 64
a. Vorbemerkung... 64
b. Emotionalisierung der Massen... 64
c. Konsequenzen für Frankreich ... 66
d. Deutsch-französische Mittler: Ausnahmepositionen veröffentlichter Stimmen. 68
e. Nach der Wiedervereinigung ... 69
5. Zusammenfassung... 70
IV FAZIT... 72
W
ELCHE
Z
UKUNFT FÜR
E
UROPA
? ... 73
Persönliche Nachbemerkung... 76

5
ANHANG... 78
EXKURS: DIE ÖFFENTLICHE MEINUNG IN FRANKREICH ENDE 1989... 78
BIBLIOGRAPHIE... 81

6
I Einleitung
Die deutsch-französischen Beziehungen der Jahre 1989-1990 stehen unter dem Eindruck
der sogenannten ,,Wende" im Osten. Der Wandel von sozialistischer Diktatur zu Demo-
kratie und Freiheit beendet die Ära des Kalten Krieges und stellt die gesamte Nachkriegs-
ordnung in Frage. Mit ihr kommt die deutsch-französische Zusammenarbeit auf den Prüf-
stein, die jahrzehntelang auf einer empfindlichen Balance zwischen einem politischen
Übergewicht Frankreichs und einer wirtschaftlichen Überlegenheit der Bundesrepublik
basiert. In der Tradition dieser Betrachtungsweise hat schon 1979 der damalige französi-
sche Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing dem sowjetischen Staatsoberhaupt Leonid
Breschnew versichert, daß die deutsche Teilung im Interesse der Nachbarn und des euro-
päischen Gleichgewichts beibehalten werden müsse.
Mitterrand führt diese Politik insofern fort, als er die Beziehungen zur ,,DDR" stark aus-
baut und auch wirtschaftliche Unterstützung gibt
1
.
1978 schreibt er, damals Generalse-
kretär der Sozialistischen Partei:
,,Von der politischen und moralischen Bedeutung der Vereinigung für die Deut-
schen abgesehen, wenn ich bei den Tatsachen bleibe, also dem europäischen
Gleichgewicht, der Sicherheit Frankreichs, der Bewahrung des Friedens, halte ich
sie weder für möglich noch für wünschenswert."
2
Je dringender die Lösung der deutschen Frage Ende der achtziger Jahre wird, desto offen-
sichtlicher stürzt sie das deutsch-französische Paar in eine tiefe Krise. Gegenüber dem
Streben nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten frappiert der heftige und
emotional verstärkte Widerstand der Franzosen.
Die Darstellung der deutsch-französischen Beziehungen stützt sich auf die im August
1998 erschienene Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes zur deutschen
Einheit
3
. In minutiöser Arbeit ist hier mit Dokumenten und Zeugnissen der gesamte Ver-
handlungs- und Gesprächsablauf auf dem Weg zur Einheit aus deutscher Sicht aufbereitet
worden. In Anbetracht der Tatsache, daß auf dem diplomatischen Parkett oft eine verhal-
tene und indirekte Sprache gesprochen wird, sind die jeweiligen Kommentare und Inter-
pretationen von großer Hilfe (Einführung von Hanns Jürgen Küsters). Unter der Prämisse,
1
Pierre Guillen, La question allemande (1945-1995), Imprimerie Nationale, Paris 1996,
pp. 133-34.
2
Georges-Henri Soutou, ,,La France et les bouleversements en Europe, 1989-1991, ou le
poids de l'idéologie", in: Histoire, économie et société, 1/1994, p. 201.
3
Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des
Bundeskanzleramtes 1989/90, hg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung
des Bundesarchivs, R. Oldenbourg Verlag, München 1998.

7
daß der französische Staatspräsident die deutsche Einheit nur widerwillig akzeptiert hat,
ist es aufschlußreich, seine offiziellen Stellungnahmen im Kontrast zu seinen politischen
Handlungen zu betrachten. Neben dem Vergleich von Wort und Tat oder Taktik sind die
vertraulichen Bemerkungen, die sein Berater Jacques Attali in den Verbatim-Bänden auf-
gezeichnet hat, erhellend und geradezu brisant
4
. Die der Öffentlichkeit nicht zugedachten
Äußerungen stehen teilweise in krassem Widerspruch zu seinen offiziellen Beteuerungen
für die Einheit. Mitterrand selbst hat Über Deutschland geschrieben (1996 posthum er-
schienen)
5
. Seine Memoiren über die Zeit der Wiedervereinigung sind natürlich subjektiv,
überraschen jedoch durch beträchtliche Unterschiede zu Zeitzeugen in der Darstellung
seiner Haltung zur deutschen Einheit. Es drängt sich der Verdacht auf, daß der Staats-
mann nachträglich den Versuch unternimmt, seine Politik in einem für ihn vorteilhafteren
Licht darzustellen
6
. So entgegnet er Kritikern, die ihn bezichtigten, den ,,Zug zur deut-
schen Einheit verpaßt" zu haben, er sei gemeinsam mit George Bush ,,der erste gewesen
(...), der die Perspektive der Vereinigung begrüßt hatte..."
