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Sprache der Moderne in Ingeborg Bachmanns Roman 'Malina'

©1998 Magisterarbeit 104 Seiten

Zusammenfassung

Inhaltsangabe:Zusammenfassung:
Ab Mitte der 50er Jahre schreibt Bachmann kaum mehr Gedichte. In den 60er Jahren widmet sie ihr Schaffen verschiedener Prosa wie Erzählungen oder Essays und Hörspielen. 1971 veröffentlicht sie den Roman "Malina". In welcher Gattung Bachmann auch arbeitet, immer ist die Sprache ein zentrales Thema ihres Schaffens.
Sie realisiert in "Malina" ein Sprachkonzept, das sie in den Frankfurter Vorlesungen erläutert. Hier entwirft die Dichterin das Bild einer Sprache und Utopie, um die sich Künstler und Rezipient bemühen sollen. In "Malina" erscheint die Sprache in ihrer schönsten Form, gleichzeitig werden Zweifel an der Sprache geäußert: Die Sprachskepsis der Ich-Figur des Romans geht so weit, daß sie sich nach einer überirdischen, metaphysischen Sprache sehnt, sie sagt: "Genügt ein Satz denn, jemand zu versichern, um den es geschehen ist? Es müßte eine Versicherung geben, die nicht von dieser Welt ist" Äußerungen, die wie diese die Sprache behandeln, treten häufig im Romantext auf. Sie sind der Gegenstand meiner Untersuchung.
Ich analysiere Textausschnitte, die sprachästhetische Gedanken spiegeln oder reflektieren sowie semantische und stilistische Sprachmerkmale. Unter diesen Aspekten verstehe ich im weiten Sinn die ‘Form’ des Romans. Dabei interpretiere ich weder die äußere Handlung des Romans, noch gehe ich auf biographische oder psychoanalytische Aspekte ein, welche in der Forschungsliteratur zu "Malina" in den 70er Jahren starke Berücksichtigung finden, noch auch auf feministische Perspektiven, die seit den 80er Jahren im Vordergrund stehen.
Die sprachlichen Merkmale und die Aussagen über Sprache in "Malina" sind nicht nur für das Werk Bachmanns sondern auch für die Literatur der Epoche der Moderne bezeichnend.
Nach einer Einführung in Geschichte, Aufbau und Struktur des Romans (Kapitel 2) untersuche ich bedeutende Sprachmerkmale des Romans (Kapitel 3). Als moderne sprachliche Stilmittel analysiere ich exemplarisch die Fragmentarisierung (3.1) und die Sprachreflexion (3.2) in "Malina". Dabei untersuche ich jeweils, in welcher Beziehung sie zur Literatur der Moderne stehen. Anschließend erarbeite ich anhand des Romans Kennzeichen einer modernen Erzähltechnik. Hier untersuche ich die subjektive Erzählweise, ihre Grenzen in der modernen Gesellschaft (3.3) und die Problematik von subjektiver Erfahrung und Erinnerung als Grundbedingung des Erzählens (3.4) - in diesem Zusammenhang ist auch die in moderner Literatur […]

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ID 1080
Streu, Ines: Sprache der Moderne in Ingeborg Bachmanns Roman ,,Malina" / Ines Streu -
Hamburg: Diplomarbeiten Agentur, 1998
Zugl.: Kassel, Universität - Gesamthochschule, Magister, 1998
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Diplomarbeiten Agentur, http://www.diplom.de, Hamburg 2000
Printed in Germany


3
Inhalt
1 Einleitung ...5
2 Aufbau und Struktur des Romans...10
2.1 Handlung... 10
2.2 Aufbau und Struktur ... 11
3 Moderne Sprachmerkmale in ,,Malina" ...16
3.1 Fragmentarisierung... 16
3.1.1 Begriffsklärung ... 16
3.1.2 Das Fragment in der Frühromantik ... 16
3.1.3 Fragmentarische Textstruktur in ,,Malina"... 17
3.1.4 Fragmentarisiertes Sprechen und Schreiben in ,,Malina"... 18
3.1.5 Fragmentarisierung als Spiegel der Gesellschaft ... 25
3.2 Sprachreflexion... 25
3.2.1 Frühromantische Theorie als Referenz ... 25
3.2.2 Reflexion von Schreibprozeß, Zeichen und Sprache in ,,Malina"... 26
3.3 Subjektivismus und Erzählproblematik ... 30
3.3.1 Thema der Frühromantik ... 30
3.3.2 Subjektivismus versus Gesellschaft in ,,Malina"... 33
3.3.3 Die Krise des Subjekts in ,,Malina" ... 36
3.3.4 Divergierende Erzählhaltungen in ,,Malina"... 38
3.3.5 Subjektivistische Erzählperspektive in ,,Malina": Folgen für die
Rezeption ... 39
3.3.6 Namen und Identität in ,,Malina"... 41
3.4 Erfahrung und Erinnerung als Grundbedingung des Erzählens
in ,,Malina"... 45
3.5 Erkenntnisskepsis ... 53
3.5.1 Erkenntnisskepsis gegenüber der Mediengesellschaft in ,,Malina"... 53
3.5.2 Der Einfluß von Wittgensteins Sprachphilosophie auf Bachmann ... 55
3.6 Rationalismus und Logozentrismuskritik... 60
3.6.1 Ratio und Natur bei Hölderlin und in der Frühromantik... 60
3.6.2 Logozentrismuskritik und aufgeklärtes Denken in ,,Malina" ... 61
3.7 Poetische Sprache ... 67

4
3.7.1 Novalis' Idee einer anderen Sprache als Substrat in ,,Malina" ... 67
3.7.2 Poetische und informative Sprache in ,,Malina" ... 70
3.7.3 Unsagbares in ,,Malina"... 74
3.8 Die Utopie... 78
3.8.1 Romantische Utopien... 78
3.8.2 Die Bedeutung der Sprache für die Utopie in ,,Malina":
Wirkmächtigkeit... 79
3.8.3 Konzept der Utopie: Schönheit der Sprache in ,,Malina" ... 81
3.9 Sprachkonzept der Moral... 84
3.9.1 Diskrete Sprache in ,,Malina" ... 84
3.9.2 Sprache und Menschenwürde in ,,Malina"... 87
4 Zusammenfassung ...91
5 Literaturverzeichnis...95

5
1
Einleitung
In dem berühmten, fiktiven ,,Brief" Hugo von Hofmannsthals skizziert Lord Chan-
dos die Sprachkrise, die die Dichter-Figur zum Beenden ihres künstlerischen Schaffens
geführt hat:
Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeines Thema
zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, denen sich doch
alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Und dies nicht etwa
aus Rücksichten irgendwelcher Art, [...] sondern die abstrakten Worte, deren
sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den
Tag zu legen, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. Es begegnete mir, daß
[...] die mir im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine [...] schillernde Fär-
bung annahmen und [...] ineinander überflossen. [...] Allmählich aber breitete
sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost. Es wurden mir auch
im familiären und hausbackenen Gespräch alle die Urteile, die leichthin und mit
schlafwandelnder Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, so bedenklich, daß
ich aufhören mußte an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen. [...] Es gelang
mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen.
Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich
mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich, sie
gerannen zu Augen, die mich anstarrten.
1
Die schreibende Ich-Figur in Ingeborg Bachmanns Roman ,,Malina" ringt in sehr
ähnlicher Form mit dem Wesen der Sprache:
Das Palatale der Sprache. Ich weiß noch die Worte, die rosten, seit vielen Jahren,
auf meiner Zunge, und ich weiß die Worte ganz gut, die mir jeden Tag zergehen
auf der Zunge oder die ich kaum hinunterschlucken kann, kaum hervorstoßen
kann. Es waren auch nicht eigentlich die Dinge, die ich mit der Zeit immer we-
niger einkaufen oder sehen konnte, es waren die Worte dafür, die ich nicht hören
konnte. Zwanzig Deka Kalbfleisch. Wie bringt man das über die Zunge? Nicht,
daß mir etwas Besonderes an Kälbern liegt. Aber auch Weintrauben, ein halbes
Kilo. Frische Milch. Ein Ledergürtel. Alles aus Leder. Eine Münze, ein Schilling
etwa, rollt für mich auch nicht das Problem des Geldverkehrs, einer Entwertung
oder der Golddeckung auf, sondern ich habe plötzlich einen Schilling im Mund,
leicht, kalt, rund, einen störenden Schilling zum Ausspucken.
2
Um 1963 verfaßt Bachmann das Gedicht ,,Keine Delikatessen". Es wirft ebenfalls
die Frage nach dem Umgang mit Sprache auf, auch hier leidet das lyrische Ich unter
einer Sprachkrise:
Soll ich
einen Gedanken gefangennehmen,
1
von Hofmannsthal, Hugo: Ein Brief. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hg. v. Rudolf
Hirsch, Christof Perels und Heinz Rölleke. Bd. XXXI. Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. v. Ellen
Ritter. Frankfurt am Main 1991. S. 45-55, hier S. 48f.
2
Bachmann, Ingeborg: Malina. In: Dies.: ,,Todesarten"-Projekt. Bd. 1-4. Kritische Ausgabe. Bd. 3.1.
Malina. Hg. v. Robert Pichl, Monika Albrecht, Dirk Göttsche. München 1995, S. 275-695, hier S.
677. Seitenangaben aus dem Roman setze ich im folgenden in einfachen Klammern direkt hinter den
betreffenden Text.

