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Erzählen in der Talkshow

Eine empirische Untersuchung

©1997 Magisterarbeit 139 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Die Arbeit analysiert aus linguistischer Perspektive, welche besondere Qualität Erzählungen in Talkshows haben. Dabei sind zwei Fragen von besonderem Interesse:
a) Wie unterscheiden sich Talkshow-Erzählungen von Erzählungen im Alltag?
b) Worin unterscheiden sich die Erzählungen in den beiden - exemplarisch herausgegriffenen - Talkshows, "Fliege" und "Boulevard Bio"?
Erzählen als Grundmuster menschlicher Kommunikation ist - im Gegensatz etwa zum Bericht - besonders dazu geeignet, Einstellungen, Emotionen und Bewertungen der SprecherInnen zu transportieren. Die Untersuchung analysiert, wie die Sendeform Talkshow dieses Diskurs-muster für die Zwecke des Massenmediums einsetzt. Welchen Beitrag leisten Erzählungen, daß aus dem Talk eine Show wird?
Als Materialgrundlage dienen vier Gespräche aus der Sendung "Boulevard Bio" und weitere fünf Gespräche aus der Talkshow "Fliege". Die Gespräche wurden transkribiert und sind der Untersuchung in einem zweiten Band beigefügt. In die Arbeit selbst sind jedoch viele Transkriptausschnitte aufgenommen, um die einzelnen Beobachtungen konkret zu belegen und die Argumentation direkt nachvollziehbar zu machen.
Im Laufe der Beschäftigung mit dem transkribierten Material stellte sich heraus, daß sich die Erzählungen sowohl in vielfältiger Weise von Alltagserzählungen (d.h. von Erzählungen in nicht institutionellen Zusammenhängen) als auch untereinander unterscheiden. Einige Beispiele:
- Typisch für die Talkshow ist "segmentiertes Erzählen": Die Erzählungen werden immer wieder vom Moderator zwecks Klärung oder Verlangsamung unterbrochen. Hier wird die Ausrichtung der Talkshows an den unterstellten Bedürfnissen des Publikums besonders deutlich.
- Häufig werden die relevantesten Stellen der Erzählungen (Pointen oder skandalöse Höhepunkte) von Gast und Moderator in kooperierendem Erzählen gemeinsam heraus-gearbeitet, um den Effekt auf die ZuschauerInnen (den "Unterhaltungswert") zu steigern.
- In der "Personality-Talkshow" "Boulevard Bio" ist die Hauptfunktion der Erzählungen, die ZuschauerInnen durch Pointen und Anekdoten zu amüsieren; Konflikte können auftreten, wenn ein Gast z.B. politische Inhalte transportieren will; die "Betroffenen-Talkshow" "Fliege" will v.a. spektakuläre Geschichten erzählen, an ihnen aber gleichzeitig Informationen und Ratschläge für die ZuschauerInnen festmachen (Doppelfunktion); dies führt immer wieder zu Konflikten mit dem Erzählbedürfnis der Gäste.
- […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 1118
Dorfmüller, Ulrike: Erzählen in der Talkshow: Eine empirische Untersuchung / Ulrike Dorfmüller -
Hamburg: Diplomarbeiten Agentur, 1998
Zugl.: Hamburg, Universität, Magister, 1997
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Dipl. Kfm. Dipl. Hdl. Björn Bedey, Dipl. Wi.-Ing. Martin Haschke & Guido Meyer GbR
Diplomarbeiten Agentur, http://www.diplom.de, Hamburg 2000
Printed in Germany


1
I
NHALTSVERZEICHNIS
INHALTSVERZEICHNIS 1
0 VORBEMERKUNGEN 4
1. DIE KONVERSATIONELLE ALLTAGSERZÄHLUNG 5
1.1
F
ORSCHUNGSÜBERBLICK
5
1.2
G
EGENSTANDSBESTIMMUNG UND
A
BGRENZUNG
6
1.3
K
OGNITIVE
G
RUNDLAGEN DER
P
RODUKTION VON
E
RZÄHLUNGEN
8
1.3.1
V
OM
`G
ESCHEHEN
'
ZUR
`E
RZÄHLUNG
'
8
1.3.2
,,R
EPORTABILITY
"
UND
,,P
LANBRUCH
"
9
1.4 S
TRUKTURELEMENTE DES
E
RZÄHLENS
10
1.4.1
D
IE
E
RZÄHLEINLEITUNG
10
1.4.2
D
IE
O
RIENTIERUNG
12
1.4.3
D
ER
E
RZÄHLKERN
13
1.4.3.1 Die Darstellung der Ereigniskette
13
1.4.3.2 Bewertungen (Evaluationen)
14
1.4.3.3 Zugzwänge
15
1.4.3.4 Sprachliche Mittel der Inszenierung
16
1.4.3.5 Zuhöreraktivitäten im Erzählprozeß
17
1.4.4
D
ER
A
BSCHLUß VON
E
RZÄHLUNGEN
18
1.5. F
UNKTIONEN VON
A
LLTAGSERZÄHLUNGEN
20
1.5.1
F
ORMBASIERTE
F
UNKTIONEN
20
1.5.2
I
NHALTSBASIERTE
F
UNKTIONEN
21
2 DIE TALKSHOW ALS INSTITUTIONELLER HANDLUNGSRAHMEN 24
2.1
A
LLGEMEINE
C
HARAKTERISTIKA DER
T
ALKSHOW
24
2.1.1
D
IE
T
ALKSHOW ALS
G
EGENSTAND LINGUISTISCHER
F
ORSCHUNG
25
2.1.2
D
IE
T
ALKSHOW ALS PARASOZIALE
I
NTERAKTION
25
2.2
T
ALKSHOW
-T
YPEN
26

2
2.3
D
IE
I
NSZENIERUNG VON
T
ALKSHOWS
28
2.3.1
D
AS RÄUMLICHE
A
RRANGEMENT
28
2.3.2
D
IE
V
ORBEREITETHEIT VON
T
ALKSHOWS
29
2.3.3
D
IE OPTISCHE
V
ERMITTLUNG VON
T
ALKSHOWS
30
2.4
D
ER
Ö
FFENTLICHKEITSCHARAKTER VON
T
ALKSHOW
-G
ESPRÄCHEN
31
2.4.1
D
IE
M
EHRFACHGERICHTETHEIT VON
T
ALKSHOW
-G
ESPRÄCHEN
32
2.5
D
IE
R
EZIPIENT
I
NNEN VON
T
ALKSHOWS
33
2.5.1
D
IE
F
ERNSEHZUSCHAUER
I
NNEN
33
2.5.2
D
AS
S
TUDIOPUBLIKUM
33
2.6
I
NSTITUTIONELLE
R
OLLEN IN DER
T
ALKSHOW
35
2.6.1
D
IE
R
OLLE DER
T
ALK
-G
ÄSTE
35
2.6.2
D
IE
R
OLLE DER
M
ODERATOR
I
NNEN
35
3 MATERIALGRUNDLAGE UND METHODISCHE VORÜBERLEGUNGEN 37
3.1
M
ATERIALGRUNDLAGE
37
3.1.1
D
IE
T
ALKSHOW
,,F
LIEGE
"
38
3.1.2
D
IE
T
ALKSHOW
,,B
OULEVARD
B
IO
"
39
3.1.3
T
RANSKRIPTIONSKONVENTIONEN
40
3.2.
M
ETHODISCHE
V
ORÜBERLEGUNGEN
41
4 ANALYSE ERZÄHLEN IN DER TALKSHOW 43
4.1
E
RZÄHLEINLEITUNGEN
44
4.1.1
E
RZÄHLEINLEITUNGEN DURCH DEN
M
ODERATOR
(
FREMDINITIIERTE
E
RZÄHLUNGEN
)
45
4.1.1.1 Voraberzählungen durch den Moderator
45
4.1.1.2 Direkte offene Fragen (Erzählaufforderungen)
49
4.1.1.3 Tendenziöse Fragen
51
4.1.1.4 Stichwortfragen
54
4.1.1.5 Biographische Hinführung zur Frage
55
4.1.1.6 Typisierende Hinführung zur Frage
58
4.1.2
E
RZÄHLEINLEITUNGEN DURCH DIE
G
ÄSTE
(
EIGENINITIIERTE
E
RZÄHLUNGEN
)
59
4.2 SEGMENTIERTES ERZÄHLEN 61
4.2.1
Z
WISCHENFRAGEN
62
4.2.2
P
ARALLELEN
67
4.2.3
K
LÄRENDE
E
INSCHÜBE
68
4.2.4
R
ETARDIERENDE
Z
USAMMENFASSUNGEN
70
4.2.5
E
XPERTENGESPRÄCHE
71

3
4.2.5.1 Reetablierungen durch den Moderator
74
4.3.
K
OOPERIERENDES
E
RZÄHLEN
77
4.3.1
K
OOPERATION BEI DER
H
ERAUSARBEITUNG VON
E
VALUATIONEN
78
4.3.2
K
OOPERATION BEI DER
H
ERAUSARBEITUNG VON
H
ÖHEPUNKTEN
82
4.3.2.1 Pointen-Höhepunkte
82
4.3.2.2 Skandalon-Höhepunkte
86
4.3.3
P
ANNEN
88
4.4
R
ELEVANZPUNKTE
92
4.4.1
E
RZÄHLEN UND
I
NFORMIEREN
94
4.4.2
T
HEMATISCHE
R
ELEVANZSETZUNGEN
97
4.4.3
O
PFERSTILISIERUNG UND POSITIVE
S
ELBSTDARSTELLUNG
99
4.5
E
RZÄHLAUSLEITUNGEN
104
4.5.1
B
EWERTUNGSÜBERNAHME DURCH DEN
M
ODERATOR
105
4.5.2 A
NSCHLUßHANDLUNGEN
107
4.5.2.1 Nachbearbeitungen
108
4.5.2.2 Umfokussierungen
109
4.5.3 S
CHLUßEVALUATION
112
5 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUßBEMERKUNG 114
6 LITERATURVERZEICHNIS 120

4
0 V
ORBEMERKUNGEN
Erzählen ist ein elementarer Bestandteil unseres Lebens. Erzählt wird überall und bei jeder Gele-
genheit: in der Mensa, in der Selbsterfahrungsgruppe, beim Kaffeeklatsch, beim Familien- oder
Klassentreffen, nach dem Urlaub, der gelangweilten Kellnerin über den Tresen hinweg... Und
neuerdings auch pausenlos im Fernsehen. Jeden Tag senden öffentlich-rechtliche und private
Fernsehkanäle stundenlang Talkshow-Programme, in denen Studiogäste ihre Geschichten vor ei-
nem anonymen Publikum zum besten geben. Erzählen erscheint als die Form, sich anderen Men-
schen mitzuteilen.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Besonderheiten und Merkmale von Erzählungen im insti-
tutionellen Kontext der Talkshow aufzuzeigen. Dabei werden Struktur und Funktionen der
Talkshow-Erzählungen zu untersuchen sein. Grundlegend ist die Annahme, daß SprecherInnen
ihr Alltagswissen über das Erzählmuster in die Institution miteinbringen, und daß die Realisie-
rung des Musters durch den institutionellen Zusammenhang eine Modifizierung erfährt: Vertrete-
rInnen der Institution - die ModeratorInnen - steuern den Gesprächsverlauf und damit auch den
Erzählvorgang im Hinblick auf die Einhaltung institutioneller Relevanzvorgaben. Es gilt aber
auch zu berücksichtigen, wie die Studiogäste auf die Initiativen der GesprächsleiterInnen reagie-
ren: Zwar werden Erzählungen in der Talkshow funktionalisiert, d.h. es wird versucht, sie dem
Relevanzsystem der Institution anzupassen, aber die ErzählerInnen können ebenfalls versuchen,
ihre eigenen Relevanzpunkte einzubringen oder sich Rollenzuweisungen zu widersetzen. Weiter-
hin wird von Interesse sein, ob und wie sich Erzählungen in verschiedenen Talkshowtypen unter-
scheiden und welcher Zusammenhang zwischen Erzählfunktionalisierung und Zielsetzungen der
einzelnen Talkshow besteht.
In einem ersten Kapitel sollen Struktur und Funktionen der konversationellen Alltagserzählung
skizziert werden, um dann auf dieser Folie die Besonderheiten der Erzählung im institutionellen
Kontext der Talkshow aufzuzeigen. Bei der theoretischen Darstellung können sich die Ergebnisse
, die u.a. von soziolinguistisch, konversationsanalytisch und diskursanalytisch orientierten Frage-
stellungen geleitet sind, gegenseitig ergänzen
1
, da die verschiedenen Aspekte, die alle zu dem Ge-
samtphänomen ,,mündliches Erzählen im Alltag" gehören, von den verschiedenen Forschungs-
richtungen unterschiedlich intensiv bearbeitet worden sind. So bietet die Kognitionswissenschaft
gute Anregungen zur mentalen Planung von Erzählungen. Einleitung bzw. Einbettung und Aus-
leitung von Erzählungen innerhalb eines Gesprächs sind von der ethnomethodologischen Konver-
1
Quasthoff demonstriert dies in ihren Arbeiten zur konversationellen Alltagserzählung auf überzeugende Weise:
Während ihr Standardwerk von 1980 eher diskursanalytisch ausgerichtet war, tendiert sie seit neuestem zu ei-
nem mehr konversationsanalytischen Ansatz (Hausendorf/Quasthoff 1996). Dabei haben jedoch weite Teile ih-
rer vorher angestellten Überlegungen weiterhin Bestand.