7
Im Laufe der Arbeit hat sich der Eindruck verstärkt, daß die deutsche Frage und schließ-
lich die Wiedervereinigung die deutsch-französischen Beziehungen stark belastet und
ihrer womöglich größten Bewährungsprobe ausgesetzt haben. Dabei ist die verschlech-
terte Stimmung größtenteils der französischen Seite zuzuschreiben, die mit der neuen,
politischen Situation schwer umzugehen wußte. Aus diesem Grund hat sich die vorlie-
gende Arbeit zunächst hauptsächlich auf die Aktivitäten des offiziellen Frankreichs, allen
voran Mitterrands, konzentriert, um dann die Stimmen der ,,intellektuellen Elite" Frank-
reichs (hauptsächlich der Presse) exemplarisch einzufangen. Die Darstellung soll die Re-
aktionen des offiziellen und öffentlichen Frankreichs vom Fall der Mauer bis zur deut-
schen Wiedervereinigung erleuchten. Wie stellten sich Politiker und Meinungsmacher auf
das Ende der europäischen Teilung ein? Wie gingen sie mit der neuen Position Deutsch-
lands, wie mit der veränderten Rolle ihres eigenen Landes um? Welche Ängste bedrück-
ten, welche Hoffnungen beflügelten sie?
Die Wende bedeutet eine historische Zäsur für die Akteure der Weltpolitik, und sie ist
eine Zäsur in den deutsch-französischen Beziehungen. Deshalb soll ein Ausblick auf das
Europa der Maastrichter Verträge zeigen, wie sich die Partner nach der ,,Vertrauenskrise"
in ihre neuen Rollen eingefunden haben. Nachdem das Problem der deutschen Frage vor
4
Jacques Attali, Verbatim III. Chronique des années 1988-1991, Fayard, Paris 1995.
5
François Mitterrand, Über Deutschland, Insel Verlag, Frankfurt und Leipzig 1996.
6
Gilbert Ziebura, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Reali-
täten, Verlag Günther Neske, Stuttgart 1997, p. 488.
7
François Mitterrand, Über Deutschland, p.29.

8
allem auf französischer Seite latentes, aber gravierendes Mißtrauen wieder hat aufbre-
chen lassen, ist die Frage berechtigt, welche Chancen für eine tiefreichende Verständi-
gung das deutsch-französische Paar in der Ära der europäischen Integration hat.

9
II Die deutsch-französischen Beziehungen 1989-90 auf Regie-
rungsebene
A Die deutsch-französischen Beziehungen im Spiegel von Verhandlungen
und Gesprächen
Solange es scheint, als sei die deutsche Wiedervereinigung faktisch unmöglich, fällt es
den französischen Politikern und Staatsrepräsentanten leicht, Lippenbekenntnisse abzule-
gen, sie befürworteten die Überwindung der deutschen Teilung.
So erklärt Präsident Mitterrand noch am 5. Juli 1989 in einer gemeinsamen Pressekonfe-
renz mit dem sowjetischen Staatspräsidenten Gorbatschow in Paris, ,,daß das Streben
nach Wiedervereinigung ein legitimes Streben ist für diejenigen, die es, hier und da, egal
in welchem Teil Deutschlands, empfinden." Im gleichen Atemzug relativiert der Franzose
allerdings seine Aussage, indem er fragt: ,,Was ist die Realität? Zwei Deutschlands, die
verschiedenen Systemen in jeder Hinsicht angehören: wirtschaftlich, sozial, politisch,
verschiedene Bündnisse, die innerhalb der Staaten, souveräner Staaten, bestehen." Man
könne nicht einfach ,,die Geschichte über Bord werfen". Wie unwahrscheinlich eine Än-
derung des Status Quo zu diesem Zeitpunkt erscheint, macht die abschließende Bemer-
kung Mitterrands deutlich: ,,Es gibt daher weder eine grundsätzliche Verweigerung noch
eine zwingende Realität [gemeint: für oder gegen die Wiedervereinigung]."