6
abführen in eine erleuchtete Satzzelle?
Aug und Ohr verköstigen
mit Worthappen erster Güte?
erforschen die Libido eines Vokals,
ermitteln die Liebhaberwerte unserer Konsonanten?
Muß ich mit dem verhagelten Kopf,
mit dem Schreibkrampf in dieser Hand,
unter dreihundertnächtigem Druck
einreißen das Papier,
wegfegen die angezettelten Wortopern,
vernichtend so: ich du und er sie es
wir ihr?
(Soll doch. Sollen die andern.)
Mein Teil, es soll verloren gehen.
3
,,Keine Delikatessen" zählt zur späten Lyrik Bachmanns. Ab Mitte der 50er Jahre
schreibt sie kaum mehr Gedichte. In den 60er Jahren widmet sie ihr Schaffen verschie-
dener Prosa wie Erzählungen oder Essays und Hörspielen. 1971 veröffentlicht sie den
Roman ,,Malina".
4
In welcher Gattung Bachmann auch arbeitet, immer ist die Sprache
ein zentrales Thema ihres Schaffens.
5
Sie realisiert in "Malina" ein Sprachkonzept, das sie in den Frankfurter Vorlesun-
gen erläutert. Hier entwirft die Dichterin das Bild einer Sprache und Utopie, um die sich
Künstler und Rezipient bemühen sollen. In ,,Malina" erscheint die Sprache in ihrer
schönsten Form, gleichzeitig werden Zweifel an der Sprache geäußert, die den Zweifeln
in dem Gedicht ,,Keine Delikatessen" nahekommen: Die Sprachskepsis der Ich-Figur
des Romans geht so weit, daß sie sich nach einer überirdischen, metaphysischen Spra-
che sehnt, sie sagt: ,,Genügt ein Satz denn, jemand zu versichern, um den es geschehen
ist? Es müßte eine Versicherung geben, die nicht von dieser Welt ist" (363). Äußerun-
3
Bachmann, Ingeborg: Keine Delikatessen. In: Werke. 4 Bände. Bd. 1. Gedichte, Hörspiele, Libretti,
Übersetzungen. Hg. v. Christine Koschel/Inge von Weidenbaum/Clemens. Münster. 5. Aufl. Mün-
chen 1993, S. 172f.
4
Zu den biographischen Angaben vgl. Hapkemeyer, Andreas: Ingeborg Bachmann. Entwicklungslini-
en in Werk und Leben. 2. Aufl. Wien 1990, S. 92-101 und Golisch, Stefanie: Ingeborg Bachmann zur
Einführung. Hamburg 1977 (= Zur Einführung, Bd. 177), S. 44f.
5
Hans Höller sieht in der motivischen Verknüpfung der Sprachthematik in Bachmanns Lyrik und in
dem Roman ,,Malina" eine Entwicklungslinie, die Fortführung eines Themas innerhalb des Gesamt-
werks der Autorin. Damit distanziert er sich von Interpretationen, die einseitig entweder die Lyrik
oder die Prosa-Arbeiten Bachmanns als bedeutend hervorheben. Vgl. die Einleitung von Höller in:
Ingeborg Bachmann: Letzte unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Hg. v. Hans Höl-
ler. Frankfurt am Main 1998, S. 7-13, hier S. 7-11.

7
gen, die wie diese die Sprache behandeln, treten häufig im Romantext auf. Sie sind der
Gegenstand meiner Untersuchung.
Ich analysiere Textausschnitte, die sprachästhetische Gedanken spiegeln oder re-
flektieren sowie semantische und stilistische Sprachmerkmale. Unter diesen Aspekten
verstehe ich im weiten Sinn die `Form' des Romans. Dabei interpretiere ich weder die
äußere Handlung des Romans, noch gehe ich auf biographische oder psychoanalytische
Aspekte ein, welche in der Forschungsliteratur zu ,,Malina" in den 70er Jahren starke
Berücksichtigung finden, noch auch auf feministische Perspektiven, die seit den 80er
Jahren im Vordergrund stehen.
6
Die sprachlichen Merkmale und die Aussagen über Sprache in ,,Malina" sind nicht
nur für das Werk Bachmanns sondern auch für die Literatur der Epoche der Moderne
bezeichnend. Wenn ,,Malina" ein moderner Roman ist, muß er sich durch moderne
Sprachmerkmale auszeichnen. Die literarische Moderne erschließt sich nur aus den lite-
rarischen Werken der Moderne. Denn die Texte der Moderne sind die literarische Mo-
derne.
Nach einer Einführung in Geschichte, Aufbau und Struktur des Romans (Kapitel 2)
untersuche ich bedeutende Sprachmerkmale des Romans (Kapitel 3). Als moderne
sprachliche Stilmittel analysiere ich exemplarisch die Fragmentarisierung (3.1) und die
Sprachreflexion (3.2) in ,,Malina". Dabei untersuche ich jeweils, in welcher Beziehung
sie zur Literatur der Moderne stehen. Anschließend erarbeite ich anhand des Romans
Kennzeichen einer modernen Erzähltechnik. Hier untersuche ich die subjektive Erzähl-
weise, ihre Grenzen in der modernen Gesellschaft (3.3) und die Problematik von sub-
jektiver Erfahrung und Erinnerung als Grundbedingung des Erzählens (3.4) - in diesem
Zusammenhang ist auch die in moderner Literatur vorzufindende Erkenntnisskepsis zu
analysieren (3.5). Hier ist es aufschlußreich, Bachmanns Perspektive auf die Sprach-
philosophie Wittgensteins zu analysieren, da mit Wittgenstein eine neue, für die Moder-
ne entscheidende Perspektive auf den Zusammenhang von Sprache und Erkenntnis ent-
steht, deren Bedeutung die Autorin schon seit den 50er Jahren beschäftigt, und die für
die Erzählweise in ,,Malina" Erklärungen liefert. Ausschlaggebend für die Art des Um-
gangs mit Sprache besonders in ,,Malina" - aber auch in moderner Literatur überhaupt -
ist die Position, die Kunst und Literatur innerhalb einer rationalistischen Gesellschaft
haben, aber auch welche Grenzen einem blinden Irrationalismus mit den Mitteln der
6
Vgl. Borhau, Heidi: Ingeborg Bachmanns ,,Malina" - Eine Provokation? Rezeptions- und wir-
kungsästhetische Untersuchungen. Würzburg 1994 (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft, Bd.
109), S. 81 und 104-112.