5
sationsanalyse am detailliertesten und überzeugendsten beschrieben worden. Bei der Beschrei-
bung der Erzählstruktur werde ich u.a. auf die ,,Klassiker" Labov/Waletzky zurückgreifen, dabei
aber die Begriffe und Konzepte handlungstheoretisch auffüllen. Und mit den Fragestellungen und
Ansätzen der pragmatischen Diskursanalyse in Bezug auf Kommunikationsbedingungen, -zielen,
-funktionen und Relevanzsetzungen läßt sich das Muster `Erzählen' unter den institutionellen
Vorgaben der Talkshow am besten verdeutlichen.
In einem zweiten theoretischen Kapitel sollen dann die kommunikativen und situativen Rahmen-
bedingungen der Kommunikation in der Talkshow dargestellt werden. Dabei wird eine Klassifi-
zierung der Talkshow-Typen, wie sie derzeit im deutschen Fernsehprogramm zu finden sind, vor-
geschlagen werden.
Der Analyseteil schließlich beschäftigt sich mit den speziellen Erscheinungsformen des Erzählens
in der Talkshow. Es wird vornehmlich um Phänomene gehen, die die Talkshow-Erzählungen von
den im ersten Kapitel beschriebenen Alltagserzählungen unterscheiden.
1. D
IE KONVERSATIONELLE
A
LLTAGSERZÄHLUNG
1.1 F
ORSCHUNGSÜBERBLICK
In den Anfängen der Erzählforschung lag das Interesse vor allem auf geschrieben-sprachlichen,
meist literarischen Erzählungen. Erzähltheorien wurden unter Bezug auf literarische Formen ent-
wickelt. Erst mit den Arbeiten von Vladimir Propp (zu Märchen
2
) und André Jolles (zu ,,einfa-
chen Formen" der Volksüberlieferung
3
) traten zumindest mündlich konstituierte Erzählungen in
den Blickpunkt. Das Forschungsinteresse war darauf gerichtet, eine zugrundeliegende semanti-
sche Struktur dieser Erzählungen herauszufiltern.
Mündliche Alltagserzählungen behandelten erstmalig William Labov und Joshua Waletzky in ih-
rem - inzwischen zum Klassiker gewordenen - Aufsatz von 1967
4
, auf den sich die meisten der
nachfolgenden Arbeiten - bei aller Weiterentwicklung und berechtigten Kritik - beziehen. La-
bov/Waletzky untersuchen unter vornehmlich strukturellen Gesichtspunkten spontane mündliche
Alltagserzählungen auf bestimmte, allen Erzählungen zugrundeliegende Makro-Erzählelemente.
Sie beschreiben eine ,,Normalform", die aus der Abfolge der Elemente ,,Orientierung", ,,Kompli-
kation", ,,Evaluation", ,,Auflösung" und ,,Koda" besteht. Dieses - von Labov (1972) bezüglich der
Position der Evaluation modifizierte - Strukturschema ist in der Forschung aufgenommen und
weiterentwickelt worden, auch wenn sowohl an der formalen Ausrichtung der Untersuchung, ih-
2
Propp (1928; dt. 1972).
3
Jolles (
1
1930;
2
1958).
4
Vgl. Labov/Waletzky (1967; dt. 1973).

6
rem auf die referentielle Ebene beschränkten Blickwinkel und an den Erhebungsmethoden für das
Analysekorpus starke Kritik geübt worden ist
5
.
Die ethnomethodologische Konversationsanalyse beschäftigte sich schon sehr früh mit konversa-
tionellen Erzählungen. Mündliche Alltagskommunikation unter interaktionaler Fragestellung
wurde bald zu einem Hauptgegenstand ethnomethodologisch-konversationsanalytischer For-
schung, da sich an ihr die Mikrostrukturen, nach denen Mitglieder einer Gesellschaft ihr soziales
Handeln lokal organisieren, besonders gut zeigen ließen. Die WissenschaftlerInnen waren daran
interessiert, kontext-unabhängige Abfolgemechanismen zu finden, nach denen sprachliche Inter-
aktion organisiert und Verständigung unter den InteraktionsteilnehmerInnen erreicht und signali-
siert wird. So wurden v.a. die Ein- und Ausleitung von Erzählungen innerhalb von Gesprächen,
die komplizierten Aushandlungsmechanismen zwischen Erzählenden und Zuhörenden oder das
Phänomen von aneinandergereihten Erzählungen behandelt.
6
Ende der 70er/ Anfang der 80er Jahre setzte dann - auch in Deutschland - ein breiterer For-
schungstrend ein, der mündliche Alltagserzählungen zum Gegenstand hatte
7
, und als dessen
Schwerpunkt sich die Modifizierungen des Erzählens in institutionellen Zusammenhängen her-
ausbildete.
8
Diese vornehmlich diskursanalytisch orientierten Arbeiten basieren auf dem Konzept
von gesellschaftlich ausgearbeiteten sprachlichen Handlungsmustern, die SprecherInnen in kon-
kreten Sprechanlässen individuell realisieren. Zentral in diesen Arbeiten ist die Herausarbeitung
der Fundierung dieser sprachlichen Muster in Diskurszusammenhängen, also Fragen nach Bedin-
gungen, Strategien und Zielen sprachlichen Handelns. So werden Erzählungen in Institutionen
wie der Schule, dem Gericht, der Psychotherapie etc. daraufhin untersucht, inwiefern die Zwecke
und Zielsetzungen der Erzählenden mit denen der Institutionen konfligieren und welche Art von
Modifizierung daraus entsteht. Diese Veränderungen des Erzählens unter institutionellen Vorga-
ben sind als ,,funktionalisiertes", ,,sequentielles"
9
, ,,segmentiertes"
10
oder sogar ,,verhindertes"
11
Erzählen beschrieben worden.
1.2 G
EGENSTANDSBESTIMMUNG UND
A
BGRENZUNG
Erzählen ist ein komplexes sprachliches Handlungsmuster. Muster sind gesellschaftlich ausgear-
beitete Handlungsstrukturen, die sich aufgrund bestimmter menschlicher Bedürfnisse herausge-
5
Vgl. etwa Kraft/Nikolaus/Quasthoff (1977:289ff) oder Michel (1985:7f). Hauptkritikpunkt an der Korpuserhe-
bung ist, daß die Fragen nach lebensbedrohenden Situationen oder nach Kämpfen gegen Stärkere einen ganz
bestimmten Typ von Erzählungen elizitiert (nämlich ,,Höhepunkterzählungen"), anhand derer das Labovsche
Strukturschema entwickelt wurde und das sich daran natürlich auch gut zeigen läßt.
6
Etwa Sacks (1970), Sacks (1971), Jefferson (1978) und Ryave (1978).
7
Hier sind v.a. Quasthoff (1980:a) und die Aufsatzsammlungen von Ehlich (1980) und (1984) zu nennen.
8
Vgl. Ehlich (1980:16).
9
Rehbein (1980:85ff). ???
10
Hoffmann (1986:96). ???
11
Bliesener (1980:147). ???

7
bildet haben und deren Realisierung bestimmten Zwecken dient.
12
Beim Erzählen greifen Spre-
cherInnen auf das sprachliche Muster des Erzählens zurück, wobei sie in der Musteranwendung
gesellschaftliches Handeln individualisieren.
13
Die Zwecke, die durch die Muster verfolgt wer-
den, sind in der Erzählforschung als Zielsetzungen, Relevanzpunkte oder Funktionen des Erzäh-
lens beschrieben worden.
Erzählungen sind Repräsentationen vergangener, in sich zeitlich strukturierter Sachverhalte, die
auf ein singuläres Ereignis referieren und die aus einer Aktanten-Perspektive dargestellt werden:
Der/die ErzählerIn kann in dem Ereignis als AgentIn, BeobachterIn, Opfer usw. involviert gewe-
sen sein. Inhaltlich erfüllen Erzählungen meist gewisse ,,Minimalbedingungen von Ungewöhn-
lichkeit".
14
Im Erzählprozeß wird jedoch nicht nur eine einfache Handlungskette realisiert, sondern der
Hauptakzent des Erzählprozesses liegt auf der Bewertung und Einschätzung des dargestellten
Sachverhalts.
15
Der Zweck von Erzählungen besteht darin, eine gemeinsame Bewertung der dar-
gestellten Ereignisse anzustreben. Dies ist gelungen, wenn durch die fortlaufende Kommentie-
rungstätigkeit des Erzählers die gewünschte Übernahme der subjektiven Sichtweise durch die Zu-
hörerInnen erreicht wurde.
Auf sprachlicher Ebene verstärken eine Reihe von ,,Inszenierungsmitteln" dieses Bestreben um
Bewertungsübernahme. Es sind dies v.a. evaluative und expressive Sprachformen, direkte Rede-
wiedergabe, Stimmimitation der Akteure in der Diskurswelt, historisches Präsens und ein hoher
Detailliertheitsgrad des Ereignisverlaufs zumindest in einzelnen Passagen.
16
Damit ist die konver-
sationelle Alltagserzählung als szenische Realisierung erzähltypischer Inhalte charakterisiert; die-
se gilt als Prototyp des alltäglichen Erzählens.
Im Unterschied zum Bericht
17
- einem insofern der Erzählung verwandten Muster, als sich die
Darstellung ebenfalls meist auf singuläre, in sich zeitlich gegliederte Ereignisse bezieht - werden
die Inhalte beim Erzählen prozeßhaft entwickelt, und nicht - wie beim Bericht - vom Resultat her
organisiert.
18
Die Erzählung baut einen Vorstellungsraum auf, der die Zuhörenden aus der aktu-
ellen Sprechsituation in eine fiktive Diskurswelt versetzt. Dies ist eine Voraussetzung, um eine
Bewertungsübernahme durch die Zuhörenden zu ermöglichen. Generell orientieren sich Erzäh-
lungen mehr an (menschlichen) Handlungen, meist denen der ErzählerInnen selbst, während Be-
richte mehr auf Ereignisfolgen ausgerichtet sind. Das erzählte Geschehen soll von den Zuhören-
den aus der Perspektive des Erzählers wahrgenommen werden
19
- Berichte hingegen zielen eher
auf eine objektivierende Darstellung ab. Daher sind Berichte für bestimmte institutionelle Zwek-
12
Zum Konzept der sprachlichen Handlungsmuster vgl. Ehlich/Rehbein (1979b:249ff).
13
Eisenmann (1995:27).
14
Quasthoff (1980a:27).
15
Vgl. Rehbein (1980:78).
16
Vgl. Quasthoff (1980a:28).
17
Zur Abgrenzung von Bericht und Erzählung vgl. Rehbein (1980b), Hoffmann (1984b) oder Ludwig (1984).
18
Rehbein (1980b:115).
19
Hoffmann (1984b:62).