8
Die Bundesregierung ihrerseits legt angesichts der revolutionären Umwälzungen, die sich
im Osten abzeichnen, deren Ausgang aber noch völlig unklar ist, Wert auf die Pflege ihrer
internationalen Kontakte zu Partnern und Freunden.
Bei den 54. deutsch-französischen Konsultationen vom 2.-3. November 1989 in Bonn hält
Kohl die Entwicklung in der ,,DDR" für ,,nicht vorhersehbar", und legt Mitterrand ge-
genüber seine derzeitigen Prioritäten auf seine Polenreise, das kommende Gipfeltreffen
zwischen Bush und Gorbatschow und den Prozeß der europäischen Integration. Kohl
nimmt auf die enge Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern Bezug: er wolle ,,keine
Kontroverse zwischen Frankreich und Deutschland" über die Währungsunion, diesem
,,Kernbereich der europäischen Einigung". Meinungsverschiedenheiten sollten ,,vertrau-
lich zwischen Elysée und Bundeskanzleramt abgeklärt und ausgeräumt werden". Mit
Blick auf die Bewegungen im Osten erklärt er, gerade deshalb wolle er ,,den Erfolg des
Gipfels in Straßburg. Ohne den europäischen Integrationsprozeß gäbe es keine Reformen
8
Sonderedition, Nr. 16, Vorlage Bitterlich an Kohl, pp. 345-46.

10
im Osten." Und an anderer Stelle versichert er Mitterrand: ,,Fortschritte in der deutschen
Frage sind nur in «Europa» möglich."
9
Der französische Staatspräsident beteuert seiner-
seits, das deutsche Problem werde sich durch die ,,magnetische Kraft Europas regeln las-
sen." Nach Ansicht seines Beraters Attali hat Mitterrand bei dieser wichtigen Zusammen-
kunft der Wiedervereinigung ,,ausdrücklich grünes Licht gegeben".
Bei der anschließenden Pressekonferenz sagt Mitterrand seine berühmten Worte, er habe
,,keine Angst vor der Wiedervereinigung".
Ganz anders äußert er sich privat, wenige Tage nach den Konsultationen:
,,Ein wiedervereinigtes Deutschland bedeutete eine doppelte Gefahr für Europa.
Durch seine Macht. Und weil sie zu einer Allianz Großbritannien-Frankreich-
Sowjetunion antriebe. Das brächte mit Sicherheit einen Krieg im 21. Jahrhundert.
Europa muß sehr schnell realisiert werden, um die deutsche Wiedervereinigung
zu entschärfen."
10
Wieder anders liest sich seine Einschätzung der Lage in den viel später verfaßten Erinne-
rungen Über Deutschland:
,, Ich verhehlte mir (...) nicht das Risiko, das Frankreich mit der wiederge-
fundenen Stärke seines mächtigen Nachbarn einging. Diese neue Situation
würde von Frankreich eine außergewöhnliche (...) Anstrengung erfordern,
um sich der Konkurrenz (...) gewachsen zu zeigen (...). Doch wir sollten
diese Herausforderungen annehmen. Frankreich war dazu in der Lage."
11
Am selben Tag erhält er einen Brief Kohls, der ihn über die finanzielle Hilfe der Bundes-
republik für Polen und Ungarn informiert (drei bzw. zwei Milliarden Mark). In dem Gei-
ste, daß die Pflichten unter den Westmächten aufgeteilt würden, habe die Bundesregie-
rung einen wesentlichen Beitrag zu der Erfüllung der zukünftigen Aufgaben der Achse
Paris-Bonn geleistet. Mitterrands Reaktion ist aufschlußreich. Er ruft aus:
,,Was für eine gekünstelte Ausdrucksweise! Wenn er glaubt, er könne alles mit
Geld kaufen, dann irrt er sich! Die Sowjets werden ihm nie Polen überlassen. Mi-
schen wir uns nicht ein. Gorbatschow wird seine Arbeit auch alleine machen."
12
Seine Hoffnung, Gorbatschow werde sein Veto gegen die Wiedervereinigung einlegen
und Frankreich ein offizielles ,,Nein" ersparen, kommt nicht zum letzten Mal zum Aus-
druck.
1. Der Fall der Mauer
Im Herbst 1989 überschlagen sich die Ereignisse. Der Mauerfall am 9. November kommt
für alle völlig überraschend, sowohl für die Deutschen selbst als auch für das Ausland.
9
Sonderedition, Nr. 70, 54. Deutsch-französische Konsultationen, pp. 472-73.