8
Sprache gesetzt werden können, weshalb ich ,,Malina" auf Hinweise auf Logozentris-
muskritik und die Philosophie der Aufklärung untersuche (3.6). In den folgenden letzten
Kapiteln untersuche ich, von den gewonnenen Erkenntnissen ausgehend, in welcher
sprachlichen Form Bachmann ihr Sprachkonzept, das sie in den Frankfurter Vorlesun-
gen am ausführlichsten referiert, in ,,Malina" umsetzt (3.7), und daraufhin den Bach-
mannschen Entwurf einer Utopie, der weitere Moderne-typische Kennzeichen aufweist
(3.8). Abschließend ist zu analysieren, welche Kategorien die Poetik der Dichterin, die
in ,,Malina" sprachliche Gestaltung findet, charakterisieren (3.9).
Die modernen sprachlichen Merkmale weisen teilweise auf sprachtheoretische An-
sätze der Frühromantik zurück. Auch Peter Bürger sieht in der Romantik eine wichtige
Quelle moderner Literatur:
Erfahrungen, die wir heute mit dem eher hilflosen Begriff der Postmoderne zu
fassen suchen, sind nicht neu. In je besonderer epochaler und individueller Bre-
chung antworten die Texte der modernen Literatur seit den Fragmenten der Ro-
mantiker auf Erfahrungen dieses Typs. Daher können sie für uns zum Medium
der Reflexion werden.
7
So bildet die Frühromantik eine Ausgangsbasis für den modernen Roman ,,Malina".
Meiner Untersuchung der frühromantischen Ästhetik liegen die Fragmente der Zeit-
schrift Athenäum und kritische Texte Friedrich Schlegels und Novalis' sprachästheti-
sche Schrift ,,Der Monolog" zugrunde.
8
Ein möglicher Ansatz zur Begriffseingrenzung der literarischen Moderne ist ihre
Datierung. Die Spannbreite der Vorschläge für einen Anfang ist jedoch sehr weit: Sie
reicht von der Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Liegen ihre Ursprünge in der
Epoche der Frühromantik, oder beginnt sie mit der Frühaufklärung, aus der die Frühro-
mantik resultiert?
9
Es ist ebenso problematisch, das Ende der Epoche zu datieren: Ist die
Postmoderne die Nachfolgerin der Moderne oder ein Teil derselben? - Eine (historische)
Eingrenzung gelingt schwer. Dennoch unterscheidet sich die Moderne von anderen
7
Bürger, Peter: Prosa der Moderne. Frankfurt am Main 1988, S. 143. Peter Bürger untersucht in dieser
Monographie die ästhetische und künstlerische Sprache der Moderne. Er analysiert historisch-
chronologisch wichtige, unterschiedliche Kunstepochen. Den Anfang der Epoche setzt er in der
Frühromantik mit Friedrich Schlegel. Dabei arbeitet er Gemeinsamkeiten und Unterschiede der viel-
fältigen Sprachstile der Moderne heraus.
8
Schlegel, Friedrich: Athenäums-Fragmente. In: Ders.: Kritische Schriften und Fragmente. Studien-
ausgabe in sechs Bänden. Bd. 2. 1798-1801. Hg. v. Ernst Behler und Hans Eichner. Paderborn, Mün-
chen, Wien, Zürich 1988. S. 105-156. Novalis: Der Monolog. In: Novalis - Werke: Hg. v. Gerhard
Schulz. München 1969, S. 426f.
9
Silvio Vietta beispielsweise verortet den Anfang der literarischen Moderne aus diesem Grund in
geschichtsphilosophischen Ansätzen der Frühaufklärung. Vgl. Vietta, Silvio: Die literarische Moder-
ne: eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Tho-
mas Bernhard. Stuttgart 1992, S. 16. Vgl. zu Datierungsansätzen der Forschung für die Moderne:
ebd. S. 17-20.

9
Epochen durch bestimmte formale und inhaltliche Eigenschaften, aufgrund derer etwa
die Kahlschlag-Literatur der Gruppe 47 der Moderne ebenso zugerechnet werden kann
wie der italienische Futurismus, die Lyrik Schillers und Goethes aber zu einer anderen
Epoche zählen, wenngleich bestimmte Ursprünge moderner Lyrik gerade hier zu finden
sind, politische Elemente etwa bei Schiller und individualistische in der Sturm-und-
Drang-Zeit Goethes.
Möglicherweise kann die Epoche der Moderne angemessener mit dem Begriff ,,Fa-
milienähnlichkeit" erfaßt werden als mittels einer zeitlichen Eingrenzung. Ludwig Witt-
genstein verwendet ihn, um darauf aufmerksam zu machen, daß generelle Begriffe auch
dann ihren Sinn haben, wenn sie Zusammengehöriges bezeichnen, das nicht durch eine
allgemeine Form oder ein allen gemeinsames Merkmal verbunden ist:
Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort
,,Familienähnlichkeiten"; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiede-
nen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs,
Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. - Und ich werde sagen:
die `Spiele' bilden eine Familie. Und ebenso bilden zum Beispiel die Zahlenar-
ten eine Familie.
10
Eine Familie bildet ein Netz von einander ähnlichen Merkmalen, die sich überlap-
pen können, ohne daß zwingend auch nur ein Merkmal allen Mitgliedern gemeinsam
zukommen muß. Wittgenstein erklärt: ,,Es ist diesen Erscheinungen garnicht Eines ge-
meinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, - sondern sie sind mitein-
ander in vielen verschiedenen Weisen verwandt."
11
Die literarische Epoche ,,Moderne" ist literaturwissenschaftlich nicht systematisch
kategorisierbar. Dafür ist sie zu komplex, sie umfaßt zu viele verschiedene Kunstwerke
und -begriffe. Bürger spricht in diesem Zusammenhang von ,,Merkmalkomplexen", die
nicht zu obligatorischen Charakteristika der Moderne gemacht werden können:
Der Rationalismus der De Stijl-Bewegung ist ebenso `modern' wie der antiratio-
nalistische Subjektivismus der Surrealisten. [...] Vieles spricht daher dafür, daß
die Einheit der ästhetischen Moderne nicht durch eine Summe von Merkmalen
zu erfassen ist, sondern einzig als Prozeß des Auseinandertretens, als Bewegung,
die sich in die Extreme hineinbegibt.
12
Ich begreife die literarische Moderne als ästhetische, künstlerische Epoche, die sich
mit dem Subjekt und seiner Sprache in einer säkularisierten, rationalisierten und indu-
strialisierten Welt auseinandersetzt.
10
Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Punkt 67. Frankfurt am Main 1967, S. 48f.
11
Ebd. Punkt 65, S. 48.
12
Bürger: Prosa der Moderne, S. 30f.

10
2
Aufbau und Struktur des Romans
2.1 Handlung
Die Zeit der äußeren Handlung des Romans umfaßt einige Wochen. Die drei wich-
tigsten Figuren sind erstens die weibliche Ich-Figur, von der weder Vor- noch Nachna-
me genannt werden, zweitens Ivan, ein Finanzmann und Vater zweier kleiner Söhne,
den die Ich-Figur leidenschaftlich liebt, und drittens Malina. Malina wird zunächst als
Mitbewohner oder langjähriger Liebespartner der Ich-Figur eingeführt, erweist sich im
Verlauf des Romans aber als ihr alter ego.
Zunächst steht die Liebe zwischen der Ich-Figur und Ivan im Mittelpunkt. Sie wird
wie die gesamte Handlung außer dem letzten Satz aus der Perspektive der Ich-Figur und
präsentisch erzählt. Die Liebe wird als glückliche, heilbringende Beziehung geschildert.
Die Ich-Figur befindet sich überwiegend in euphorischer Stimmung. Als Ivan sie nicht
mit in den Urlaub nimmt und sie notgedrungen zu Bekannten an den Wolfgangssee
fährt, schlägt das durch Ivan erweckte Lebensglück der Ich-Figur ins Gegenteil um. Sie
bricht diesen Urlaub aufgrund düsterer Vorahnungen überstürzt ab und kehrt nach Wien
zurück. Wie vorhergesehen verläßt Ivan die Ich-Figur. Damit nimmt ihr Martyrium, das
in Selbstauflösung endet, seinen Anfang: Die Ich-Figur leidet nun unter fürchterlichen
Alpträumen. In diesen Träumen konzentriert sich alles erdenkliche Elend der Welt auf
ihre Person. Brutalste Folter, Gefängnis, Gaskammer, Ermordung, Vergewaltigung und
Hinrichtung sind nur einige Beispiele dieser Aneinanderreihung von Qualen. Die Ich-
Figur ist immer Opfer, ihr Vater stets der Täter. Das Kapitel endet mit der persönlichen,
gesellschaftskritischen und fatalistischen Einsicht der Ich-Figur, daß die Vater-Figur
ihrer Träume in Wirklichkeit nicht ihr Vater, sondern ein Mörder ist und daß Krieg und
Gewalt die Welt beherrschen (vgl. 565). Die dreißig Träume werden insgesamt sieben
Mal unterbrochen. Während dieser Phasen ist die Ich-Figur wach, meist psychisch auf-
gelöst und geistig verwirrt. Malina, der jetzt in den Vordergrund tritt, beruhigt sie, in-
dem er mit ihr spricht oder mit ihr über diese Träume diskutiert. Mit ihm führt die Ich-
Figur, deren Lebenskrise und Verstörung zunimmt, philosophische Gespräche, bis sie
zuletzt in einem Riß in der Wand der Wohnung verschwindet. In diesem Moment ruft
Ivan an, um die Ich-Figur zu sprechen, deren Existenz Malina aber abstreitet. Der letzte
Satz, der einzige im Präteritum, lautet ,,Es war Mord" (695).
13
13
Der in den Roman eingefügte Märchentext (vgl. 348-357) ist im Präteritum und die Utopie (vgl. 426-
491) ist im Futur I geschrieben. Diese Texte gehören aber nicht zur äußeren Handlung des Romans.