8
ke, etwa für Gerichtsverhandlungen oder polizeiliche Protokolle, die speziell dafür ausgebildete
und präferierte Darstellungsform.
20
Die genannten Unterschiede zwischen Erzählung und Bericht
spiegeln sich auch in der sprachlichen Ausformung der beiden Diskursmuster wider: In Erzählun-
gen bewirken sprachliche Mittel wie Detaillierung, direkte Rede oder szenisches Präsens eine
möglichst lebendige Inszenierung und Vergegenwärtigung des vergangenen Ereignisses, während
sich im Bericht solche inszenierenden Mittel nicht finden.
Erzählen wird zwar häufig als eine weitgehend monologische Diskursart bezeichnet, da die Er-
zählerInnen bis zur Beendigung des Musters extensives Rederecht erhalten und ,,die entscheiden-
den Positionen des Musters [...] sprecherseitig allein ausführbar" sind.
21
Dennoch ist Erzählen nur
als interaktiver Prozeß adäquat beschreibbar: ZuhörerInnen haben bestimmte Aufgaben im Er-
zählprozeß, die sequentiell relevant sind. Diese finden sich v.a. an den ,,Rändern" von Erzählun-
gen, also bei deren Ein- und Ausleitung, wo ZuhörerInnen Erzählankündigungen ratifizieren oder
ablehnen können, und im Anschluß an das Ende der Erzählung bestimmte Aufgaben zur Über-
leitung in den turn-by-turn-talk übernehmen. Aber auch im Erzählprozeß selbst ist ein Minimum
an Zuhöreraktivität vonnöten - ein Ausbleiben würde auf Seiten der ErzählerInnen Verunsiche-
rung hervorrufen. Zudem werden mit dem Erzählen im übergeordneten Rahmen der Interaktion
häufig strategische Ziele verfolgt (z.B. jemanden unterhalten, etwas belegen, sich entlasten etc.),
die nur im Zusammenhang mit den Zuhörenden sinnvoll interpretiert werden können.
1.3 K
OGNITIVE
G
RUNDLAGEN DER
P
RODUKTION VON
E
RZÄHLUNGEN
1.3.1 Vom `Geschehen' zur `Erzählung'
Bevor es um die Darstellung des eigentlichen Erzählprozesses geht, sollen zunächst einige Über-
legungen zur kognitiven Planung von Erzählungen vorangestellt werden.
Eine Erzählung ist nicht einfach die authentische sprachliche Wiedergabe eines zeitlich zurück-
liegenden Wirklichkeitsausschnitts. Zwischen dem realen `Geschehen' und der sprachlich reali-
sierten `Erzählung', die auf dieses Geschehen referiert, liegen mehrere Ebenen der Verarbeitung.
So nimmt z.B. jedes Individuum von ein und demselben Realitätsausschnitt potientiell unter-
schiedliche Aspekte wahr. In der linguistischen Erzählforschung wird diesem Phänomen mit der
Differenzierung zwischen den Begriffen `Geschehen' und `Geschichte' Rechnung getragen. `Ge-
schehen' ist dabei die ,,Faktizität"
22
oder das ,,objektive" Ereignis, die `Geschichte' hingegen be-
zeichnet die besondere Wahrnehmung oder Sichtweise, die ein bestimmtes Individuum auf das
`Geschehen' hat. ErzählerInnen übernehmen nun nicht alle Elemente des `Geschehens' in die
`Geschichte'. Quasthoff (1980:48) spricht von einem ,,Arrangement": Es werden nur solche
Aspekte in die Geschichte aufgenommen, bei deren Realisierung aus der Sicht des Aktanten eine
20
Vgl. Hoffmann (1980:44ff).
21
Rehbein (1980a:77).
22
Hoffmann (1984a:220).

9
,,Bruchstelle" auftritt, die die Gesamtrealisierung des ,,Plans
23
" des Aktanten gefährdet oder zu-
nichte macht. Nur durch diesen ,,Planbruch" wird das `Geschehen' als etwas potentiell Erzäh-
lenswertes gespeichert. (Zum Begriff der ,,reportability" s.u. Kap. 1.3.2). Semantische Strukturen
von Erzählungen gehen also bereits in die Wahrnehmung von Wirklichkeit ein.
24
Je nach Kommunikationssituation und Zuhörerschaft werden dann Elemente aus der `Geschichte'
weiter selektiert. Dabei orientieren sich ErzählerInnen an einem ,,gemutmaßten System von
Wertungen und Erwartungen"
25
ihrer ZuhörerInnen. Weiterhin können kommunikative und/oder
interaktive Zielsetzungen im übergeordneten Interaktionsrahmen die Auswahl der präsentierten
Erzählelemente beeinflussen. Vor allem wenn es sich um ,,affektiv besetzte, konflikthafte" Erleb-
nisse handelt, kann zudem Phantasietätigkeit in den Erinnerungsvorgang miteingehen.
26
1.3.2 ,,Reportability" und ,,Planbruch"
In der Erzählforschung viel diskutiert worden ist auch die Frage, was eine Erzählung überhaupt
,,erzählenswert", ,,reportable" macht. Eine erzählenswerte Erzählung muß aus sich heraus recht-
fertigen, warum Zeit und Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft in Anspruch genommen wird. Als
ein inhaltliches Kriterium für reportability ist eine gewisse ,,Ungewöhnlichkeit" des Geschehens
genannt worden.
27
Quasthoff (1980a:27) bezeichnet diese semantische Konstante der Ungewöhn-
lichkeit als ,,Planbruch" (s.o.)
28
. Die ,,Komplikation", die Labov/Waletzky schon 1967 beschrie-
ben haben, verweist auf denselben Gedanken: Ein bestimmter Handlungsverlauf läuft nicht rei-
bungslos ab, sondern es ergibt sich eine Komplikation. Bei Labov/Waletzky löst sich dieser
,,Knoten" dann typischerweise in einer resolution, einem Resultat oder einer Auflösung auf.
Reh-
bein (1984:108f) weist darauf hin, daß eine Komplikation nicht unbedingt in einer Wende
oder Auflösung resultieren müsse, sondern daß auch Geschichten als erzählenswert erachtet
würden, in denen lediglich der Gang der ,,individuellen Verstrickung" nachgezeichnet wird.
29
Allerdings ist die Charakterisierung des Konzepts der reportability durch das inhaltliche Kriteri-
um der ,,minimalen Ungewöhnlichkeit" auch kritisiert worden. Rath (1982:35) z.B. kritisiert die
Annahme, daß das Erzählenswerte in der Ungewöhnlichkeit der Geschichte liege und verweist
23
Das Konzept des ,,(Handlungs-)Plans" übernimmt Quasthoff (1980a:48ff) von Miller/Galanter/Pribram (1973).
Ein Plan dürfe nicht als intentionales Vorhaben der Handelnden verstanden werden, sondern sei eher einem
Computerprogramm vergleichbar, das unbewußt alle mentalen und beobachtbaren Handlungen eines Individu-
ums steuert.
24
Auf diesen interessanten Aspekt hat zuerst Sacks (1971) hingewiesen.
25
Quasthoff (1980a:73).
26
Vgl. Eisenmann (1995:63).
27
Labov/Fanshel (1977:105) sprechen von einem ,,event at some length different from ordinary experience".
Ähnlich Quasthoff (1980a:27): Erzählungen müssen ,,Minimalbedingungen an Ungewöhnlichkeit" erfüllen, et-
was ,,Unerwartetes" oder ,,Unvorhergesehenes" beinhalten. Nur dann würde ein Geschehen als etwas potientell
Erzählenswertes gespeichert und später auch als Erzählung realisiert werden.
28
Quasthoff (1980a:52ff).
29
Vgl. hierzu Rehbein (1980:67ff) über ,,Leidensgeschichten".

10
auf Erzählungen in phatischer Funktion, die inhaltlich ,,völlig uninteressanter Natur sein können"
und deren Hauptzweck z.B. in der ,,Überbrückung eines normwidrigen Schweigens besteht".
Weiterhin muß berücksichtigt werden, daß nicht jeder ,,Planbruch" für jede Zuhörerschaft repor-
table ist. ,,Ungewöhnlichkeit" ist kein statisches Kriterium, das eine Erzählung entweder erfüllt
oder nicht, sondern muß so verstanden werden, daß ErzählerInnen ihre Erzählinhalte an unter-
stellten Interessen und Erwartungen der ZuhörerInnen ausrichten. Für jeden Zuhörer kann etwas
anderes reportable sein. Diese interaktive Komponente der reportability wurde erstmalig von
VertreterInnen der konversationsanalytisch ausgerichteten Erzählforschung thematisiert. Ryave
(1978) etwa führt aus, daß eine Erzählung auch deswegen ,,tellable"
30
sein kann, weil sich eine
Vorgängererzählung schon als erzählenswert erwiesen hat. Ryave nennt das Beispiel einer gesel-
ligen Runde, in der Witze erzählt werden. Dergestalt entstehen ,,Reihen" von Erzählungen, wobei
nicht jede einzelne aufs Neue legitimiert werden muß.
31
1.4 S
TRUKTURELEMENTE DES
E
RZÄHLENS
Nachdem nun einige wichtige Aspekte der kognitiven Planung und Konstitution von Erzählungen
kurz dargestellt wurden, soll im folgenden die Aufmerksamkeit ganz auf den Erzählprozeß als
solchen gerichtet werden. Dabei werden Einbettung und Ausleitung von Erzählungen im konver-
sationellen Kontext, Aktivitäten der ErzählerInnen und Aktivitäten der ZuhörerInnen zu beleuch-
ten sein.
1.4.1 Die Erzähleinleitung
Erzählungen als Diskursmuster, in dem die im Gespräch geltenden Regeln des Sprecherwech-
sels
32
außer Kraft gesetzt werden und ErzählerInnen extensives Rederecht erhalten, müssen in
den sie umgebenden konversationellen Kontext eingebettet werden.
33
SprecherInnen müssen ihre
Erzählungen gegen andere Aktivitäten in der Konversation abgrenzen
34
und vorgreifend verdeut-
lichen, daß sie eine Erzählung realisieren und somit zum ,,primären Sprecher"
35
werden wollen.
Außerdem bedeutet die Einführung einer Erzählung in eine Konversation auch einen Rahmen-
wechsel
36
: Das Bezugssystem ist nicht mehr das des Sprechzeitpunktes, sondern das der in der
Erzählung etablierten Diskurswelt. Diese Umfokussierung muß markiert werden. Inhaltlich haben
30
,,Tellable" ist das konversationsanalytisch bevorzugte Synonym zu ,,reportable".
31
Vgl. Ryave (1978). Er hat Anregungen aufgenommen, die bereits bei Sacks (1971) zu finden sind.
32
Das Sprecherwechselsystem ist beschrieben in Sacks/Schegloff/Jefferson (1974).
33
Dies gilt nur in eingeschränktem Maße, wenn eine Erzählung von den InteraktionspartnerInnen angefordert
oder - wie etwa im Interview oder der Talkshow- von einer Person mit besonderer Gesprächsrolle elizitiert
wurde.
34
Vgl. die Aufgaben zur Durchführung eines ,,Handlungsschemas" bei Kallmeyer/Schütze (1977:161).
35
Der Begriff ,,primärer Sprecher" stammt aus Wald (1978:132) und bezeichnet das spezielle Sprecherwechsel-
Phänomen, daß SprecherInnen, die eine Diskurseinheit (z.B. eine Erzählung) durchführen, währenddessen al-
leiniges Rederecht besitzen.
36
Vgl. Rath (1982:34).

11
Erzähleinleitungen die Funktion, an die Vorgängeräußerungen anzuschließen und somit themati-
sche Kohärenz herzustellen. Dabei können sich SprecherInnen entweder auf eine Komponente
des Vorgängerbeitrags (durch markierte oder eingebettete Wiederholung) beziehen, oder sie kön-
nen ihre Erzählung durch eine Grenzmarkierung, einen disjunct marker (,,oh", ,,da fällt mir ein",
,,apropos" etc.), abgrenzen.
37
Möglich ist natürlich auch die Kombination aus beidem. Nicht zu-
letzt sollen Erzähleinleitungen das Interesse der Zuhörenden wecken bzw. prüfen, ob ein solches
vorhanden ist
38
.
Eine Technik zur Erzähleinleitung sind Erzählankündigungen (story prefaces) wie etwa ,,heute ist
mir etwas Schreckliches passiert" o.ä. Sie können auch in Form von neutralen Erzählangeboten
(,,rate mal, was heute los war...") oder ,,meta-narrativen Äußerungen"
39
auftreten (,,mensch, da
muß ich euch `ne Geschichte erzählen..."). Diese sollen dem Sprecher das ticket
40
, die Erlaubnis,
für den Eintritt in eine längere Diskurseinheit verschaffen
41
. Interessant ist, daß eine solche Ein-
leitung eine vollständige Äußerung darstellt, nach deren Beendigung eine andere Person (der po-
tentielle Zuhörer der Erzählung) sprechen soll. Im Idealfall realisiert dieser dann eine Ratifizie-
rung der Erzählung, etwa in Form einer Nachfrage wie ,,Ach ja? Was denn?".
42
Diese Ratifizie-
rung bestimmt den (nun) Erzählenden zum nächsten, also legitimen und gleichzeitig primären
Sprecher - der Erzähler hat somit den floor, das Rederecht. Weiterhin verweisen Erzählankündi-
gungen bereits darauf, woran die Beendigung der folgenden Erzählung zu erkennen sein wird und
wie die ZuhörerInnen sich verhalten sollen, wenn sie das Ende der Erzählung ausgemacht haben.
Wenn etwa eine witzige Begebenheit angekündigt worden ist, so werden die ZuhörerInnen die
Pointe als Ende der Erzählung interpretieren und diese mit Lachen oder einer ähnlichen Reaktion
quittieren. Dadurch schaffen die Erzählankündigungen gleichzeitig Aufmerksamkeit auf Seiten
der Zuhörenden, denn nur durch aktives Zuhören können diese das Ende der Erzählung erkennen,
eine adäquate Reaktion darauf liefern und im Anschluß eventuell selbst wieder das Rederecht
übernehmen. Erzählankündigungen werden häufig dazu verwendet, Spannung aufzubauen bzw.
diese nicht vorschnell vorwegzunehmen.
Erzähleinleitungen können aber auch schon die Auflösung der Erzählung vorwegnehmen (,,ge-
stern wäre ich beinahe überfahren worden..." o.ä.).
43
Labov (1972:370) nennt diese Art von Er-
zählankündigungen abstracts. Interessant dabei ist, daß auch Erzählungen, die von Interaktion-
steilnehmerInnen angefordert oder elizitiert wurden, ein abstract vorangestellt werden kann, ob-
wohl ticket und floor durch die Elizitierung schon gegeben sind. In diesem Fall fungiert der ab-
37
Jefferson (1978:221f).
38
Vgl. Rehbein (1980).
39
Begriff von Gülich (1976).
40
Vgl. Sacks (1972).
41
Sacks verwendet den Terminus ,,Diskurseinheit" selbst nicht. Der Begriff geht zurück auf Wald (1978) und be-
zeichnet ,,übersatzmäßige konversationelle Elemente, die deutlich von dem sie umgebenden turn-by-turn-talk
unterschieden sind". Vgl. Hausendorf/Quasthoff (1996:21).
42
Ratifizierungen müssen nicht explizit verbalisiert werden. Non-verbale Signale oder das Ausbleiben von Ab-
lehnung können auch ratifizierende Funktion haben.
43
Im Falle von ,,Leidensgeschichten" beinhaltet die Auflösung das sogenannte ,,Skandalon", also den skandalö-
sen Höhepunkt der Erzählung. Vgl. dazu Rehbein (1980:67ff).