10
Jacques Attali, Verbatim III, p. 328.
11
François Mitterrand, Über Deutschland, p. 50.
12
Jacques Attali, Verbatim III, p. 331-36.

11
Die ersten Reaktionen aus Frankreich sind von Sympathie und gar Begeisterung für die
Revolution geprägt, die die Deutschen im Jubiläumsjahr der Französischen Revolution im
Zeichen der Freiheit unternehmen. So nennt Premierminister Rocard am 9. November in
einem Radiointerview den Mauerfall ein ,,gigantisches Ereignis" und ein ,,Signal des
Friedens"
13
. Der damalige Bürgermeister von Paris, Jacques Chirac, begrüßt in einem
Vortrag vor dem Institut Français des Relations Internationales die ,,Volksbewegung (...)
in der DDR", die sich ohne ,,nationalistische Töne" abspiele. Er spricht sich für die Wie-
dervereinigung aus, die ,,Sache des deutschen Volkes" sei. Entscheidend sei jedoch, daß
sie in Abstimmung mit den westlichen Partnern und mit der europäischen Einigung erfol-
ge
14
.
Während allgemein noch von einem langwierigen Prozeß der Annäherung zwischen den
beiden deutschen Staaten ausgegangen wird, muß Kohl auf dem EG-Sondergipfel in Paris
am 18. November ,,Überzeugungsarbeit" leisten. Nachdem Giscard d'Estaing am Wo-
chenende zuvor zur ,,Rettung der EG" aufgerufen hatte, wozu die Verpflichtung aller
Mitgliedstaaten gehöre, ,,die gegenwärtigen Grenzen nicht in Frage zu stellen", ist wohl
klar geworden, daß die betroffenen Länder einer möglichen Wiedervereinigung nicht
einfach zusehen werden. Weniger dramatisch, aber doch sorgenvoll, betont auch Mitter-
rand, ,,der Integrationsprozeß müsse wegen der Entwicklung im Osten nicht nur fortge-
führt, sondern verstärkt und beschleunigt werden." Es sei für Frankreich von Bedeutung,
,,nach außen herauszustellen, daß [Deutschland] klar in die westliche Gemeinschaft und
ihre Entscheidungsprozesse eingebunden" sei.
Dementsprechend entwirft Kanzlerberater Teltschik seinen Vorschlag für Kohls Ge-
sprächsführung. Demzufolge wird der Kanzler sein Engagement für die europäische, po-
litische Union unterstreichen, für die Unterstützung der Reformprozesse in Mittel- und
Osteuropa werben und vor allem die ,,Perspektiven zur Überwindung der Teilung Euro-
pas" betonen, um ,,zu einer neuen und dauerhaften Stabilität in ganz Europa zu kommen."
Dies schließe zudem die Perspektive ein, ,,im Rahmen einer europäischen Friedensord-
nung die Teilung Deutschlands zu überwinden." Was Kohl dem französischen Staats-
oberhaupt dann im einzelnen sagt, wird er in den folgenden Wochen und Monaten ständig
wiederholen:
,,Unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft und in der Atlanti-
schen Allianz ist für uns unverzichtbar und Teil unserer Staatsräson. Unsere Ant-
wort auf die deutsche Frage war von Anfang an europäisch und wird europäisch
bleiben. Die Lösung der deutschen Frage und die Überwindung der Teilung Eu-
13
Deutschland - Frankreich. Ein neues Kapitel ihrer Geschichte. 1948 - 1963 - 1993, Do-
kumente / Documents (Hgg.), Europa Union Verlag, Bonn 1993, pp. 104-05.
14
Werner Rouget, ,,Die deutsche Frage und ihre formelle französische Lesart", in: Do-
kumente, 1/1990, pp.60-61.

12
ropas stehen in einem untrennbaren Zusammenhang. Wir wollen eine gerechte
und dauerhafte europäische Friedensordnung erreichen, in der auch das deutsche
Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt."
15
2. Erste Reaktionen der europäischen Partner
Auf dem Straßburger Gipfel wird allerdings auch klar, daß die französische Regierung der
europäischen Wirtschafts- und Währungsunion den Vorrang vor der politischen Union
gibt. Erstere birgt für Frankreich die Aussicht, die D-Mark in den Integrationsprozeß ein-
zubinden, d.h. abzulösen.