11
2.2 Aufbau und Struktur
Der Roman besteht aus einem ,,Vorkapitel" (275-298) und drei Kapiteln. In dem
prologartigen ersten Textabschnitt werden wie in einem Drama die dramatis personae in
Form einer Tabelle vorgestellt. Im Unterschied zum klassischen Drama sind in ,,Malina"
allerdings nur die wichtigsten handelnden Personen aufgeführt. Zuerst wird Ivan mit-
samt seinen Kindern genannt, dann Malina und zuletzt ,,Ich" (276). Das klassische
Drama zitierend, das die Einheit von Zeit, Ort und Handlung herstellt, werden auch hier
Zeit - ,,Heute" - und Ort - ,,Wien" - (276) aufgeführt. Anschließend folgt ein längerer
Exkurs über fiktive, erzählte und reale Zeit. Auch die Ortsangabe wird noch einmal spe-
zifiziert, indem der 3. Bezirk Wiens und die Straße beschrieben werden, in dem die Ich-
Figur, Malina und Ivan wohnen (vgl. 279-284). Daraufhin wird die Beziehung zwischen
der Ich-Figur und Malina genauer beleuchtet, noch ohne allerdings die Situation des
gespaltenen Ichs zu offenbaren (vgl. 284-292). Das Vorkapitel endet mit der Themati-
sierung der für den Roman zentralen Erinnerungs- und Erzählproblematik (vgl. 292-
298): Die Ich-Figur erinnert sich an ihre Kindheit, als ihre Fähigkeit, unbefangen zu
erzählen, durch ,,die erste Erkenntnis des Schmerzes" (295) - verursacht durch die Ohr-
feige eines Jungen - für immer gestört wurde. Der letzte Abschnitt weist auf das dialogi-
sche letzte Kapitel voraus:
Ich will nicht erzählen, es stört mich alles in meiner Erinnerung. Malina kommt
ins Zimmer, er sucht nach einer halbleeren Whiskyflasche, gibt mir ein Glas,
schenkt sich eines ein und sagt: Noch stört es dich. Noch. Es stört dich aber eine
andere Erinnerung. (298)
Das erste Kapitel, ,,Glücklich mit Ivan", ist am längsten (299-500). Es beinhaltet
vielfältige Textsorten oder zitiert diese, etwa ein sehr langes ,,Interview mit Herrn
Mühlbauer", das parodistische Züge aufweist (381-400). Das Kapitel wird durch eine
Episode im Märchenstil, die tragische Liebesgeschichte einer Prinzessin, unterbrochen
(348-357) sowie durch das Bild einer Utopie, einem Text, der abschnittsweise in den
Roman eingebaut ist (426f., 427f., 448f., 451, 452, 455f., 470f., 491). Die Geschichte
der Prinzessin und das Bild der Utopie sind in Kursivbuchstaben gedruckt. Die ,,Legen-
de der Prinzessin von Kagran", die mit den Märchentopoi Idealbilder aus vergangener
Zeit zitiert oder heraufbeschwört, ist im Präteritum geschrieben; entsprechend bildet das
Futur I die grammatische Zeit für die Utopie, eine Vision der Zukunft.
Eine wichtige Rolle spielen in diesem Kapitel alltägliche Kommunikationsmittel.
Telefongespräche mit Ivan häufen sich im ersten Kapitel besonders (etwa 311, 322,

12
360). Dabei fallen sowohl die lyrische Form der Telefonate als auch die Syntax der Sät-
ze auf, die größtenteils nur Satzfragmente sind:
Hallo. Hallo?
Ich, wer denn sonst
Ja, natürlich, verzeih
Wie es mir? Und dir?
Weiß ich nicht. Heute Abend? (311)
Das zweite Kapitel heißt ,,Der dritte Mann" (501-565). Es handelt von den Alp-
träumen der Ich-Figur. Auch in diesem Kapitel findet ein Wechsel der Textsorte statt:
Die Alpträume sind von therapeutischen Dialogen mit Malina unterbrochen (vgl. 507).
Nach Neva Slibar bedient sich Bachmann in diesem Kapitel primär ,,Verfahren, die nach
Art traditioneller Angstliteratur Spannung erzeugen und den Leser suggestiv manipulie-
ren."
14
Slibar erklärt folgende Stilmittel als strukturbildend für das Traumkapitel: Wie-
derholung, Übertreibung, Zergliederung, das Wörtlichnehmen rhetorischer Figuren, und
Metamorphosen.
15
Im dritten Kapitel, ,,Von letzten Dingen" (566-695), in dem die Zerstörung der Ich-
Figur vorgeführt wird, überwiegen die Dialoge zwischen Ich und Malina, bisweilen un-
terbrochen von Monologen (vgl. 598f.), auch Telefongespräche mit Ivan sind einge-
streut (vgl. 578). Dieses Kapitel beginnt mit einem Monolog der Ich-Figur, der um die
Thematik des Berufs des Postboten und des Briefgeheimnisses kreist. Die Ich-Figur re-
flektiert hier das Verhältnis von Privatsphäre des (schreibenden) Subjekts und seiner
Umwelt, der modernen Gesellschaft (vgl. 566-576).
16
Ute Maria Oelmann sieht ,,Malina" als ein Konstrukt verschiedener Gattungen:
,,Die `Geheimnisse der Prinzessin von Kagran' samt ihrer prophetischen Fortsetzung
sind Prosa im Übergang vom narrativen zum lyrischen Sprechen."
17
Auch Bachmann
erklärt 1971 in einem Interview, daß ,,Malina" lyrische Elemente aufweist. Sie erläutert
14
Slibar, Neva: Angst, Verbrechen, das Unheimliche - Genre- und Motivumwandlungen der Angstlite-
ratur in Ingeborg Bachmanns Spätprosa. In: Ingeborg Bachmann. Neue Beiträge zu ihrem Werk. In-
ternationales Symposion Münster 1991. Hg. v. Dirk Göttsche und Hubert Ohl. Würzburg 1993, S.
167-185, hier S. 179, 60. Anm.
15
Vgl. ebd. Da Bachmann im Traumkapitel in sprachlicher Hinsicht überwiegend mit traditionellen
Stilmitteln arbeitet, lasse ich es für meine Analyse der typisch modernen Erzählelemente weitgehend
außer acht.
16
Kohn-Waechter untersucht die Bedeutung des Exkurses über das ,,Briefgeheimnis" (573), der wie
das Märchen von Kagran einen eigenständigen Text innerhalb des Romans bildet. Vgl. Kohn-
Waechter, Gudrun: Das ,,Problem der Post" in ,,Malina" von Ingeborg Bachmann und Martin Hei-
deggers ,,Der Satz vom Grund". In: Die Frau im Dialog: Studien zu Theorie und Geschichte des Brie-
fes. Hg. v. Anita Runge und Lieselotte Steinbrügge. Stuttgart 1991, S. 225-242.
17
Oelmann, Ute Maria: Lyrisches Sprechen und narratives Sprechen im Werk der Ingeborg Bachmann.
In: Göttsche/Ohl (Hg.): Bachmann - neue Beiträge, S. 55-62, hier S. 61.