12
stract also nicht nur als gesprächsorganisatorisches Mittel, sondern vornehmlich als Orientierung
der ZuhörerInnen auf den Relevanzpunkt der Erzählung hin.
Wenn eine Erzähleinleitung realisiert worden ist, dann ist es für die InteraktionsteilnehmerInnen
,,hochgradig erwartbar"
44
, daß sich eine Erzählung anschließen wird. Es entsteht ein ,,Zugzwang"
für den/die ErzählerIn, der bei Nicht-erfüllung zumindest eine Begründung für das Ausbleiben ei-
ner Erzählung notwendig macht (s. Kap. 1.4.3.3).
Schließlich gibt es noch den Fall, daß Erzählungen ohne explizite Erzähleinleitung begonnen
werden. Elemente der Orientierung übernehmen dann die Funktion der Einleitung. Gülich
(1976:242ff) weist in diesem Zusammenhang auf die herausragende Position von zeitreferentiel-
len Ausdrücken (,,Episodenmarkern") hin, die die Versetzung vom Sprechzeitraum in die Dis-
kurswelt leisten (,,gestern...", ,,damals..." etc.).
Diese unterschiedlichen Techniken zur Erzähleinleitung verweisen schon auf die Tatsache, daß
die Art der Erzähleinleitung immer auch vom situativen Kontext abhängt. Es gibt ,,erzählfreundli-
che" und ,,erzählfeindliche" Situationstypen, die sich u.a. dadurch auszeichnen, wie die Zuhöre-
rInnen auf Erzähleinleitungen reagieren. Als Beispiel für eine ,,erzählfeindliche" Situation ließe
sich eine Institution wie das Sozialamt nennen.
45
In ,,erzählfreundlicher" Umgebung müssen Er-
zählungen weniger aufwendig eingebettet werden. Dies ist z.B. in allen Situationen des ,,ho-
milëischen Diskurses"
46
der Fall, also in kommunikativen Zusammenhängen, die dadurch ge-
kennzeichnet sind, daß sich Menschen zum Zwecke des informellen Gesprächs zusammenfinden
(z.B. Freunde im Kaffeehaus, eine Familie beim gemeinsamen Essen etc.). Schließlich ist auch
der Fall beschrieben worden, daß unter bestimmten Voraussetzungen Erzählungen überhaupt kei-
ner Einbettung mehr bedürfen - etwa in geselliger Runde wenn Witze erzählt werden und dadurch
ein Witz den andern ergibt - oder daß sich die ErzählerInnen den thematischen Kontext für ihre
nächsten Erzählungen selbst schaffen.
47
1.4.2 Die Orientierung
Damit ErzählerInnen einer Zuhörerschaft ein vergangenes, nur von ihnen erlebtes Ereignis ver-
mitteln können, müssen sie den zeitlichen, personellen, lokalen und situativen Rahmen der `Ge-
schichte', auf die referiert werden soll, darstellen. Dieses Erzählelement haben Labov/Waletzky
(1967:111) Orientierung (orientation) genannt. Für das Verstehen der Erzählung auf Hörerseite
ist die Orientierung von fundamentaler Bedeutung: Sie liefert den Erzählhintergrund, vor dem die
Ereigniskette für die ZuhörerInnen erst rekonstruierbar wird. ErzählerInnen richten deshalb ihre
orientierenden Passagen an einem unterstellten Hörerwissen aus. Fehlende Elemente der Orientie-
44
Vgl. Hausendorf/Quasthoff (1996:136). Neuerdings haben Quasthoffs Arbeiten eine zunehmend konversati-
onsanalytisch-interaktive Orientierung. Neben einigen neuen Fragestellungen tauchen so auch neue Begriff-
lichkeiten auf.
45
Zum Erzählen in der Institution Sozialamt vgl. Quasthoff (1979b:106ff).
46
Vgl. Ehlich/Rehbein (1980:§4.2).
47
Vgl. hierzu Ryave (1978).

13
rung, die für das Hörerverständnis von Bedeutung sind, können durch eine ,,Verständnissiche-
rungsprozedur"
48
von den ZuhörerInnen eingefordert werden.
Mit der Orientierung wird ein szenischer Erzählraum eröffnet, in dem sich die `Geschichte' ab-
spielt. Dabei soll nicht nur die ,,äußere Seite" - also Zeit, Ort, Personen - dargestellt werden, son-
dern auch Erwartungen, Einstellungen, Vermutungen etc. der ErzählerInnen in der damaligen Si-
tuation.
49
Rehbein (1980) nennt die Orientierung daher ,,Etablierung eines gemeinsamen Vor-
stellungsraumes". Dabei findet eine Versetzung der Origo statt, d.h. es wird ein neues Bezugssy-
stem etabliert: Das ,,Hier-Jetzt-Ich-System" des Sprechzeitpunktes wird ersetzt durch Bezüge in
einer fiktiven Diskurswelt. Wenn die ZuhörerInnen den Versetzungsanweisungen der ErzählerIn-
nen folgen, so können sie die `Geschichte' aus der damaligen Perspektive der Diskurswelt wahr-
nehmen. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Übermittlung des Relevanzpunktes.
Das zeitliche Element spielt in der Orientierung eine übergeordnete Rolle, da es unerläßlich für
die ,,Distanzierung vom Sprechzeitraum"
50
ist. Durch ,,Episodenmerkmale" wie ,,gestern," ,,eines
Tages", ,,einmal...", ,,neulich..." etc. wird allein durch Bezug auf eine neueingeführte Zeitreferenz
indiziert, daß es sich im folgenden um eine Erzählung handeln wird.
51
Innerhalb dieses neuen Be-
zugsrahmens können dann deiktische Verfahren stattfinden (,,noch am selben Nachmittag...",
,,daraufhin..." etc.).
Zwar findet sich die Orientierung häufig in einer Vorphase der Erzählungen, da sie verständnis-
relevantes Vorwissen aufbaut
52
; dennoch ist sie an keine feste Position im Muster gebunden.
Vielmehr ist das Orientieren eine fortlaufende Aktivät im Erzählprozeß.
53
Häufig ist sie mit der
Darstellung des Ereignisverlaufs verwoben, oder es werden orientierende Elemente genau an der
Stelle, an der das entsprechende Wissen benötigt wird, ,,nachgeschoben". Auch für einen Sze-
nenwechsel innerhalb derselben Erzählung werden häufig orientierende Passagen realisiert.
1.4.3 Der Erzählkern
1.4.3.1 Die Darstellung der Ereigniskette
Nachdem die Zuhörenden durch die Orientierung in einen gemeinsamen Vorstellungsraum ein-
geführt worden sind, kann die Darstellung der Ereigniskette realisiert werden. Dies ist die zentrale
Teilaufgabe der ErzählerInnen im Erzählprozeß.
48
Hoffmann (1984:205).
49
Siehe dazu Eisenmann (1995:74).
50
Vgl. Meng (1986:38).
51
Gülich (1976:242ff). Auch Labov/Fanshel (1977:106) weisen auf die Wichtigkeit der zeitlichen Komponente
der Orientierung hin.
52
Rehbein (1980:77).
53
Vgl. Hoffmann (1984a:205).

14
Die Ereigniskette besteht aus mindestens einem Ereignis- oder Handlungsstrang in einem zeitli-
chen Kontinuum. Zwischen den narrativen Sätzen und den Ereignissen oder Handlungen, auf die
referiert wird, besteht häufig eine Beziehung der direkten chronologischen Abbildung, eine zeitli-
che Parallelität.
54
Wenn dies nicht der Fall ist, so werden Erzählende dies markieren, etwa durch
Tempuswechsel oder lexikalische Mittel.
55
Neben den chronologischen Bezügen müssen aber
auch inhaltliche Beziehungen wie Ursache/Wirkung oder Motiv/Handlung für die ZuhörerInnen
nachvollziehbar sein, auch wenn diese nicht explizit verbalisiert werden.
56
Handlungstheoretisch
gesehen handelt es sich bei den Erzählaktivitäten um eine ,,Verkettung von Assertionen"
57
, mit
denen die ErzählerInnen die Ereigniskette darstellen. Dabei orientieren sie sich permanent am
Wissensstand der ZuhörerInnen und vervollständigen sukzessive die nötigen Informationen für
das Verstehen der `Geschichte'.
Die Ereigniskette wird in dem durch die Orientierung eröffneten Vorstellungsraum prozeßhaft
entwickelt und szenisch präsentiert. Dabei kommt der Aktivität Erzählen selbst eine besondere
Handlungsqualität zu: Der Vorfall wird im Erzählen erneut durchlebt; er wird ,,nicht nur proposi-
tional, sondern auch illokutiv noch einmal nachgestellt".
58
Zur Veranschaulichung dieses (Re-
)Inszenierungscharakters verwendet Goffman (1974) die ,,Theater-Metapher": Der gemeinsame
Vorstellungsraum wird zur Bühne, auf der die ErzählerInnen in einer ,,one-man-show" das ver-
gangene Ereignis vorführen und vergegenwärtigen. Ziel dieser perspektivischen Darstellungsform
ist eine Bewertungsübernahme durch die ZuhörerInnen.
1.4.3.2 Bewertungen (Evaluationen)
Das sukzessive Abwickeln der Ereigniskette besteht nicht nur darin, den ZuhörerInnen Informa-
tionen über das Geschehen zu liefern, sondern ErzählerInnen nehmen im Erzählprozeß ständig
Bewertungen - Evaluationen - vor. Bewertungen sind der entscheidende Prozeß im narrativen
Diskursmuster. Sie sind fortlaufend über die ganze Erzählung verteilt, also nicht nur um den Re-
levanzpunkt herum.
59
Deswegen bilden Erzählungen i.d.R. auch nicht die ,,Primärfolge" der Er-
eignisse oder Handlungen, auf die sie referieren, chronologisch ab. Diese Handlungen des Kom-
mentierens (Bewertungen, Gewichtungen, Einordnungen etc.) indizieren, wie der Erzähler die
dargestellten Ereignisse vestanden haben will,
60
sie verdeutlichen seine Sichtweise auf die Dinge.
54
Labov/Waletzky (1967) sahen diese chronologische Abbildungsbeziehung (,,a then b") als für Erzählungen
konstitutiv an. Inzwischen ist sich die Forschung einig, daß dies nicht obligatorisch ist.
55
Vgl. Meng (1986:39).
56
Vgl. Hoffmann (1984a:205).
57
Rehbein (1980:76).
58
Rehbein (1980:84).
59
Labov/Waletzky (1967) haben der Evaluation noch eine feste Position in der ,,Normalform" von Erzählungen
gegeben, nämlich zwischen Komplikation und Auflösung. Dies hat Labov (1972:369) selbst revidiert und er-
kannt, daß Evaluationen ,,throughout the narrative" vorgenommen werden.
60
Vgl. Hoffmann (1980a:206).