Attali berichtet von dem Abendessen der zwölf Regierungschef am 18. November 1989,
zu dem Mitterrand ins Elysée eingeladen hat. Bis zum Dessert haben alle tunlichst ver-
mieden, das Wort ,,Wiedervereinigung" in den Mund zu nehmen. Es ist hauptsächlich die
Rede davon, daß Gorbatschow geholfen werden müsse. Erst ganz zum Schluß veranlaßt
eine dementsprechende Bemerkung Thatchers Kohl dazu, auf eine Erklärung der NATO
aus dem Jahre 1970 zu verweisen, in der die Wiedervereinigung befürwortet wurde. Wor-
auf Frau Thatcher das ausspricht, was wohl die meisten Europäer bis zum Fall der Mauer
gedacht hatten: ,,Aber diese Erklärung wurde zu einem Zeitpunkt abgegeben, da man
annahm, [die Wiedervereinigung] werde nie stattfinden!"
16
Wenige Tage später muß Attali in Moskau allerdings feststellen, daß der Berater Gorba-
tschows, Vadim Zagladine, sich schon eingehend mit der Idee einer deutschen Wieder-
vereinigung beschäftigt hat, auch wenn man natürlich Bedingungen und große Sorgen hat.
Der Brief Helmut Kohls an Mitterrand vom 27. November 1989 stellt eine Enttäuschung
für die französische Seite dar. Seine Vorschläge für einen ,,Kalender der Europäischen
Union" empfindet man in Paris als unzureichend, was die politische Union betrifft. Die
Regierungskonferenz, die institutionelle Reformen besprechen soll, scheint er auf Anfang
1991 verschieben zu wollen. Für Attali heißt das: ,,Alles ist begraben. Die deutschen Pro-
bleme werden die europäische Konstruktion hinwegfegen."
17
Renata Fritsch-Bournazel faßt die Hauptsorgen der politischen Führer Europas wie folgt
zusammen:
1.
Deutschland könnte sich von der Europäischen Gemeinschaft abwenden, um
seine Beziehungen zu den USA und den Ländern im Osten zu privilegieren, es
würde eine Achse Washington-Bonn-Moskau entstehen.
2.
Mit seinen 80 Millionen Einwohnern, seinem vergrößerten Territorium und
seiner gesteigerten wirtschaftlichen Macht wird Deutschland ein noch größe-
15
Sonderedition, Nr. 94 A, Teltschik an Kohl, pp. 541-43.
16
Jacques Attali, Verbatim III, p. 343.
17
Jacques Attali, Verbatim III, p. 347-49.

13
res Gewicht in der Europäischen Gemeinschaft haben, dort eine Art Hegemo-
nie innehaben, indem es seine Vorstellungen in Brüssel und im Europarat
durchsetzen wird.
3.
Die durch die Vereinigung entstandenen wirtschaftlichen und sozialen
Schwierigkeiten werden fatale Folgen für Deutschlands Partner haben, und
zumindest eine Zeit lang den Prozeß der Europäischen Union verlangsamen:
dies ist das Ergebnis des am 9. Juli von der Kommission dem Europäischen
Parlament vorgelegten Berichts, die die Wirkung der deutschen Vereinigung
auf die Gemeinschaft untersuchen sollte.
18
Frankreich sorgt sich zudem um sein nunmehr abgewertetes Militär- und Nuklearpotenti-
al. Auch die Aussicht auf ein drohendes ,,strategisches Vakuum", durch einen eventuellen
amerikanischen Rückzug und die europäische Abrüstung bewirkt, beunruhigt die Franzo-
sen
19
.
3. Das Zehn-Punkte-Programm
Die fortlaufende Entwicklung in Ostdeutschland erfordert eine strategische Antwort
der Bundesregierung. Diese wird im Bundeskanzleramt in Form des Zehn-Punkte-
Programms erarbeitet. Die Verkündigung am 28. November 1989 im deutschen
Bundestag durch Kohl ist ein kommunikationstaktischer ,,Coup". Der Kanzler hat
vorab weder die Fraktionsspitzen des Bundestages noch den Koalitionspartner noch
die Westmächte (mit Ausnahme von US-Präsident Bush) informiert. Das deutsch-
landpolitische Konzept stellt einen Stufenplan zur Einheit dar. Mit Sofortmaßnah-
men für die ,,DDR" beginnend, sieht es zunächst eine Vertragsgemeinschaft, dann
konföderative Strukturen und schließlich die Konföderation der beiden deutschen
Staaten vor. Kohl geht dabei von einer Dauer von fünf bis zehn Jahren aus.