13
aber auch den Unterschied zwischen Lyrik und Prosa und betont, daß der sprachliche
und inhaltliche Schwerpunkt des Romans in der Prosa liegt:
Obwohl dieser Roman auch nicht durchgehend erzählt ist und Elemente einge-
fügt sind, die noch den ganzen Anspruch haben, der aus der Lyrik kommt, wird
nicht mehr versucht, aus dem einzelnen Satz ein Kunstwerk zu machen, sondern
wichtig ist nur: Was ist zu sagen. Ich kann den Leser nicht mit einzelnen Sätzen
überanstrengen, ich muß seinen Blick auf das Ganze innerhalb der einzelnen Ab-
schnitte lenken.
18
Die drei Kapitel in ,,Malina" sind durch drei Gemeinsamkeiten strukturell mitein-
ander verbunden:
Erstens zeichnen die einzelnen Kapitel nach Sabine Grimkowski je eigene Textar-
ten aus. Typisch für das erste Kapitel sind die verschiedenen Satztypen, etwa die ,,Tele-
fonsätze" (360): Der letzte Satz des letzten Telefongesprächs dieses Kapitels, der das
Ende der Zeit mit Ivan einleitet, lautet mehrdeutig:
19
,,Nein, bestimmt nicht, ich muß
jetzt Schluß machen!" (499). Entsprechend der anderen Thematik des zweiten Kapitels
verändern sich die Textarten, die Alpträume überwiegen; und im dritten Kapitel zeigen
sich die Dialoge mit Malina als strukturbildend.
20
Zweitens finden sich innerhalb der einzelnen Kapitel Textstellen, die auf andere
Textstellen des Kapitels vor- oder zurückverweisen: Im ersten Kapitel möchte die Ich-
Figur beispielsweise ,,sofort Segeln lernen, womöglich gleich morgen früh", weil ,,Ivan
bei einem Abendessen erwähnt, daß er in Ungarn oft gesegelt ist" (376). Einige Zeit
später in ihrem Urlaub am Wolfgangssee ahnt sie das Ende ihrer Liebesbeziehung mit
Ivan voraus: ,,Ich ersticke vor Angst, ich habe Angst vor einem Verlust. [...] Zu wissen,
daß jeder dieser Tage mir einmal entsetzlich fehlen wird, daß ich schreien werde vor
Entsetzen" (492f). In Gedanken mit solchen Vorahnungen beschäftigt holt sie sich ein
Segelhandbuch für Anfänger aus der Bibliothek der Gastfamilie, macht aber ihren Ent-
schluß, Segeln zu lernen, schließlich wieder rückgängig:
Ich lese in einem leichtverständlichen Lehrbuch für Anfänger. Die Schlaftablette
habe ich schon genommen. Was wird werden aus mir, wenn ich jetzt erst anfan-
18
Interview mit Ilse Heim vom 5.5.1971. In: Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden.
Gespräche und Interviews. Hg. v. Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. München, Zürich
1983, S. 106-110, hier S. 108.
19
Vgl. Grimkowski, Sabine: Das zerstörte Ich. Erzählstruktur und Identität in Ingeborg Bachmanns
,,Der Fall Franza" und ,,Malina". Würzburg 1992 (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 76),
S. 92.
20
Vgl. ebd. Nach Neva Slibar zitiert der Roman verschiedene Genres und Topoi: den Entwicklungsro-
man, den Kriminalroman, die Dreiecksgeschichte, den Künstlerroman, das Psychogramm, autobio-
graphische Texte, den Bildungsroman, die Gesellschaftssatire, Märchen und Legenden. Vgl. Slibar,
Neva: Exitus, Exodus...: Zu Ingeborg Bachmanns ,,Malina" - Peripetien einer Rezeption. Znanstvena-
Revija 1991, S. 168 - einschl. 16. Anm.

14
ge? wann kann ich abreisen, wie nur? ich könnte hier noch rasch segeln lernen,
aber ich will nicht. Ich will abreisen, ich glaube nicht, daß ich noch irgendetwas
brauchen werde, daß ich für ein ganzes Leben verstehen muß, was Trimmen, Im
Trimm, Beitrimmen bedeutet. Mir sind die Augen beim Lesen noch nie zugefal-
len, mir werden die Augen auch jetzt nicht zufallen. Ich muß nach Hause.
21
(493)
Die Worte ,,für ein ganzes Leben" stellen einen Bezug zu der Utopie von Liebe und
Freiheit her, an die die Ich-Figur, wenn sie Ivan verliert, nicht mehr glauben kann. In
den utopischen Sätzen wird gesagt: ,,Es wird eine größere Freiheit sein, sie wird über die
Maßen sein, sie wird für ein ganzes Leben sein" (427, vgl. auch 428).
Drittens beziehen sich alle Kapitel durch inhaltliche und sprachliche Verknüpfun-
gen wechselseitig aufeinander - einige Beispiele:
22
Das zweite Kapitel beginnt mit einem
Verweis auf die Zeit- und Ortsangabe der Handlung des Romans, die das Vorkapitel
reflektiert: ,,Malina soll nach allem fragen. Ich antworte aber, ungefragt: Der Ort ist
diesmal nicht Wien. Es ist ein Ort, der heißt Überall und Nirgends. Die Zeit ist nicht
heute" (501). Das letzte Kapitel bezieht sich zurück auf das zweite Alptraumkapitel, als
Malina nach dem Verschwinden der Ich-Figur in der Wand deren hinterlassene Gegen-
stände in den Müll wirft, unter anderem einen blauen Glaswürfel: ,,Es ist der zweite
Stein aus einem Traum" (693). In besagtem Alptraum sind der Ich-Figur drei Steine
zugeworfen worden: ,,Der zweite blaue Stein, in dem alle Blaus zucken, sagt Schreiben
im Staunen." (559)
,,Malina" ist ein kunstvoll konzipierter Roman. Sich widersprechende Textelemente
verschiedener Kapitel werden - wie gezeigt - aufeinander bezogen und so miteinander
konfrontiert. Den verschiedenen Textsorten entsprechen verschiedene moderne philoso-
phische und ästhetische Sprachcodes und Denkrichtungen, deren Ursprünge zum Teil in
der Frühromantik zu suchen sind.
21
Im Roman wird das Prinzip der Großschreibung am Satzanfang immer wieder durchbrochen. So wird
die mit der subjektiven Erzählhaltung zusammenhängende, moderne Identitätsproblematik (s. Kapitel
3.3 ,,Subjektivismus und Erzählproblematik", S. 30-44) dadurch angedeutet, daß das Personalprono-
men ,,ich" trotz Satzanfangsstellung hin und wieder klein geschrieben ist (vgl. 291).
22
Hans-Joachim Beck erklärt die formale Struktur des Romans mit inhaltlichen Parallelen: ,,Während
die psychoanalytisch konzipierten Träume indirekt schildern, was dem weiblichen Ich in der Vergan-
genheit widerfahren ist, antizipiert das Märchen eine utopische Zukunft befriedeter Intersubjektivität.
[...] Die in einem undifferenzierten ,,Heute", einer permanenten Gegenwart angesiedelte Vorder-
grundshaltung des Romans wird, [...] in die dialektische Spannung zwischen Märchen und Traum,
zwischen Vergangenheit und Zukunft einbezogen, indirekt reflektiert. Der damit zusammenhängen-
den Aufhebung der Zeit entspricht formal eine Aufhebung der Gattungsunterschiede: wie der Roman
von Träumen und den Märchenpartien durchsetzt ist, wird die vorwiegend epische Darstellung immer
wieder durch dramatische (Gespräche des Ichs mit Malina) und lyrische (Telefongespräche mit Ivan)
Passagen unterbrochen." Beck, Hans-Joachim: Malina oder die Romantik. Literarische Rezeption
und Komposition in Ingeborg Bachmanns Romantrilogie ,,Todesarten". In: Germanisch-Romanische
Monatsschrift. Neue Folge 38 (1988). S. 304-324, hier S. 308f.