15
Es ist manchmal schwierig, Evaluationen für analytische Zwecke von anderen Erzählelementen,
z.B. von der Orientierung oder Teilen der Komplikation, abzutrennen, da sie mit den genannten
Elementen stark verwoben sein können. Dies gilt um so mehr, als es Bewertungen in verschiede-
nen Stufen von Direktheit gibt: So kann z.B. direkt eine psychische Einstellung zum präsentierten
Ereignis verbalisiert werden (,,das fand ich total gemein..."), etwas indirekter wäre etwa die Dar-
stellung von Reaktionen der Agierenden (,,ich hab die ganze Nacht kein Auge zugemacht...").
Schließlich kann eine Bewertung auch indirekt vorgenommen werden, indem sie in die Darstel-
lung eingebettet wird bzw. die Erzählung als ganze eine Bewertung vollzieht, z.B. eine Erzählung
über ein negatives Erlebnis mit einer bestimmten Person. Schließlich können Bewertungen auch
non-verbal und para-verbal vorgenommen werden durch Mimik, Gestik oder Tonfall (etwa Nach-
ahmen einer unsympathischen Stimme o.ä.).
61
1.4.3.3 Zugzwänge
Beim Erzählen werden bestimmte ,,Zugzwänge"
62
wirksam. Dabei spielen Hörererwartungen eine
wichtige Rolle: Sobald etwa der Beginn einer Erzählung kenntlich gemacht wurde, wird die Er-
füllung gewisser erzählspezifischer Aufgaben hochgradig erwartbar - eine eventuelle Nicht-
Erfüllung ist hörerseitig einklagbar (s. Kap. 1.4.1).
Zu diesen ,,Zugzwängen" gehört z.B., daß nicht jedes Element eines Handlungs- oder Ereignis-
ablaufs verbalisiert werden muß. ErzählerInnen treffen eine Auswahl und unterlassen oder raffen
jene Informationen, die sich aufgrund des antizipierten Hörerwissens von selbst verstehen oder
die für die Übermittlung des Relevanzpunktes nicht von Bedeutung sind. Kallmeyer/Schütze
(1977) nennen dies den ,,Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang".
Andererseits müssen ErzählerInnen aber genau jene Elemente deutlich machen, die für das Ver-
ständnis der Geschichte notwendig sind. Diese müssen in einer chronologisch rekonstruierbaren
Reihenfolge präsentiert werden, die ,,Handlungsträger", d.h. die ProtagonistInnen der Erzählung,
müssen ausreichend charakterisiert und die Erzählschritte plausibel verknüpft werden. Dafür ist
ein gewisser Grad an Detailliertheit erforderlich. Dieser ,,Detaillierungszwang" greift v.a. in den
Erzählpassagen, in denen das ,,Unerwartete", der ,,Planbruch" passiert, also an jenen Stellen, die
für die ZuhörerInnen nicht antizipierbar sind und die für die ErzählerInnen eine besondere sub-
jektive Bedeutsamkeit haben. Aus dem Wechsel zwischen verschiedenen Detailliertheitsgraden
ergibt sich ein spezifischer ,,Erzählrhythmus", der für die ZuhörerInnen Signalcharakter bezüglich
der Musterposition hat. Rehbein (1980) weist darauf hin, daß dieser Zugzwang die Gefahr einer
Verstrickung in die eigene Erzählung beinhaltet, d.h. daß Elemente präsentiert werden müssen,
deren Realisierung ursprünglich gar nicht geplant war.
61
Dazu sehr detailliert Schwitalla (1988:118ff) und (1989:183ff).
62
Das Konzept der Zugzwänge geht zurück auf Kallmeyer/Schütze (1977). Hausendorf/Quasthoff (1996:133ff)
beziehen sich auf dieselbe Idee, wenn sie von ,,Jobs" sprechen, die ErzählerIn und ZuhörerIn zu erfüllen haben.

16
Schließlich greift beim Erzählen noch der ,,Gestaltschließungszwang": Begonnene kognitive
Strukturen müssen abgeschlossen werden; dies gilt sowohl für die Gesamterzählung als auch für
einzelne Episoden innerhalb derselben Erzählung.
1.4.3.4 Sprachliche Mittel der Inszenierung
Erzähltypische sprachliche Mittel dienen der Inszenierung und Vergegenwärtigung der vergange-
nen Ereignisse. So ermöglichen sie den Nachvollzug der Perspektive des Erzählers in der Dis-
kurswelt, was Voraussetzung für eine Bewertungsübernahme durch die Zuhörenden ist.
Ein häufig angewandtes sprachliches Mittel ist die Atomisierung,
63
d.h. die Zerlegung der Ereig-
niskette bis in kleinste Detail. Dieses sprachliche Phänomen trägt insofern zum szenischen Vor-
führen bei, als durch den hohen Detailliertheitsgrad suggeriert wird, daß die Zuhörenden im Er-
zählen genau das nacherleben, was sich zum Zeitpunkt des Ereignisses abgespielt hat. Die Er-
zählung bekommt authentischen Charakter: Es entsteht der Eindruck eines ,,Zeitlupenformats",
eines Betrachtens ,,aus der Nähe".
64
Atomisierung findet sich häufig in Erzählpassagen, in denen
das ,,Unerwartete", der ,,Planbruch" dargestellt wird und die somit zur Übermittlung des Rel-
vanzpunkts des Erzählers besonders wichtig sind. Dies sind meist die Komplikation und die Zu-
spitzung
65
einer Erzählung. Dergestalt indiziert Atomisierung subjektive Bedeutsamkeit und
kontextualisiert, an welcher Position des Musters sich die ErzählerInnen befinden.
Mit der Atomisierung verbunden ist häufig das historische oder ,,szenische"
66
Präsens. Charakte-
ristisch für szenisch ausgebaute Erzählpassagen ist besonders ein ständiges Wechseln zwischen
Vergangenheits- und Präsensformen der Verben.
67
Dieses ,,Switchen" findet sich oft in denselben
Passagen der Erzählung, die auch atomisiert werden, und hat dadurch ebenfalls Signalcharakter
für die Stellung im Erzählmuster.
68
Darüberhinaus ist es als sprachliches Mittel dafür prädesti-
niert, die Verschiebung der zeitlichen Perspektive vom Sprechzeitpunkt zum Zeitpunkt des Ge-
schehens zu leisten. Es wird die Wahrnehmung eines Aktanten in der Diskurswelt zum Ausdruck
gebracht, die nicht identisch ist mit derjenigen in der Sprechsituation.
Die direkte Redewiedergabe
69
ist vielleicht das gängigste - und ontogenetisch am frühesten er-
worbene - sprachliche Realisierungsmittel der Vergegenwärtigung in mündlichen Erzählungen.
Die direkte Redewiedergabe spiegelt wie kein anderes Mittel die Theater-Metapher wider: Die
63
Begriff von Quasthoff (1980a:28).
64
Vgl. Meng (1986:41).
65
Unter Zuspitzung verstehe ich den Teil der Komplikation, der der Aufösung oder dem Höhepunkt unmittelbar
vorausgeht.
66
Begriff von Quasthoff (1980a:226).
67
Darauf verweist Wolfson (1978:218ff) und (1979:172ff).
68
Vgl. Quasthoff (1980a:244).
69
Tannen (1986:311) weist berechtigtermaßen darauf hin, daß der Begriff ,,direkte Redewiedergabe" insofern
irreführend ist, als die Wiedergabe der Rede fast nie mit dem tatsächlich Gesagten wörtlich übereinstimmt. Im
Gegenteil wird in den meisten Fällen nur sinngemäß wiederholt. Tannen schlägt deshalb den Terminus ,,con-
structed dialogue" vor. Ich werde begrifflich bei ,,direkter Redewiedergabe" bleiben; Tannens Anmerkung
sollte jedoch im folgenden immer mitgedacht werden.

17
ErzählerInnen schlüpfen in die Rolle der HandlungsträgerInnen in der Erzählung und spielen in
einem szenischen Dialog das Ereignis nach. Akustische Wahrnehmung kann durch direkte Rede-
wiedergabe besonders authentisch vermittel werden, denn es wird suggeriert, daß das Wiederge-
gebene auch tatsächlich gehört worden ist. Oft geht mit der direkten Wiedergabe von Äußerungen
bestimmter Personen eine Imitation ihrer Stimmen einher. Bei besonders lebhaften szenischen
Erzählungen werden darüberhinaus auch Geräusche stimmlich nachgeahmt.
Eng mit der direkten Redewiedergabe hängen die verba dicendi zusammen, die die direkte Rede
einleiten. Sie sind zudem häufig im szenischen Präsens formuliert, so daß sie gleichzeitig die
Einleitung der direkten Redewiedergabe und die Versetzung in die fiktive Diskurswelt, in der der
entsprechende Dialog stattgefunden hat, leisten. Ein interessanter Punkt hierbei ist, daß die verba
dicendi mit zunehmender ,,szenischer Verdichtung" auch weggelassen werden können - der Vor-
stellungsraum ist dann schon so fest etabliert, daß sich ihre Verbalisierung erübrigt. Der Thea-
tercharakter von Erzählungen wird dann besonders deutlich: Die Dialoge oder Ereignisse werden
nur noch - wie bei einem Bühnenstück - durch direkte Rede ohne einleitende Verben wiedergege-
ben. Die ErzählerInnen verwenden dann meist besondere para-verbale Mittel, um die Äußerungen
der verschiedenen SprecherInnen in der Erzählung zu kennzeichnen, z.B. Stimmimitation durch
Veränderung der Stimmqualität, der Tonhöhe etc.
1.4.3.5 Zuhöreraktivitäten im Erzählprozeß
70
Obwohl - wie bereits erwähnt - die narrative Diskurseinheit eine primär monologische ist, haben
die ZuhörerInnen im Erzählprozeß ganz bestimmte Aufgaben, deren Wichtigkeit u.a. leicht daran
zu bemessen ist, daß ein Ausbleiben solcher Aktivitäten bei ErzählerInnen Verunsicherung her-
vorruft. Denn schließlich erzählen ErzählerInnen ihre Erlebnisse, um sie mit anderen zu teilen.
Das bedeutet für ZuhörerInnen, daß sie ihre Bemühungen, die Erzählung nachzuvollziehen, si-
gnalisieren müssen.
71
Bleibt die Evaluierung durch die ZuhörerInnen aus, so ist die ganze Inter-
aktion gefährdet oder sogar gescheitert.
72
Die Handlungen der ZuhörerInnen sind phasenspezifisch. Ihre erste Aufgabe besteht zu Beginn in
einer Ratifizierung der Erzählankündigung, also dem Signalisieren eines ,,Wissenwollens".
73
Da-
durch erhalten die ErzählerInnen das ticket (s. Kap. 1.4.1). Dies kann, muß aber nicht verbalisiert
werden. In jedem Fall jedoch müssen sich ein/e oder mehrere GesprächsteilnehmerInnen explizit
oder implizit bereit zeigen zuzuhören: Die Gesprächsrollen ,,ErzählerIn/ ZuhörerIn" werden somit
auf die InteraktionsteilnehmerInnen verteilt.
74
70
Ich spreche im folgenden von ,,Zuhöreraktivitäten", um die speziellen Aufgaben der ZuhörerInnen von Erzäh-
lungen von ,,Höreraktivitäten", wie sie auch in anderen Mustern vorkommen, abzugrenzen.
71
Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf kooperative ZuhörerInnen.
72
Vgl. Ehlich (1983:144).
73
Vgl. Rehbein (1980:80).
74
Vgl. Hausendorf/Quasthoff (1996:139).