Im einzelnen schlägt er vor:
1. Soforthilfe in humanitärer, medizinischer und finanzieller Form für die DDR
2. Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und der
DDR
3. Ausweitung der Zusammenarbeit und Hilfe unter der Bedingung , daß es zu
Reformen in der DDR kommt, u.a. zur Einführung von freien, gleichen und
geheimen Wahlen
18
Renata Fritsch-Bournazel, L'Allemagne unie dans la nouvelle Europe, Editions Com-
plexe, Brüssel 1991, p.236.
19
David S. Yost, ,,Frankreich in einem neuen Umfeld", in: Europa-Archiv, 23 / 1990, p.
693.

14
4. Vertragsgemeinschaft durch ,,Vereinbarungen in allen Bereichen und auf al-
len Ebenen" (Vorschlag von Ministerpräsident Modrow)
5. Entwicklung konföderativer Strukturen nach freien Wahlen zu einer demo-
kratisch legitimierten Regierung der DDR
6. Einbettung des innerdeutschen Prozesses in die gesamteuropäische Architek-
tur und in eine dauerhafte und gerechte europäische Friedensordnung unter
Achtung der Integrität und Sicherheit jedes Staates, des Rechts jedes Staates,
das eigene politische und soziale System frei zu wählen, des Selbstbestim-
mungsrechts der Völker und der Menschenrechte
7. baldiger Abschluß eines Handels- und Kooperationsabkommens zwischen der
DDR und der EG
8. Vorantreiben des KSZE-Prozesses
9. weitere Schritte in der Abrüstung und der Rüstungskontrolle
10. ,,Mit dieser umfassenden Politik wirken wir auf einen Zustand des Friedens in
Europa hin, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Ein-
heit wiedererlangen kann. Die Wiedervereinigung, das heißt die Wiederge-
winnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der
Bundesregierung."
20
Während die im Bundestag vertretenen Parteien mehrheitlich positiv reagieren, schlägt
das Zehn-Punkte-Programm im Ausland wie eine Bombe ein.
Mit seinem Verständnis dafür, daß Kohl die Handlungsinitiative ergriffen hat, erweist
sich Bush als der engste Verbündete und wohl aufrichtigste ausländische Befürworter der
deutschen Einheit. Seine conditio sine qua non für die Wiedervereinigung lautet: das
vereinigte Deutschland muß im westlichen Allianzsystem bleiben
21
.
Die anderen drei Alliierten machen ihrem Ärger über den deutschen Alleingang Luft,
durch den sie sich überrollt und in ihrer Rolle als Siegermächte übergangen fühlen. Zwar
bezeichnet Mitterrand die deutsche Wiedervereinigung nach wie vor als legitim, betont
jedoch das Mitspracherecht, daß die Alliierten beanspruchen: es sei notwendig, ,,daß die
übrigen europäischen Völker nicht vor eine vollendete Lage gestellt werden, vor allem
jene nicht, die die Funktion von Garanten ausüben.."
In Attalis Aufzeichnungen klingen die Worte des Staatspräsidenten etwas anders:
20
Karl Kaiser, Deutschlands Vereinigung. Die internationalen Aspekte. Mit den wichti-
gen Dokumenten, Bastei-Lübbe-Verlag, Bergisch Gladbach 1991, Dokument 13, pp.158-
67.
21
Sonderedition, Einführung, p. 65.

15
,,Er [Kohl] hat mir nichts gesagt! Nichts gesagt! Das werde ich nie vergessen!
Gorbatschow wird wütend sein; er wird das nicht mit sich machen lassen, das ist
unmöglich! Ich brauche keinen Widerstand zu leisten, die Sowjets werden es für
mich machen."
22
In den entsprechenden Passagen in seinem Deutschlandbuch verewigt Mitterrand eine
ihm schmeichelhaftere Version.
,,Anders als in der deutschen Presse verbreitet (...), habe ich nicht das Recht des
deutschen Regierungschefs bestritten, initiativ zu werden, wo doch das Schicksal
seines Vaterlandes auf dem Spiel stand (...). Im übrigen belegt eine aufmerksame
Lektüre der zehn Punkte, daß sie keinen Bruch mit dem früheren Vorgehen dar-
stellten(...) Was hatte ich ihm [Kohl] vorzuwerfen? Daß die «kleinen Schritte»
sich überstürzten? Die Ereignisse auch! In den deutsch-französischen Beziehun-
gen gab es weder Dissens noch Abkühlung (...) Es gab Debatten. Diese Debatten
führten wir (...) Tatsächlich war strenggenommen an dem Zehn-Punkte-Programm
nichts, was die wachsamsten, nicht einmal die argwöhnischsten Zensoren der
deutschen Politik hätte beunruhigen können."