15
Die äußere Handlung spielt in ,,Malina" eine weniger bedeutende Rolle als in Ro-
manen üblich. Nach Susanne Thiele ,,weist die Romanrealität von vornherein den An-
spruch auf Erlebniswahrheit von sich, und wird ganz bewußt als Fiktion, als Spiel vor-
geführt."
23
Die Figurenkonzeption erklärt sie aus dem ,,dezidiert kunsttheoretischen Ansatz"
des Romans, in dem sich ,,die Figuren weit eher poetischen denn mimetischen Impulsen
verdanken": Weder die Ich-Figur noch Malina sind Figuren, ,,wie man sie aus der Er-
zähltradition kennt. Sie sind vielmehr Kunstfiguren, [...] in denen das Problem der
Kunst selbst Gestalt annimmt."
24
Die Zeit, die die Ich-Figur faktisch zum Beispiel während ihrer Reise am Wolf-
gangssee erlebt, spielt nach Grimkowski weder für die Ich-Figur noch für den Roman
eine Rolle: ,,Denn nicht die Handlungsabfolge ist entscheidend, sondern daß hier ein
gedanklicher Prozeß stattfindet."
25
Bachmann selbst äußert in einem Interview, daß sie
den Roman ,,als ein geistiges Abenteuer" sieht:
26
An dem, was landläufig über den Menschen zu erzählen wäre, habe ich mich
nicht orientiert. Die Aktion ist ja ganz ins Innere verlegt. Ich meine, sie ist in-
wendig, innerlich ist sie überhaupt nicht.
27
Nach Dirk Göttsche ist ein ,,entscheidendes Moment" für die Konzeption des Ro-
mans die ,,Auflösung des traditionellen Erzählens [...] in ein zugleich fragmentarisches
und musikalisches Verfahren der Komposition des Romans aus relativ autonomen und
doch vielfältig miteinander verwobenen Textelementen."
28
Im folgenden werde ich die
Bedeutung der Fragmentarisierung für den Roman ,,Malina" und seine Position als
Werk der literarischen Moderne analysieren.
23
Thiele, Susanne: Die Selbstreflexion der Kunst in Ingeborg Bachmanns Roman ,,Malina". In: The
Germanic Review LXVI, 2 (1991), S. 58-69, hier S. 59.
24
Ebd.
25
Grimkowski: Erzählstruktur und Identität, S. 84.
26
Bachmann: Interview mit Ilse Heim vom 5.5.1971. In: Wahre Sätze, S. 106-110, hier S. 108.
27
Ebd. Nach Robert Pichl vertritt die erzählte äußere Handlung die Außenwelt, das ,,eigentliche Ge-
schehen" spielt sich aber ,,im seelischen Bereich" der Figuren ab: ,,In diesem Wechselspiel beider
Handlungsebenen zeigt daher die Außenperspektive des Erzählberichts nur Anlässe und Folgen der
inneren Vorgänge, während diese selbst nur mittelbar in Erscheinung treten. [...] Dabei wird kein li-
nearer Bezug zwischen beiden Ebenen hergestellt, sondern äußere Aktionen, Namen und Redeweisen
der Figuren, Raum und Zeitgestaltung schaffen im gleichsam polyphonen Zusammenwirken das er-
zählerische Kontinuum." Pichl, Robert: Flucht, Grenzüberschreitung und Landnahme als Schlüssel-
motive in Ingeborg Bachmanns später Prosa. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft. Nr.
16 (1985), S. 221-230, hier S. 229.
28
Göttsche, Dirk: Die Strukturgenese des Malina-Romans - Zur Entstehungsgeschichte von Ingeborg
Bachmanns Todesarten-,,Ouvertüre". In: Göttsche/Ohl: Ingeborg Bachmann - Neue Beiträge, S. 147-
165, hier S. 156f.

16
3
Moderne Sprachmerkmale in ,,Malina"
3.1 Fragmentarisierung
3.1.1
Begriffsklärung
Unter Fragmenten verstehe ich in einem weiten Sinn die offene Form von inhaltlich
nicht unmittelbar zusammenhängenden Teilen eines Textganzen, etwa Wörtern, Sätzen
oder Abschnitten - moderne Fragmentarisierung bedeutet den zumeist absichtsvollen
Verzicht auf Abgeschlossenheit.
Zwar verweisen Fragmente sowohl als einzelne Teile als auch als Ganzes auf Sinn-
zusammenhänge, sie müssen aber - im Gegensatz zur Reduktion - vor ihrer Anordnung
nicht zwingend alle demselben Ganzen entnommen worden sein.
3.1.2
Das Fragment in der Frühromantik
A. Fragmente, sagen Sie, wären die eigentliche Form der Universalphilosophie.
An der Form liegt nichts. Was können aber solche Fragmente für die größeste
und ernsthafteste Angelegenheit der Menschheit, für die Vervollkommnung der
Wissenschaft, leisten und sein? - B. Nichts als ein Lessingsches Salz gegen die
geistige Fäulnis, vielleicht eine zynische lanx satura im Styl des alten Lucilius
oder Horaz, oder gar fermenta cognitionis zur kritischen Philosophie, Randglos-
sen zu dem Text des Zeitalters.
29
- Schon Friedrich Schlegel betrachtet das Fragment als eine wertvolle Form künstle-
rischen Ausdrucks, die beispielsweise das Denken anregt. ,,Ein Fragment muß gleich
einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich
selbst vollendet sein wie ein Igel," erklärt der frühromantische Autor.
30
Es stellt eines
derjenigen Stillmittel dar, die für die Moderne typisch und schon in der Frühromantik
angelegt sind. Allerdings steht das frühromantische Fragment nach Silvio Vietta noch
im ,,Kontext eines ganzheitlich-utopischen Denkens", das aber aufgrund seiner frag-
mentarischen Form ,,als Fragment, schon Spuren des Unvollendeten, Abgebrochenen an
sich trägt."
31
In der Moderne dagegen weist Fragmentarisierung auf die Unmöglichkeit
eines ganzheitlichen, harmonischen Weltbilds hin. Sie ist als Stilmittel die sprachliche
Verkörperung der uneinheitlichen, gebrochenen Selbstwahrnehmung des schreibenden
Subjekts in der modernen Welt.
29
Schlegel: Athenäums-Fragmente. Nr. 259, S. 130.
30
Ebd. Nr. 206, S. 123.

17
3.1.3
Fragmentarische Textstruktur in ,,Malina"
Die Gegensätzlichkeit von Fragment und Ganzem ist für den Roman ,,Malina" und
seine Schönheit inhaltlich wie formal strukturbildend. Sabine Grimkowski erklärt, daß
in ,,Malina" nicht die Darstellung von Handlung wichtig ist, sondern die Textstruktur,
,,die Komposition all der verschiedenen Textarten, [...] Zitate und Anspielungen zu ei-
nem Ganzen." Beim Lesen entsteht aber nie die ,,Illusion des Ganzheitlichen".
32
Grimkowskis Analyse der Erzählstruktur entspricht ihrer Feststellung, daß in ,,Ma-
lina" die Sprache einer ,,hohen Autoreflexivität" ausgesetzt ist, und der These, ,,daß das
Schreiben, das Produzieren von Kunst zum Sujet des Romans gemacht wird."
33
Die Struktur des Romans ist ,,bestimmt durch das `Fragmentarische', wie an der
Zusammensetzung verschiedener Erzählelemente und der `Komposition' des Ganzen zu
erkennen ist."
34
Die Analyse der Erzählstruktur des Romans ,,Malina" gewinnt eine be-
sondere Bedeutung, wenn man sie unter dem Aspekt betrachtet, daß ,,Malina" selbst ein
Kunstwerk und in seiner fragmentarischen Struktur zwangsläufig mehrdeutig ist. Bach-
mann betont in ihren Frankfurter Vorlesungen die Bedeutung der Auswahl und Anord-
nung für die Kunst:
35
Das Leben des einzelnen, so interessant und reich und bedeutungsvoll es ihm
oder anderen manchmal erscheint, ist, wo keine Wahl getroffen wird, wo auf die
Anordnung dieses Rohmaterials ,,Leben" verzichtet wird, völlig bedeutungslos.
36
Ulrich Schleith begründet mit diesem Gedanken das Fragmentarische des Romans.
Auch er geht von einer Dialektik zwischen Fragmentarisierung und ganzheitlichem
Denken aus:
31
Vietta: Literarische Moderne, S. 237. Zur Thematik der Utopie in ,,Malina" siehe ausführlich Kapitel
3.8 ,,Die Utopie", S. 78-84.
32
Grimkowski: Erzählstruktur und Identität, S. 176.
33
Ebd. S. 169.
34
Ebd.
35
Ingeborg Bachmann nimmt im Wintersemester 1959/60 die Einladung zu einer Vorlesungsreihe über
,,Fragen zeitgenössischer Dichtung" an. Sie liest als erste Dozentin der neu gegründeten Gastdozentur
für Poetik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von den ursprünglich vorgesehenen sechs
Vorlesungen (November 1959 bis Februar 1960) wurden nur fünf gehalten. Vgl. Bachmann, Inge-
borg: Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung. In: Werke. Bd. 4. Essays, Re-
den, Vermischte Schriften, S. 181-271. Der Titel ,,Probleme zeitgenössischer Dichtung" und einige
Titel der Vorlesungen sind entnommen aus Hörfunkaufnahmen der Frankfurter Vorlesungen, die In-
geborg Bachmann für den Bayerischen Rundfunk gemacht hat (gesendet am 6./13./20./27. Mai
1960). Vgl. die Anmerkungen zu den Vorlesungen der Werkausgabe. In: Bachmann: Werke. Bd. 4,
S. 381-388, hier S. 381f.
36
Bachmann, Ingeborg: Das schreibende Ich. 3. Typoskript der Frankfurter Vorlesungen. In: Werke.
Bd. 4, S. 217-237, hier S. 222.