18
Im Erzählprozeß besteht die Aufgabe eines kooperativen Hörers dann darin, dem Erzähler zu si-
gnalisieren, daß auch weiterhin die Bereitschaft zum Zuhören vorhanden ist. Dies geschieht meist
durch Hörersignale wie ,,hm", ,,mhm", ,,ja" o.ä., die die ErzählerInnen in ihrem turn nicht unter-
brechen und nicht die Sprecherrolle beanspruchen. Im Gegenteil: Sie sind zu interpretieren einer-
seits als Bitte oder Erlaubnis, fortzufahren (continuer) und andererseits als Signal, daß die Zuhö-
rerInnen der Darstellung des Erzählers folgen können und verstehen. Eine besonders kooperative
und unterstützende Variante der Verstehensrückmeldung ist die Wiederholung und damit Ver-
stärkung von Evaluationen oder die vorausgreifende Vollendung von begonnenen Erzähleräuße-
rungen durch die ZuhörerInnen.
75
Wenn Verstehensprobleme auftauchen, so müssen die ZuhörerInnen dies deutlich machen und
mittels einer Verständnissicherungsprozedur diesen Zustand beheben, z.B. in Form von Nachfra-
gen. Solche Einschübe zum Zweck der Verständnissicherung stellen ebenfalls keine Beanspru-
chung der primären Sprecherrolle dar, denn sobald das Problem geklärt ist, fällt das Rederecht
wieder an den/die Erzähler/in zurück. Verstehensrückmeldung und Verständnissicherung sind in-
sofern von großer Bedeutung für die ErzählerInnen, als die Auswahl der realisierten Erzählele-
mente auf ihren Annahmen über das Hörerwissen basiert. Um nichts Überflüssiges zu sagen, aber
auch nichts Verständnisrelevantes auszulassen, sind sie auf eine Rückmeldung der Zuhörenden
angewiesen.
Am Ende der Erzählung haben ZuhörerInnen dann die Aufgabe, wenn möglich die Sichtweise des
Erzählers zu teilen. Daß Erzählen ganz allgemein auf eine Übernahme der Perspektive des Er-
zählers ausgerichtet ist, wird auch daran ersichtlich, daß eventuelle Nichtübereinstimmung zu-
rückhaltender zum Ausdruck gebracht wird als in anderen Diskurstypen.
76
ZuhörerInnen signali-
sieren ihre Übereinstimmung durch ,,Bewertungsexothesen"
77
, etwa in Form von Kurzkommenta-
ren, Ausrufen etc., die die Übernahme des Bewertungsresultats zum Ausdruck bringen. Dies ist
jedoch schon nicht mehr sequentielles Element innerhalb des Erzählprozesses, sondern bereits
Teil der komplexen, gemeinsamen Aufgabe von ZuhörerIn und ErzählerIn, die Erzählung abzu-
schließen und wieder in einen turn-by-turn-talk überzuleiten.
1.4.4 Der Abschluß von Erzählungen
Die Initiative für die Beendigung einer narrativen Diskurseinheit geht vom Erzähler aus.
78
Sie
müssen durch Handlungen des Abschließens die strukturellen Grenzen der Diskurseinheit markie-
ren, um Anschlußhandlungen der ZuhörerInnen zu ermöglichen. Dieses Signal kann z.B. durch
75
Vgl. Schwitalla (1988:116f).
76
Vgl. Schwitalla (1988:115). In ähnliche Richtung geht Stempel (1979:343ff), der die eingeschränkte Wahr-
heitsmaxime in Erzählungen beschreibt: Skepsis oder Kritik an der Faktizität des Ereignisses trete in Alltagser-
zählungen zurück hinter dem Bemühen, die Erlebnisperspektive des Erzählers nachzuvollziehen.
77
Begriff von Rehbein (1980:80f).
78
Rehbein (1980:81) weist darauf hin, daß dies v.a. für die Alltagserzählung gilt. Andere Regularitäten für die
Beendigung von Erzählungen bestehen z.B. im Interview oder in der Talkshow: Hier müssen die ZuhörerInnen
signalisieren, daß sie ihre Frage als durch die Erzählung ausreichend ,,behandelt" ansehen.

19
eine Coda gegeben werden. Nach Labov/Waletzky (1973:122) ist eine Coda ,,ein funktionales In-
strument, die Sprecherperspektive wieder auf den Gegenwartszeitpunkt einzustellen." Dies ge-
schieht z.B. auf inhaltlicher Ebene durch die Schilderung der Konsequenzen des erzählten Ereig-
nisses auf die Gegenwart der ErzählerInnen. Die Coda erfüllt die Funktion, ,,die Kluft zwischen
erzählter Diskurswelt und Sprechsituation zu überbrücken."
79
Der gemeinsame Vorstellungsraum
wird verlassen; man blickt auf ihn noch einmal zurück, aber nun aus der Perspektive des Sprech-
zeitpunktes. Statt einer Coda kann auch eine Maxime oder Moral das Ende einer Erzählung si-
gnalisieren.
80
Nicht jede Erzählung endet jedoch mit einem solch expliziten Element wie einer Coda. Bei der
Identifizierung eines nicht-markierten Endes kann für die ZuhörerInnen die zu Beginn realisierte
Erzähleinleitung hilfreich sein: Wenn z.B. etwas Witziges angekündigt wurde, so werden Zuhöre-
rInnen eine Pointe als Abschluß der Erzählung interpretieren. Sie können dann an einem mögli-
chen Übergangspunkt
81
das Rederecht übernehmen und Kommentare zur Erzählung abgeben.
Damit signalisieren sie dem Erzähler, daß sie die Diskurseinheit als abgeschlossen betrachten.
Falls dies nicht der Intention des Erzählers entspricht, so können nun noch Erzählelemente nach-
geschoben werden.
Sind sich beide Seiten über die Beendigung der Diskurseinheit einig sind, so besteht der nächste
wichtige Schritt darin, daß die ZuhörerInnen initiativ durch Kommentare, Bewertungsexothesen,
Anschlußerzählungen
82
o.ä. dem Erzähler vermitteln, daß die Erzählung nachvollzogen und das
Bewertungsresultat übernommen wurde. Diese Anschlußhandlungen heben das erzählte Ereignis
in einen Zustand größerer Verallgemeinerung: Oft verbalisieren ZuhörerInnen eine ,,Moral", die
der Erzählung über den Einzelfall hinaus eine Bewertung zuschreibt (,,ja ja, so sind die Män-
ner..."). Darüberhinaus kann in einem anschließenden turn-by-turn-talk eine `reflexive Nachbear-
beitung'
83
vorgenommen werden. Dabei geht die Initiative wiederum von den ZuhörerInnen aus,
die nun Elemente aus der Erzählung aufgreifen und argumentativ behandeln. ErzählerInnen und
ZuhörerInnen versichern sich dadurch gegenseitig einer geteilten Weltsicht, eines gemeinsamen
Fundus an Werten und Ansichten.
Werden nach der Beendigung der Erzählung durch die ErzählerInnen keine Anschlußhandlungen
realisiert, oder sind diese nicht kohärent mit der vorangegangenen Erzählung, so ist dies für den
Erzähler eine ,,unangenehme Situation":
84
Die Erzählung ist ,,durchgefallen", sie hat gleichsam
nicht stattgefunden. In solch einem Fall können Expansionen der Geschichte, etwa nachgescho-
bene Elemente der Ereigniskette oder wiederholte Evaluationen, als Werben des Erzählers um
79
Labov (1972:365).
80
Etwa ,,So kommt es immer, wenn...", ,,Man soll eben nicht..." o.ä.
81
Zu möglichen Übergangspunkten (transition relevance places) vgl. Sacks/Schegloff/Jefferson (1974).
82
Zur Reihung von Erzählungen vgl. Ryave (1978). Dabei etablieren potentielle nächste ErzählerInnen durch be-
stimmte Anschlußäußerungen schon die Relevanz für ihre eigene, kommende Erzählung.
83
Schwitalla (1988:120) untersucht die Herstellung einer gemeinsamen sozialen Identität in solchen Nachbear-
beitungen.
84
Jefferson (1978:229) sprich von einem dramatic instant.

20
Zuhörerreaktionen interpretiert werden.
85
Daran wird nochmals ersichtlich, daß Zuhöreraktivitä-
ten nach Abschluß einer Erzählung sequentiell relevant sind.
1.5. F
UNKTIONEN VON
A
LLTAGSERZÄHLUNGEN
Grundlegend für eine Beschäftigung mit sprachlichen Funktionen ist die Annahme, daß Spreche-
rInnen sprachliche Handlungen und Handlungsmuster intentional einsetzen, um bestimmte Ziele
zu erreichen. Die Erreichung dieser Ziele sprachlichen Handelns ist möglich aufgrund der Kon-
ventionalität von Handlungsmustern, die dadurch von HörerInnen erkannt und interpretiert wer-
den können.
86
Erzählungen stehen also nicht isoliert, sie werden nicht ,,einfach so" zum besten
gegeben. Mit dem Erzählen verfolgen SprecherInnen ganz bestimmte strategische Ziele in bezug
auf ihre eigene Person, auf die ZuhörerInnen oder auf die übergeordnete Interaktion.
87
Diese Ziel-
setzungen sollen im folgenden Erzählfunktionen genannt werden.
In der Erzählforschung ist häufig eine Zweiteilung von Erzählfunktionen vorgenommen worden.
Dabei unterscheiden die AutorInnen begrifflich z.B. zwischen ,,kommunikativen" und ,,interakti-
ven" Erzählfunktionen
88
, ,,inneren" Funktionen und ,,Tiefenfunktionen"
89
oder zwischen ,,funk-
tionalem" und ,,dysfunktionalem" Erzählen
90
. Kennzeichnend für die erste Kategorie (kommuni-
kative und innere Funktionen, funktionales Erzählen) ist, daß die Funktionalität vornehmlich vom
Erzählinhalt herrührt und sie auf den übergeordneten Handlungstyp bezogen ist, also z.B. Beleg-
funktion innerhalb einer Argumentation, Informationsfunktion für die ZuhörerInnen oder psychi-
sche Entlastung für die ErzählerInnen. Die zweite Kategorie (interaktive und Tiefenfunktionen,
dysfunktionales Erzählen) umfaßt hingegen Erzählfunktionen, die weitgehend unabhängig sind
vom Diskurstyp, in dem die Erzählung realisiert wird. Ihre Funktionalität entsteht durch den
Kommunikationsmodus Erzählen an sich. Ich möchte daher in meiner folgenden Zusammenfas-
sung zwischen ,,inhaltsbasierten" und ,,formbasierten" Funktionen unterscheiden.
91
Es handelt
sich hierbei um eine analytische Trennung - in konkreten Verwendungszusammenhängen können
Erzählungen Funktionen aus beiden Kategorien erfüllen.
1.5.1 Formbasierte Funktionen
Als eine grundlegende ,,Tiefenfunktion" des Erzählens ist der ,,Aufbau einer gemeinsamen Welt"
im Erzählprozeß beschrieben worden. ErzählerIn und ZuhörerIn versichern sich gegenseitig ihrer
Solidarität, sie freuen sich gemeinsam oder leiden gemeinsam, indem sie Ereignisse in einer fikti-
85
Vgl. Jefferson (1978:231).
86
Vgl. dazu auch Ehlich/Rehbein (1979b) oder Quasthoff (1980a:131ff).
87
Meist sind diese Ziele ineinander verwoben. Sie werden nur zu analytischen Zwecken getrennt dargestellt.
88
Vgl. Quasthoff (1980a:146ff).
89
Begriff von Ehlich (1983:135). Schwitalla (1988:111) spricht von ,,Tiefendimension".
90
Vgl. Gülich (1980a).
91
Begrifflichkeiten aus Hausendorf/Quasthoff (1996:12).

21
ven Diskurswelt gleichartig bewerten.
92
Aus volkskundlicher Perspektive ist dieses Phänomen
schon früh mit dem Begriff ,,solidarisierende Funktion" bezeichnet worden.
93
Im Erzählen wird kommunikativer und sozialer Kontakt zu anderen Menschen aufgenommen und
aufrechterhalten, es erfüllt also immer auch eine ,,phatische Funktion".
94
Dafür eignen sich v.a.
szenisch ausgebaute Erzählungen gut, da sie aufgrund ihres hohen Detaillierungsniveaus den
Kontakt zu den ZuhörerInnen über längere Zeit nicht abreißen lassen.
Weiterhin kann Erzählen als soziale oder moralische Orientierungshilfe fungieren: Durch die
Darstellung von eigenen und fremden Handlungsweisen findet eine wechselseitige Verständigung
darüber statt, was `richtiges' bzw. `falsches' Verhalten ist, indem das erzählte Ereignis intersub-
jektiver Beurteilung zugänglich gemacht wird.
95
Schließlich ist als eine formbasierte (nach Quasthoffs Terminologie: `interaktive') Funktion noch
die rahmensetzende Erzählfunktion zu nennen. Das Konzept des ,,Rahmens" (frame) geht zurück
auf Goffman (1974) und besagt, daß sozial Handelnde aufgrund ihres Verständnisses der sozialen
Realität Situationen einschätzen und definieren und ihr Handeln danach ausrichten. Dabei kann es
passieren, daß mehrere Handelnde dieselbe Situation unterschiedlich definieren, was zu einer
Rahmenkonfusion oder zu einem Rahmenkonflikt führen kann. Auch Erzählungen können nun als
situations- und/oder beziehungsdefinierendes Mittel (frame relevant cues) eingesetzt werden: Da
persönliche Erzählungen in unserem Kulturkreis erstens ein gewisses Maß an Intimität zwischen
den InteraktionspartnerInnen voraussetzen
96
und zweitens Zeit beanspruchen, können sie z.B. ei-
ne ,,offizielle" Gesprächssituation wie die in einer Sachberatung zu einem persönlichen Gespräch
umdefinieren.
97
1.5.2 Inhaltsbasierte Funktionen
Über diese formbasierten, der Erzählung als Handlungsmuster inhärenten Funktionen hinaus er-
füllen Erzählungen jedoch häufig noch ganz konkrete Funktionen im übergeordneten Rahmen der
Interaktion. Die Erzählfunktion entsteht hier aus dem spezifischen Inhalt einer Erzählung. Die
Funktion kann - je nach Situation und Intention - primär eher am Sprecher, am Hörer oder am
konversationellen Kontext ausgerichtet sein.
98
92
Zu dieser Tiefenfunktion des Erzählens vgl. Ehlich (1983), ferner Schwitalla (1988).
93
Vgl. Lehmann (1978).
94
Vgl. Rath (1982:37ff).
95
Vgl. hierzu auch Keppler (1988b:50) oder Günthner (1993) zu moralischen Geschichten.
96
Wegen der geringen Distanz zwischen ErzählerIn und AgentIn der Geschichte exponieren gerade szenisch aus-
gebaute Erzählungen das Ich der ErzählerInnen relativ stark. Vgl. Quasthoff (1980a:183ff).
97
Vgl. Quasthoff (1979b:107).
98
Vgl. zu dieser Klassifizierung und der folgenden Darstellung Quasthoff (1980a:146ff).