Nach einer längeren Betrachtung der einzelnen Programmpunkte kritisiert Mitterrand aber
doch das Schweigen Kohls in drei Fragen: in denen ,,der Grenzen, (...) der Bündnisse, (...)
der Rechte der Garantiemächte."
23
Außenminister Dumas betont in seiner Erklärung vor der französischen Nationalver-
sammlung, wie wichtig es für seine Regierung sei, daß die ,,Wiedervereinigung im Kon-
text der europäischen Integration erfolge."
24
Am 30. November trifft der deutsche Außenminister Genscher mit Mitterrand zusammen
und deutet ein deutsches Einlenken an, was den Europäischen Kalender angeht. Man sei
nun doch bereit, ein Datum für die Konferenz zur Währungsunion beim Straßburger Gip-
fel festzulegen. Mitterrand erzählt später Attali, er habe Genscher mit den Worten ge-
droht:
,,Entweder findet die deutsche Einheit nach der europäischen Einheit statt, oder
Sie werden eine dreifache Allianz (Frankreich, Großbritannien, Rußland) gegen
sich haben, und dies wird mit einem Krieg enden. Wenn die deutsche Einheit
nach der europäischen erfolgt, werden wir Ihnen helfen."
25
In einem Brief an Kohl spricht der Franzose dagegen nur von der Konferenz zur Wirt-
schafts- und Währungsunion, die er noch 1990 wünscht. Sein Berater Attali bemerkt hier-
zu, wie seltsam es doch anmute, die beiden Staatsmänner über ein Konferenzdatum reden
zu hören, das in über einem Jahr anberaumt sei, während gleichzeitig die deutsche Wie-
dervereinigung realisiert werde. Das habe zum einen seinen Grund darin, daß Kohl die
Einheit wolle, ohne daß sie ,,Thema einer internationalen Verhandlung" werde. Zum an-
22
Jacques Attali, Verbatim III, p. 350.
23
François Mitterrand, Über Deutschland, pp. 55-56.
24
Sonderedition, Nr. 102, Bericht Teltschik an Kohl, pp. 574-77.
25
Jacques Attali, Verbatim III, p. 354.

16
deren sähen die Franzosen die Beschleunigung des europäischen Zusammenwachsens als
,,das beste Bollwerk gegen die Dynamik der Wiedervereinigung"
26
.
Bei der Tagung des Europäischen Rates am 8./9. Dezember in Straßburg wird Kohl wahr-
scheinlich erst richtig bewußt, wie sehr er seine europäischen Partner mit dem überfallar-
tigen Zehn-Punkte-Plan brüskiert hat: noch nie habe er ,,einen EG-Gipfel in so eisiger
Atmosphäre" miterlebt. Dennoch können sich die Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame
Erklärung einigen, wonach ein Frieden angestrebt werde, ,,in dem das deutsche Volk in
freier Selbstbestimmung seine Freiheit wiedererlangt."
27
Dies ist jedoch an klare Bedin-
gungen geknüpft:
,,Dieser Prozeß muß sich auf friedliche und demokratische Weise, unter Wahrung
der Abkommen und Verträge sowie sämtlicher in der Schlußakte von Helsinki
niedergelegten Prinzipien im Kontext des Dialogs und der Ost-West-
Zusammenarbeit vollziehen. Er muß auch in die Perspektive der europäischen In-
tegration eingebettet sein."
28
Vom Straßburger Gipfel wird außerdem berichtet, Mitterrand habe der ,,eisernen Lady"
eine enge französisch-britische Zusammenarbeit vorgeschlagen, ,,um den deutschen Ko-
loß im Zaum zu halten", so wie ,,in den Stunden großer Gefahr in der Vergangenheit", da
er befürchte, man sei ,,zu jenen Stunden zurückgekehrt." Allerdings solle dies nicht in
offener Opposition zu den Deutschen geschehen, da er trotzdem die deutsch-französische
Achse beibehalten wolle
29
.
Attali gegenüber beklagt Mitterrand die ,,schwammige Ausdrucksweise" des Kanzlers,
sobald es um die Grenzanerkennung geht. Kohl spreche beharrlich von der ,,Einheit des
deutschen Volkes" anstatt von der Wiedervereinigung. Ob er damit die im heutigen Polen
lebenden Schlesier und die Sudetendeutschen auch einschließe? Indem er dergestalt
Zweifel lasse, ,,spiele er ein gefährliches Spiel". Man dürfe nicht vergessen, wie Europa
1937 ,,explodiert" sei
30
.