18
Zwar steht dieser erste Roman Bachmanns im Zeichen der Einheit, der Suche
nach einer einheitstiftenden Erzählerfigur. Er steht aber auch im Zeichen einer
gestörten Figurenkommunikation als Ausdruck einer höchst chaotischen ,,An-
ordnung dieses Rohmaterials `Leben'".
37
Die Fragmentarisierung von ,,Malina" spricht, was die Rezeption des Romans be-
trifft, für ein relativ offenes Konzept, da sich verschiedene Abschnitte widersprechen
können und ihre Beziehungen zueinander vielschichtig und deshalb uneindeutig sind.
3.1.4
Fragmentarisiertes Sprechen und Schreiben in
,,Malina"
Im folgenden soll die Bedeutung von fragmentarischen Formelementen für die Re-
zeption des Romans aufgezeigt werden. Sie sind in verschiedenen inhaltlichen Berei-
chen bedeutungstragend, von denen einige exemplarisch aufgezeigt werden: Die Frag-
mente sind der Ausdruck von erstens gestörter Kommunikation, zweitens von nationaler
Sprachenvielfalt, drittens von dem Schreibprozeß sowie von der Literaturproduktion
und schließlich von der massenmedialen Gesellschaft und von der modernen Erkennt-
nisproblematik.
Die fragmentarische Form einiger Textabschnitte entspricht jeweils der Bedeutung
dessen, was gesagt wird. Je verwirrter der Geisteszustand der Ich-Figur im Verlauf des
Romans wird, desto willkürlicher sind ihre Assoziationen. Die Gedankenketten erschei-
nen bruchstückhaft. Sie werden weder ausgeführt noch zu einem Ende gebracht:
Ich lege mich auf den Boden, stehe sofort wieder auf, weil ich so auf einem and-
ren Boden gelegen bin, unter dem sibirischen Mantel, der warm war, und ich ge-
he, sprechend, redend, Worte auslassend, Worte einlassend, mit ihm auf und ab.
Ich lege meinen Kopf verzweifelt an seine Schulter, da in dieser Schulter muß
Malina ein gebrochenes Schlüsselbein mit einem Stück Platin haben, seit einem
Autounfall, er hat es mir einmal erzählt, und ich merke, daß mir kalt wird, ich
fange wieder zu zittern an, es kommt der Mond hervor, er ist von unserm Fenster
aus zu sehen, siehst du den Mond? Ich sehe einen anderen Mond und eine sideri-
sche Welt, aber es ist nicht der andere Mond, von dem ich sprechen will.
Einige Sätze des zitierten Textausschnitts sind grammatikalisch unvollständig -
Form und Inhalt (der Verlust der Denkfähigkeit) sind kongruent:
Trotzdem weiß Malina es, und ich bitte ihn, während ich, an ihn gekrampft, auf
und ab renne in der Wohnung, mich niederfallen lasse, wieder aufstehe, mir das
Hemd aufmache, mich wieder hinfallen lasse, denn ich verliere den Verstand, es
37
Schleith, Ulrich: Zur Genese der Erzählinstanz in Ingeborg Bachmanns Roman ,,Malina". Frankfurt
am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1996 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Bd.
1572), S. 118.

19
kommt über mich, denn ich verliere den Verstand, ich bin ohne Trost, ich werde
wahnsinnig, aber Malina sagt noch einmal: Sei ganz ruhig. (525)
Anstelle eines komplexen, logischen Sprechzusammenhangs sind im Gedankenfluß
der Ich-Figur nur inhaltliche Bruchstücke dessen vorhanden. Der Mangel an Sinn und
die Sehnsucht nach Sinn treten sprachlich durch das Stilmittel der Wiederholung in Er-
scheinung, das die Textkohärenz zwar nicht außer Kraft setzt, aber den Leser des Texts
irritiert:
Aber Malina sagt: Warum denn bitten, doch nicht bitten. Ich sage aber, wieder
mit meiner heutigen Stimme: Bitte, Ivan darf das nie erfahren, nie wissen (und
benommen weiß ich doch, daß Malina nichts von Ivan weiß, warum jetzt über
Ivan reden?) - Ivan darf nie, versprich es mir, und solange ich noch reden kann,
rede ich, es ist wichtig, daß ich rede, weißt du, ich rede nur noch, und bitte, red
du doch mit mir, Ivan darf nie, nie etwas wissen, bitte erzähl mir etwas, rede mit
mir über das Abendessen, wo warst du essen, mit wem, rede zu mir über die
neue Schallplatte, hast du sie mitgebracht, o alter Duft! rede mit mir, es ist
gleichgültig, was wir miteinander reden, nur irgendetwas reden, reden, reden,
dann sind wir nicht mehr in Sibirien, [...] rede mit mir. (525)
Nicht nur an seinem Ende, sondern überall im Roman trifft man auf solche Sprach-
versatzstücke. Die Ich-Figur zergliedert die Alltagssprache, in der sie mit ihren Mitmen-
schen redet, beispielsweise in Satzgruppen. So antwortet sie Ivan in grammatikalisch
bruchstückhafter Form: ,,Die Schimpfsätze bestreitet Ivan allein, denn von mir kommen
keine Antworten, nur Ausrufe oder sehr oft ein `Aber Ivan!'" (378). Die Illusion einer
literarischen Sprache, die ein harmonisch zusammenhängendes System bildet, wird da-
durch zerstört.
Die Ich-Figur ordnet Malina die Satzgruppe ,,Preußensätze" (452) zu. Diese kurze
Metapher beschreibt Malina in vielsagender Weise: Sie weist den Leser in ironischer
Form auf den rationalen Anteil der Figur hin. Preußisch steht traditionell für Tugenden
wie Ordnung und Disziplin. Metaphern sind vieldeutiger als eine ausführliche Erklä-
rung: Der Leser wird dem Wort ,,Preußensätze" als Attribut für die Figur Malina inner-
halb der semantischen Grenzen des Worts eine spezifische Bedeutung geben; und das
Wort kann für ihn positiv oder negativ konnotiert sein.
Sprache erscheint in ,,Malina" häufig zergliedert in Teile, die Fragmente einer ge-
störten Kommunikation darstellen:
Kopfsätze haben wir viele, haufenweise, wie die Telefonsätze, wie die Schach-
sätze, wie die Sätze über das ganze Leben. Es fehlen uns noch viele Satzgruppen,
über Gefühle haben wir noch keinen einzigen Satz, weil Ivan keinen ausspricht,
weil ich es nicht wage, den ersten Satz dieser Art zu machen, doch ich denke

20
nach über diese fehlende Satzgruppe, trotz aller guten Sätze, die wir schon ma-
chen können.
38
(326)
Im ersten Kapitel, in dem die Liebesbeziehung im Vordergrund steht, ist das Motiv
einer unharmonischen, nicht funktionierenden Kommunikation zwischen der Ich-Figur
und Ivan bestimmend. In fragmentarischer Form sprechen die Ich-Figur und Ivan den-
noch miteinander: ,,Immerhin haben wir uns ein paar erste Gruppen von Satzanfängen
erobert, törichten Satzanfängen, Halbsätzen, Satzenden" (311).
Durch ihre fragmentarische Form wird Sprache in ,,Malina" als ein Prozeß aufge-
zeigt: Sprachformen entstehen, stagnieren und vergehen. Eine endgültige Aussagekraft
von Sprache wird angezweifelt:
Die Satzgruppen für Schachspielen liegen leider brach, einige andere Satzgrup-
pen erleiden auch Einbußen. Es kann doch nicht sein, daß die Sätze, zu denen
wir so langsam gefunden haben, uns auch langsam verlassen. Aber eine neue
Satzgruppe entsteht.
39
(586)
Ein weiteres fragmentarisches Sprachelement bildet die Aufnahme vielerlei Natio-
nalsprachen in den Romantext: Von Ivan und seinen Kindern stammen ungarische
Wörter etwa ,,az Isten kinját!"
40
(323), auch ein vierzeiliges, ungarisches Lied, das sich in
seiner Liedform formal vom übrigen Text absetzt (vgl. 444). Antoinette Altenwyl streut
in ihre Tischkonversation französische Sätze: ,,Je vous adore, mon chéri, flüstert sie
zärtlich, aber doch so laut, daß es alle hören." (483). Zudem sagen die Ich-Figur und
Malina ,,manchmal noch etwas auf slowenisch oder windisch zueinander: [...] ,,Jaz in ti.
In ti in jaz" (289).
41
Auch italienisch wird gesprochen: ,,cari amici, teneri compagni!"
42
(336), und englisch: ,,Please do me the favour, I promised them some icecream" (443),
raunt die Ich-Figur Ivan über die Köpfe seiner Kinder hinweg zu. Das Zitieren interna-
tionaler Literatur- oder Musikstücke spiegelt die Verwobenheit der internationalen
Kultur und Literatur. Die Sprachen sind bruchstückhaft im Text verteilt, was auf die
38
Weitere Satzgruppen sind ,,Beispielsätze" (315), ,,Müdigkeitssätze" (360), ,,Schimpfsätze" (377) und
,,Sätze über Geduld und Ungeduld. Eine sehr kleine Satzgruppe" (455).
39
Die neue Satzgruppe hat zum Inhalt, daß Ivan weniger Zeit für die Ich-Figur aufbringen will. Vgl.
587.
40
Ungarischer Fluch, übersetzt: Die Qualen Gottes. Vgl. den ausführlichen Kommentarteil zu ,,Malina"
mit Hinweisen und Übersetzungen der Zitate des Romans der Kritischen Ausgabe des ,,Todesarten"-
Projekts: Göttsche, Dirk/Albrecht, Monika: Kommentar. In: ,,Todesarten"-Projekt. Bd. 3.2. Malina,
S. 747-989, hier S. 935.
41
Slowenisch, übersetzt: Sowohl ich als auch du. Sowohl du als auch ich. Ebd. S. 930. Dieser Aus-
spruch ist sehr aufschlußreich für das Verhältnis von Ich und Malina. Insofern als slowenisch keine
allgemein bekannte Sprache ist, wird hier in stark verschlüsselter Form schon sehr früh auf die be-
sondere Figurenkonstellation verwiesen.
42
Leicht abgewandeltes Zitat eines Grußworts aus der Oper Vincenzo Bellinis ,,La sonnambula"
(1831). Vgl. ebd. S. 936.