22
Als eine primär sprecher-orientierte Funktion
99
wäre zunächst `affektive Entlastung' zu nennen.
Erzählungen werden zum Ventil für innere Spannungszustände - die ErzählerInnen müssen ,,et-
was loswerden", sie sind emotional in den Sachverhalt involviert.
100
In der Regel werden Erzäh-
lungen in affektiver Entlastungsfunktion von den ErzählerInnen eigen-initiiert und bedürfen kei-
ner aufwendigen Einbettung in den konversationellen Kontext.
Eine weitere primär sprecher-orientierte Erzählfunktion ist die der Selbstdarstellung. Selbstdar-
stellung ist hier nicht grundsätzlich zu verstehen als Selbsterhöhung, sondern zunächst nur als die
kommunikative Erarbeitung eines Selbstbildes.
101
Erzählungen sind nun ein besonders effizientes
Mittel zur Selbstdarstellung, weil die Interpretation und Bewertung des eigenen Handelns implizit
mitgeliefert wird. Da die direkte Mitteilung über das eigene positive Selbstbild in unserem Kul-
turkreis verpönt ist, wird sie durch das Erzählen von eigenen Handlungen oder Erfahrungen, die
positiv zu bewerten sind, ersetzt. Die ,,Charakterisierungsbegriffe", die sich die ErzählerInnen
gerne zuweisen möchten, sollen von den ZuhörerInnen implizit erschlossen werden. Die Implizi-
theit der Bewertungen beim Erzählen macht es zu einer besonders sozialverträglichen Art der
Selbstdarstellung.
Die zweite Kategorie der inhaltsbasierten Erzählfunktionen sind die primär hörer-orientierten
Funktionen. Darunter fällt z.B. die Informationsfunktion.
102
Erzählungen in Informationsfunktion
sind i.d.R. fremd-initiierte Erzählungen, die aufgrund eines Wissensdefizits von den ZuhörerInnen
angefordert werden. Sie zeichnen sich durch einen wenig inszenatorischen Charakter, also einen
sparsamen Gebrauch von erzähltypischen Mitteln aus. Dies bringt sie in die Nähe des Berichts.
Ehlich (1983:146) merkt an, daß die Informationsfunktion des Erzählens in früheren Gesell-
schaften (und v.a. dörflichen Gegenden) sicherlich eine größere Rolle gespielt hat als heute, etwa
zur Übermittlung und Tradierung von handlungsrelevantem Wissen.
Eine weitere häufige hörer-orientierte Erzählfunktion ist die Unterhaltungsfunktion. Diese Art
von Erzählungen kommen v.a. in geselliger Runde vor, in einem Rahmen des `homilëischen Dis-
kurses', der ja gerade durch unterhaltsames Kommunizieren in Muße gekennzeichnet ist. Der
Diskurstyp Erzählen ist hier also eher situationell gefordert als behindert. Daher muß er auch
nicht aufwendig eingebettet werden, sondern kann im Gegenteil klar als Diskurseinheit angekün-
digt und abgegrenzt werden. Die inhaltlich und evaluativ markierte Pointe wird von den HörerIn-
nen durch Lachen oder eine ähnliche Reaktion quittiert. Rehbein (1982:61) merkt an, daß dieses
Lachen wiederum der Herstellung von Gemeinsamkeit und geteilter Weltsicht dient, indem sich
99
Um auf den analytischen Charakter der Unterscheidung hinzuweisen spricht Quasthoff von primär sprecher-,
primär hörer- oder primär kontextbezogenen Funktionen. Primär sprecher-orientiert heißt natürlich nicht, daß
ErzählerInnen sich nicht an ihren ZuhörerInnen orientieren.
100
Lehmann (1978:213) nennt dies ,,sedative" Erzählfunktion.
101
Zum Phänomen `Erarbeitung eines Selbstbildes in Gesprächen' vgl. auch Holly (1979:33ff).
102
Natürlich übermittelt jede Erzählung immer auch Informationen, aber nicht in dominierender Funktion.

23
die InteraktionsteilnehmerInnen signalisieren, daß sie die erzählten Ereignisse identisch bewer-
ten.
103
Eine Erzählfunktion, die sich primär am Kontext der Interaktion orientiert, wäre die Belegfunkti-
on.
104
Die Belegerzählungen basieren auf dem ,,Augenzeugenprinzip": Was jemand gesehen hat,
wird nicht weiter hinterfragt, sondern geglaubt.
105
Somit sind Beispielerzählungen selbsterlebter
Ereignisse ein idealer Beleg zur Unterstützung von Behauptungen innerhalb einer Argumentati-
on.
106
Die Information, die mit einem Beleg eingeführt wird, muß den GesprächsteilnehmerInnen
nicht unbekannt sein: Gerade bei Beispielerzählungen ist die Reaktivierung latent vorhandenen
Wissens sehr wirkungsvoll zur Stützung einer Aussage. Ein gutes Beispiel, das `ohne weiteres'
einleuchtet, basiert ja gerade auf solchem Vorverständnis.
107
Belegerzählungen können - neben
dieser `Dokumentationsfunktion' - auch `Persuasionsfunktion' haben. Dies ist der Fall, wenn Zu-
hörerInnen durch Erzählungen zu einer bestimmten affektiven Haltung und somit zu einer be-
stimmten Entscheidung gebracht werden sollen. Weiterhin können Belegerzählungen auch in
Rechtfertigungs- oder Beschuldigungshandlungen vorkommen.
108
Allen Beleg-Funktionen ist
gemein, daß sie aus einer Alltagslogik heraus eine Pseudobeweisführung realisieren, die durch die
Präsentation eines einzelnen Ereignisses die Belegung einer These vornehmen will.
Mit diesen Überlegungen zu Erzählfunktionen soll der theoretische Teil über die konversationelle
Alltagserzählung abgeschlossen werden. Die Skizzierung der Formen, Strukturen und Funktionen
von nicht-institutionellen Erzählungen soll den Hintergrund für die Betrachtungen im Analyseteil
bilden: Auf der Folie der konversationellen Alltagserzählung sollen dann die Modifizierungen des
Erzählens in der Talkshow aufgezeigt werden. Dafür werden im folgenden Kapitel noch die in-
stitutionellen Kommunikationbedingungen der Talkshow dargestellt.
103
Hier zeigt sich ein Problem der Abgrenzung: Die Unterhaltungsfunktion hat auch teilweise den Charakter ei-
ner formbasierten Funktion. Zwar ist meist primär der Inhalt unterhaltend, aber auch jegliches Erzählen, also
die Aktivität an sich, kann schon als unterhaltend angesehen werden. Ähnliche Probleme entstehen bei der Ein-
ordung der Selbstdarstellungsfunktion. Einige AutorInnen rechnen dementsprechend auch Unterhaltung und
Selbstdarstellung zu den formbasierten (Tiefen-)Funktionen des Erzählens.
104
Zur Belegfunktion vgl. auch Keppler (1988b).
105
Schütze (1978) bezeichnet dies als eine ,,Basisregel" kooperierender Kommunikation.
106
Quasthoff bezieht sich in ihren Ausführungen auf das Argumentationsmodell von Toulmin (1975).
107
Vgl. Keppler (1988b:51).
108
Zu rechtfertigenden und legitimierenden Geschichten vgl. auch Lehmann (1980).

24
2 D
IE
T
ALKSHOW ALS
I
NSTITUTIONELLER
H
ANDLUNGSRAHMEN
2.1 A
LLGEMEINE
C
HARAKTERISTIKA DER
T
ALKSHOW
Talkshows gehören seit 1973 zum festen Bestandteil des Programms bundesdeutscher Fernseh-
anstalten.
109
Ihre Zahl ist seitdem kontinuierlich gestiegen: Im Juli 1997 sendeten deutsche Fern-
sehkanäle - öffentlich-rechtliche und private - durchschnittlich 130 Stunden Talk pro Woche.
110
Tendenz steigend. Mit der wachsenden Anzahl an Talkshowsendungen vollzog sich auch eine zu-
nehmende inhaltliche Ausdifferenzierung der Sendeform. Allen gemein ist jedoch, daß sie Talk,
also ein Gespräch, als Show präsentieren: Die ZuschauerInnen sollen durch eine Unterhaltung
unterhalten werden. Das Gespräch an sich wird zum Fernsehereignis. Talkshows vollziehen dabei
einen Balanceakt zwischen Information und Unterhaltung, der in den Staatsverträgen für die öf-
fentlich-rechtlichen Sendeanstalten und den Mediengesetzen für den privaten Rundfunk in Form
von Programmaufträgen festgeschrieben ist:
111
Informative Unterhaltung und unterhaltende In-
formation sollen verbunden werden, indem gesellschaftlich relevante Themen in unterhaltsame
Gespräche gekleidet werden. Allerdings ist das Konzept des ,,Infotainments" nur noch ein Aspekt
unter vielen, da sich die Marktbedingungen der Fernsehlandschaft durch die Privatisierung von
Sendefrequenzen grundlegend verändert haben.
112
Wer sich auf dem Markt behaupten und hohe
Einschaltquoten haben will, der muß sein Publikum vor allem gut unterhalten. Bestmögliche Un-
terhaltung ist zur Maxime der Talkshowsendungen geworden - der Informationswert ist dagegen
nur noch sekundär.
113
Die Möglichkeiten der visuellen Präsentation der GesprächsteilnehmerInnen machen das Fernse-
hen zum prädestinierten Medium, aus Gesprächen eine publikumswirksame ,,Show" zu machen.
Zwischen den Gästen und den ModeratorInnen besteht dabei ein Geschäft auf Gegenseitigkeit:
Die GesprächsteilnehmerInnen erhalten i.d.R. uneingeschränkte Möglichkeit zur Selbstdarstel-
lung, im Gegenzug sind sie bemüht, so unterhaltsam wie möglich zu sein, was wiederum ihrem
positiven Selbstbild zu gute kommt. Dabei erweist sich das Erzählen aufgrund seiner impliziten
Selbst-Bewertung (vgl. Kap. 1.5.2) als ausgezeichnetes Mittel zur Selbstdarstellung. Erzählen ist
eines der in der Talkshow am häufigsten angewandten sprachlichen Muster, da es der Intention
aller InteraktantInnen entspricht.
109
Einen Überblick über die Geschichte der Talkshow - mit Parallelen zur Talkshow in den USA - gibt Kalver-
kämpfer (1979:406ff). Interessant ist der Hinweis, daß die ersten Talkshows als `Lebenshilfe' für neu zu erler-
nendes Miteinander-Reden gedacht waren (ebd:411).
110
Zahlen aus ,,Der Tanz ums goldene Selbst", in: Der Spiegel 29 vom 14.07.97, S.92ff. Alleine zwischen 11 und
14 Uhr senden die beiden meistgesehenen Privatkanäle Sat.1 und RTL jeweils 15 Stunden Talkshow pro Wo-
che, die ARD 4 Stunden.
111
Das ,,Gesetz zum Staatsvertrag über den Nordeutschen Rundfunk" etwa ist abgedruckt in Hoffmann-
Riem/Schultz (1997:223-257), ebenso das ,,Hamburgische Mediengesetz" für den Privatfunk (ebd:176-222).
112
Vgl. dazu auch Jäckel (1991).
113
Vgl. Mühlen (1985:19ff).