Ihren Anspruch auf Mitsprache bei der deutschen Frage demonstrieren die vier Sieger-
mächte mit dem Treffen der Botschafter im Alliierten Kontrollratsgebäude in Berlin. Für
die Bundesregierung bedeutet dies einen steten Balanceakt: einerseits kann sie es sich
nicht leisten, die vier Mächte nochmals vor den Kopf zu stoßen, andererseits wird das
Auftreten der alten Besatzungsmächte als entwürdigend empfunden.
26
Jacques Attali, Verbatim III, p. 355.
27
Sonderedition, Einführung, p. 72.
28
Deutschland - Frankreich., Dokumente / Documents (Hgg.), pp. 106-07.
29
Daniel Vernet, La renaissance allemande, Flammarion, Paris 1992, p. 109.
30
Jacques Attali, Verbatim III, p. 371.

17
4. Mitterrands Verzögerungsversuche
,,Der Zug zur Einheit ist abgefahren. Wer will, wer kann ihn jetzt noch aufhal-
ten?"
31
Mitterrands diplomatische Aktivitäten lassen seinen Willen erkennen, wenigstens soviel
wie möglich ,,mitzumischen", wenn sich die Einheit schon nicht verhindern läßt. Nach
Einschätzung deutscher Beobachter hat sich Mitterrand auf das ,,Konzept der Verzöge-
rungspolitik" verlegt: ,,Wenn Frankreich die Wiedervereinigung schon nicht verhindern
kann, so muß es sie dennoch nicht besonders forcieren."
32
a. Die Intensivierung der französisch-sowjetischen Beziehungen
Vorangegegangene Zitate haben bereits die Hoffnung des französischen Staatspräsidenten
verraten, die Wiedervereinigung werde am sowjetischen Widerstand scheitern. Am 6.
Dezember 1989 trifft er Gorbatschow, von dem er lange Zeit annimmt, er werde niemals
der Wiedervereinigung zustimmen. Im Vorfeld der Reise nach Kiew verspricht er dem
Kanzler, diesem ausführlich über die Ergebnisse zu unterrichten. Gorbatschow und Mit-
terrand beschwören eine notwendige Annäherung Frankreichs und der Sowjetunion gera-
de in diesen Zeiten der ,,ernsten Themen". Mitterrand spricht von der Wiederbelebung
einer ,,großen historischen Tradition der Beziehungen zwischen Paris und Moskau." Na-
türlich wird auch das ,,deutsche Problem" (so Mitterrand) diskutiert. Der Franzose betont
erneut den Vorrang der europäischen Konstruktion, die unabdinglich für eine nachge-
schaltete deutsche Wiedervereinigung sei. Er bezeichnet sein Land und die Sowjetunion
als ,,Buchführer" des europäischen Gleichgewichts und moniert, daß die Deutschen sich
noch nicht offiziell über die Oder-Neiße-Grenze geäußert hätten. Die Freundschaft zu
Deutschland mache es ihm schwer, den Deutschen etwas zu verweigern. Er wolle sie
nicht verletzen, aber zuerst hätten die Probleme der Europäischen Gemeinschaft und im
Osten Priorität. Auch Gorbatschow zeigt sich brüskiert über die Art und Weise, in der
Kohl sein Zehn-Punkte-Programm verkündet hat: er sei wie ein ,,Elefant im Porzellanla-
den" aufgetreten. Ganz offen bittet er Mitterrand, ihm zu helfen, ,,die Wiedervereinigung
zu verhindern." Er werde sonst durch einen Militär ersetzt. Sollte Frankreich ihm nicht
helfen, trage es die Verantwortung für einen Krieg. Kohls Tempo sei viel zu schnell, sein
Vorgehen gleiche einem ,,politischen Diktat". Trotz der von Gorbatschow demonstrierten
Härte ist Mitterrand sich im klaren, daß die Sowjetunion genauso wenig wie die interna-
tionale Gemeinschaft eine Bewegung aufhalten kann, die von der Straße ausgeht
33
.
31
Horst Teltschik, zitiert nach: Heinrich Bortfeldt, ,,Die vier Siegermächte und die deut-
sche Einheit", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 10/1993, p. 883.
32
Sonderedition, Einführung, p. 84.
33
Jacques Attali, Verbatim III, p. 360-369.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1999
ISBN (eBook)
9783832415792
ISBN (Paperback)
9783838615790
Dateigröße
684 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität zu Köln – Unbekannt
Note
1,7
Schlagworte
frankreich europa wiedervereinigung mitterand deutschland
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Titel: Die deutsch-französischen Beziehungen 1989-90
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