21
historische und semantische Vernetzung der internationalen Sprachen miteinander hin-
weist.
Schließlich kommen in ,,Malina" sehr häufig Medien zur Sprache, die im weiteren
Sinne mit Sprache oder Textproduktion zu tun haben. Im Roman findet sich eine Fülle
von Texten, die zeigen, wie vielfältig - und damit undurchschaubar - die Literatur und
ihre Produktion sind. Der Bereich der Printmedien, insbesondere der Literaturprodukti-
on, ist ebenso eines der Leitmotive des Romans wie er als Stoff auch bruchstückhaft
immer wieder thematisiert wird. Für die Gesamtheit aller Bücher und ihrer Themen ste-
hen in ,,Malina" verschiedene Buchtypen: Belletristik, etwa Kriminalromane (vgl. 486),
und Bücher zu Sachthemen wie der von Malina verfaßte Museumskatalog des Heeres-
museums zum Ersten Weltkrieg (vgl. 497), Segelhandbücher (vgl. 493) oder das geo-
graphische Sachbuch, das die Ich-Figur zwischen ihren Alpträumen liest. Es heißt ,,Ge-
spräch mit der Erde" (541). Sogar Kochbücher spielen eine Rolle (vgl. 374). Das Spek-
trum dessen, was die Ich-Figur gelesen hat, ist so groß, daß sie nach einer langen Auf-
zählung des Gelesenen schließlich zu dem Schluß kommt, ,,alles über alles gelesen"
(373) zu haben. Auch hier bleibt ihr nur eine fragmentarische Nennung der Teile, da das
Ganze zu schildern nicht möglich ist, außer in der extremen Formulierung ,,alles gele-
sen" zu haben, einer abstrakten Aussage.
[Ich habe] verstört und fliehend Zeitungen und Zeitungen und Zeitungen gelesen,
und Zeitungen schon als Kind gelesen, vor dem Ofen, beim Feuermachen, und
Zeitungen und Zeitschriften und Taschenbücher überall, auf allen Bahnhöfen, in
allen Zügen, in Straßenbahnen, in Omnibussen, Flugzeugen, und alles über alles
gelesen, in vier Sprachen, fortiter, fortiter, und alles verstanden, was es zu lesen
gibt. (373)
Die Ich-Figur erzählt an dieser Stelle ausführlich, was sie schon an welchen Orten
und unter welchen Umständen gelesen hat: wieviele Zigaretten sie dabei geraucht hat
oder ob Flecken auf dem Papier waren (vgl. 373f.). Die vielfältigen Umstände, unter
denen man liest, können die Rezeption jeweils beeinflussen.
Viele Textelemente sind Hinweise auf die traditionelle, bürgerliche Kultur: etwa die
Premiere des Schauspiels ,,Jedermann" von Hugo von Hofmannsthal (vgl. 490), die Bi-
bliothek im Haus der Altenwyls (vgl. 493) oder abgedruckte Notenbeispiele aus Arnold
Schönbergs ,,Pierrot lunaire" mit dem Text ,,O alter Duft aus Märchenzeit" (281). Der
Text zu den Noten drückt Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit aus. Es ist aber - wie
sehr häufig in ,,Malina" - unklar, ob in dieser Aussage Ironie enthalten ist. Auch auf
berühmte theoretische Werke der Moderne wird sehr oft verwiesen - so auf Walter
Benjamins Aufsatz ,,Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit"

22
mit einem Vortrag, den die Ich-Figur vor Jahren in München gehört hat.
43
Der Titel des
Vortrags lautete ,,Kunst im Zeitalter der Technik" (286).
44
Nach Schleith spiegelt sich
,,die stete Anspielung auf Pionierleistungen der Moderne in `Malina' [...] in der radika-
len Umsetzung der Montagetechnik wider."
45
Mittels fragmentarischen Zitierens wird in der Moderne auf die Intertextualität mo-
derner Literatur hingewiesen, was in ,,Malina" in sehr spezieller Form geschieht: Die
Dichterin zitiert beispielsweise Fragmente aus ihrem eigenen Werk. Sie fügt Elemente
aus ihrer Lyrik in ihre Prosa ein, so die berühmte Ode ,,An die Sonne" von 1956.
Und das Kleid, das du angetan hast. Und dein Kleid, glockig und blau! / Schönes
Blau, in dem die Pfauen spazieren und sich verneigen, / Blau der Fernen, der Zo-
nen des Glücks mit den Wettern für mein Gefühl, / Blauer Zufall am Horizont!
46
Elemente moderner Literatur treten teilweise in Konflikt miteinander und bilden
Widersprüchlichkeiten, was mit dem Zitieren dieser Gedichtstelle in umgewandelter
Form zum Ausdruck gelangt: In einem Alptraum der Ich-Figur in ,,Malina" verwandeln
sich die Ästhetik und das Glück des ,,Blaus", von denen die Gedichtzeilen sprechen, ins
Gegenteil. Das Blau bringt die Ich-Figur zum Verstummen:
Doch eh er [der Vater] mir die Zunge ausreißt, geschieht das Entsetzliche, ein
blauer, riesiger Klecks fährt mir in den Mund, damit ich keinen Laut mehr her-
vorbringen kann. Mein Blau, mein herrliches Blau, in dem die Pfauen spazieren,
und mein Blau der Fernen, mein blauer Zufall am Horizont! Das Blau greift tie-
fer in mich hinein, in meinen Hals. (505)
So wird mittels des Fragments die unüberschaubare Komplexität des Schreibpro-
zesses aufgezeigt. Auch schon das Material, auf welches geschrieben wird, ist wichtig:
Die in einem Café sitzende Ich-Figur berichtet: ,,Ich zerknülle die dünne Papierserviette,
auf die ich ein paar Satzfetzen geschrieben habe" (428). Hier besteht eine Parallele zwi-
schen dem Material, das zum Schreiben benutzt wird - es ist dünn, es wird zweckent-
fremdet und es ist nur zum einmaligen Gebrauch gemacht - und dem Geschriebenen, es
sind nur Sätze, sogar nur ,,Satzfetzen". Auf lose Zettel schreibt die Ich-Figur in ,,Mali-
na" auffallend häufig, was aber nicht heißt, daß darauf stets unwichtige Texte geschrie-
43
Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.:
Gesammelte Schriften I. Hg. v. Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main
1980, S. 471-508.
44
Aufgezählt sind die Zitate internationaler Kultur und Weltliteratur im Kommentar zur kritischen
Ausgabe des ,,Todesarten"-Projekts. Vgl. Göttsche/Albrecht: Kommentar. In: ,,Todesarten"-Projekt.
Bd. 3.2, S. 928-969.
45
Schleith: Genese der Erzählinstanz, S. 119.
46
Bachmann: An die Sonne. In: Werke. Bd. 1, S. 136f, hier S. 137.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
1998
ISBN (eBook)
9783832410803
ISBN (Paperback)
9783838610801
Dateigröße
768 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Kassel – Unbekannt
Note
1,5
Schlagworte
romantheorie sprachphilosophie kunsttheorie literaturtheorie sprachkonzept
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Titel: Sprache der Moderne in Ingeborg Bachmanns Roman 'Malina'
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