25
2.1.1 Die Talkshow als Gegenstand linguistischer Forschung
Trotz der Omnipräsenz von Talkshowprogrammen in deutschen Fersehkanälen hat das Phänomen
in der linguistischen Forschung bislang nur unzureichend Beachtung gefunden. Im Gegensatz zu
anderen Sendeformen - hier ist v.a. das Nachrichtenwesen oder das Interview zu nennen - ist die
,,Schau-Plauderei"
114
noch relativ unerforscht. Dies mag u.a. daran liegen, daß die Talkshow als
Gesprächsform schwierig einzuordnen ist: Ist sie eine eigenständige Gattung oder ein Mischtyp
aus verschiedenen Gattungen?
115
Bislang liegt noch keine Definition der Talkshow vor. Ob dies -
nicht zuletzt wegen der großen Diversität dessen, was unter dem Begriff Talkshow firmiert -
überhaupt zu leisten ist, mag dahin gestellt bleiben. Meist wird versucht, die Gattung durch Ab-
grenzung zu verwandten Textsorten wie `Diskussion' oder `Interview' zu fassen.
116
Ein weiterer
Grund für die Vernachlässigung der Talkshow in der Linguistik könnte sein, daß die Sendeform
einem raschen Wandel unterliegt. Die linguistischen Untersuchungen, die zur Talkshow vorlie-
gen
117
, erscheinen - selbst wenn sie dem Ende der 80er bzw. dem Anfang der 90er Jahre ent-
stammen - heute schon teilweise veraltet. Waren bis zu diesem Zeitpunkt noch die Talkshows mit
prominenten Gästen vorherrschend, so kann man heute eine Entwicklung beobachten, daß zu-
nehmend nicht-prominente ,,einfache Leute von der Straße" ins Studio geladen werden.
2.1.2 Die Talkshow als parasoziale Interaktion
Insgesamt kann man von einem überwältigenden Erfolg des Sendekonzepts Talkshow sprechen.
Für Fernsehsender ist die Talkshow nicht zuletzt aufgrund ihrer niedrigen Produktionskosten eine
beliebte Sendeform. Der große Anklang, den Talkshows bei den FernsehzuschauerInnen finden,
verweist darauf, daß die Sendungen einem weit verbreiteten Bedürfnis entsprechen. Was aber
macht die ,,privaten Gespräche in der Öffentlichkeit" so beliebt?
In der Massenkommunikationsforschung hat man früh festgestellt, daß FernsehrezipientInnen das
Programm nicht einfach passiv über sich ergehen lassen, sondern im Rezipieren aktive Interpreta-
tionsleistungen erbringen.
118
Dieses aktive Handeln ist insofern sozialer Natur, als sich Zuschaue-
rInnen persönlich an den Rollen, die das Fernsehen anbietet, beteiligen. Fernsehunterhaltung -
und dies gilt in besonderem Maße für Talkshows als der Inszenierung von privaten face-to-face-
Gesprächen - vermitteln nun die Illusion, daß zwischen den VertreterInnen der Institution Fernse-
hen und dem Fernsehpublikum eine face-to-face- oder persönliche Beziehung bestünde.
119
Dies
114
Zu den Versuchen, den Begriff Talkshow einzudeutschen vgl. Kalverkämpfer (1979:411).
115
Zu diesen Einordnungsproblemen vgl. Kalverkämpfer (1979:407).
116
Vgl. hierzu Mühlen (1985:328ff).
117
Hier wären v.a. zu nennen Bayer (1975), Linke (1985), Mühlen (1985), Holly/Kühn/Püschel (1989), Burger
(1991) und Weinrich (1992).
118
Vgl. zu diesem sogenannten ,,uses and gratification approach" z.B. Rosengren/Windahl (1972) oder Schenk
(1987).
119
Dies haben auch schon Horton/Wohl (1956:216) in ihrem klassischen Aufsatz festgestellt. Sie beziehen sich
zwar noch nicht explizit auf Talkshows, aber auf ,,personenzentrierte" Fernsehstücke wie Shows oder mode-
rierte Magazinsendungen.

26
wird z.B. durch direkte Publikumsansprachen verstärkt. Horton/Wohl (1956:215) nennen diese
spezielle Beziehung ,,parasoziale Interaktion".
120
An ihr wirken sowohl die FernsehvertreterInnen
als auch die ZuschauerInnen aktiv mit, indem beide Seiten so tun, als ob ein persönlicher Kontakt
vorläge. Die Identifizierungsangebote der Sendungen bieten den ZuschauerInnen die Möglichkeit,
in fiktive Rollen zu schlüpfen bzw. sich mit diesen auseinanderzusetzen - sie agieren also in ei-
nem Rollenspiel (role-playing).
121
Dabei bewegen sich die RezipientInnen in einem ,,Span-
nungsfeld zwischen eigener Identität und Identifizierung mit den perzipierten Handlungsrollen
der Fernsehakteure"
122
. Die eigentliche aktive Leistung der RezipientInnen besteht nun in einer
subjektiv sinnvollen Deutung des Handelns der `Anderen'.
Talkshows bieten den RezipientInnen vielfältige Möglichkeiten des Rollenhandelns, d.h. des spie-
lerischen Hineinversetzens in die Rollen der geladenen Gäste, die die FernsehzuschauerInnen in
ihrer Lebenswirklichkeit nicht einnehmen könnten. Gerade in den neueren Talkshows, die seit
den frühen 90er Jahren produziert werden, wird den FernsehzuschauerInnen ein noch größeres
Identifikationsangebot gemacht: Die Talkgäste sind Nicht-Prominente oder Nicht-ExpertInnen
(,,Leute wie du und ich"). Dies verringert einerseits die personelle Distanz bei der Rollenüber-
nahme, und andererseits wird auch die thematische Identifikation erleichtert, da die Themen der
persönlichen Alltagswelt der TeilnehmerInnen entstammen. Den RezipientInnen wird suggeriert,
daß Themen und Akteure unmittelbar auf ihr privates Leben bezogen seien. So geben sich die
Sendungen selbst häufig den Anspruch, ,,Orientierungshilfe" in einer verwirrenden Welt zu ge-
ben. Diese Verstärkung der ,,parasozialen" Interaktion könnte ein entscheidender Faktor für die
große Beliebtheit der Sendungen sein.
123
2.2 T
ALKSHOW
-T
YPEN
Wenn man davon ausgeht, daß Talkshows ihre ZuschauerInnen primär unterhalten möchten, so
lassen sich nach dem Kriterium `wie wird der Unterhaltungswert erreicht' drei verschiedene
Talkshow-Typen ausmachen.
124
Eine Möglichkeit besteht darin, eine Diskussionsrunde zusam-
menzustellen, in der ein Thema in einem Mehrpersonengespräch möglichst kontrovers behandelt
werden soll. Dementsprechend werden Gäste (dies können Prominente, PolitikerInnen oder Ex-
pertInnen), die gegensätzliche Standpunkte vertreten, eingeladen. Die Themen entstammen dem
,,Primärrollenbereich"
125
der Gäste und werden problemorientiert und konfrontativ behandelt. Der
120
Vgl. zur parasozialen ,,Interaktion" auch Vorderer (1996).
121
Hier wird schon die Nähe des Ansatzes zu den Konzepten des role-taking und role-making des Symbolischen
Interaktionismus deutlich. Vgl. zu diesem Zusammenhang Teichert (1973:374ff).
122
Vgl. Teichert (1973:371).
123
Zu den Motivationen sowohl der Talk-Gäste als auch der ZuschauerInnen vgl. Bente/Fromm (1997:113ff).
124
Mühlen (1985:19f) unterscheidet bezeichnenderweise nur zwischen zwei Talkshow-Typen - der dritte (letzt-
genannte) Typ ist erst in den letzten Jahren entstanden.
125
Zum Begriff vgl. Mühlen (1985:165ff). Die ,,Primärrolle" von Gästen ist z.B. ihr Beruf oder ihre Karriere
(Politik, Schauspielerei etc), also der Bereich, in dem sie einem größeren Publikum bekannt sind. ,,Sekundär-
rollenbereich" oder ,,rollenunabhängiger Bereich" wären hingegen Privatleben, Familie etc.

27
Unterhaltungswert entsteht durch ein Zusammenprallen von unterschiedlichen Meinungen und
durch eine möglichst hitzig geführte Debatte. Beispiele für diese `Diskussions-Talkshows' wären
z.B. ,,Talk im Turm" oder ,,Talk vor Mitternacht". Generell nimmt dieser Talkshow-Typ im deut-
schen Fernsehen nur noch wenig Senderaum ein.
Ein zweiter Typ von Talkshows - und dieser ist wohl der Klassische zu nennen - setzt auf die Prä-
senz von Prominenten, die meist im Einzelgespräch mit dem/der ModeratorIn als Person vorge-
stellt werden sollen. Dabei können sowohl Elemente aus dem Primärrollenbereich als auch aus
dem rollenunabhängigen Bereich thematisiert werden - die Gewichtung ist sendungs- oder mode-
ratorabhängig, der Schwerpunkt liegt aber meist auf der Primärrolle. Die Themenbehandlung ist
vorrangig personenorientiert und narrativ, wenn Sachthemen angesprochen werden, so werden
diese von der Person abgeleitet. Die Unterhaltung der FernsehzuschauerInnen soll durch die Sug-
gestion erreicht werden, man lerne eine prominente Person ,,aus der Nähe" kennen. Die Modera-
torInnen geben sich alle Mühe, etwas ,,Persönliches" aus dem Gast ,,herauszukitzeln". Weiterhin
sind die Gespräche in besonderem Maße auf Unterhaltsamkeit, Pointen, Schlagfertigkeit etc. aus-
gerichtet. Den Talkgästen wird unbeschränkter Raum zur Selbstdarstellung gegeben, wobei das
Erzählen, wie sich noch zeigen wird, eine große Rolle spielt. Zum diesem Typus der `Personality-
Talkshow' gehören z.B. ,,Willemsens Woche" oder ,,Boulevard Bio".
Der dritte - oben schon angesprochene - Typ von Talkshows schließlich ist noch relativ jung: Es
gibt ihn in Deutschland erst seit 1992. Ich möchte ihn `Betroffenen-Talkshow'
126
nennen. Er
zeichnet sich dadurch aus, daß fast ausschließlich unbekannte Gäste, also Nicht-prominente ein-
geladen werden, die ihre authentischen Geschichten erzählen sollen. Den FernsehzuschauerInnen
wird ein zusätzliches Identifikationsangebot gemacht, indem ihnen suggeriert wird, daß durch
,,ihre" VertreterInnen ,,ihre" Alltagsprobleme zur Sprache gebracht würden. Die Themenbehand-
lung erfolgt problemorientiert, wobei die Themen immer aus einem rollenunabhängigen, also pri-
vaten Bereich kommen. Die Gäste sprechen aus ihrer Rolle als ,,Betroffene" heraus, die in der ei-
nen oder anderen Form mit dem Thema Erfahrungen gesammelt haben. Sie sollen eine möglichst
emotional ansprechende Darstellung ihres persönlichen Betroffen-Seins geben - oft handelt es
sich hierbei um Beispielgeschichten. Die behandelten Themen werden dadurch stark personali-
siert.
127
Wenn Institutionen thematisiert werden, dann nur aus der Perspektive heraus, welche
Erfahrung die Gäste als Privatpersonen damit gemacht haben. Als Gegengewicht können dann
eventuell noch VertreterInnen der entsprechenden Institution (,,ExpertInnen") eingeladen werden;
die Gäste jedoch sprechen nur aus ihrer Perspektive als Betroffene. Sendungen dieses Talkshow-
Typs können sowohl narrativ als auch konfrontativ angelegt sein. Ihr Unterhaltungswert besteht
zunächst darin, daß die (vermeintlich) alltagsrelevanten Themen der ZuschauerInnen behandelt
126
Bente/Fromm (1997:21ff), die sich aus der Perspektive der Massenkommunikationsforschung mit dem Thema
beschäftigen, sprechen von ,,Affektfernsehen" und als einer Untergattung desselben von ,,Affekt-Talks". Ich
übernehme den Terminus in meiner Untersuchung nicht, weil auch in anderen Talkshow-Typen Affekte ange-
sprochen werden (wenn auch nicht im selben Ausmaß). Das entscheidende Kriterium zur Abgrenzung scheint
mir die Betroffenen-Perspektive der Redebeiträge der Talk-Gäste zu sein.
127
Zur Personalisierung von Talkshow-Themen vgl. Mühlen (1985:165ff) und Burger (1991:169ff).

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1997
ISBN (eBook)
9783832411183
ISBN (Paperback)
9783838611181
Dateigröße
4 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Hamburg – Unbekannt
Note
1,0
Schlagworte
talkshow empirische linguistik konversationsanalyse diskursanalyse erzählen
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Titel: Erzählen in der Talkshow
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